Nie mehr Streit um Melodien?
In der Popmusik sind ebenso gefällige wie kurze musikalische Motive üblich. Zudem hat der Tonumfang, den Menschen singen können, seine Grenzen. Das bedeutet, Popmusikschaffende kommen wohl früher oder später nicht an der Frage vorbei, ob sie kompositorisch womöglich zu nah an einem bereits aufgenommenen Werk liegen. Und das nicht erst mit längeren Passagen oder kompletten Songs.
Denn auch hinsichtlich kurzer und sehr kurzer Melodien häufen sich gerichtliche Auseinandersetzungen um Plagiate und vermeintliches Abkupfern. (Der Begriff des Plagiats ist juristisch nicht exakt: Nicht jedes Plagiat ist eine Urheberrechtsverletzung. Er ist hier aber bewusst für den Lesefluss gewählt.)
Die Schere im Kopf der Songwriter*innen
Die mitunter drastischen Urteile nähren womöglich die diffuse Angst vieler Komponist*innen, verklagt zu werden: Ein Chilling Effect setzt ein, die Schere im Kopf, derzufolge sie einen Song im Zweifel lieber nicht veröffentlichen oder beim Schreiben übervorsichtig sind.
Und es ist ja was dran: Betrachtet man die Menge an Tönen und (kurzen) Tonfolgen rein rechnerisch, ergibt sich daraus ein begrenztes Repertoire an möglichen Melodien. Und von ihnen werden tagtäglich weltweit immer mehr „besetzt“, sprich aufgenommen, veröffentlicht und so mit urheberrechtlichem Schutz versehen.
Das heißt, der Vorrat an „verfügbaren“ (Pop-)Melodien geht langsam aber sicher zur Neige – meint jedenfalls Anwalt und Musiker Damien Riehl in seinem TED-Talk, den wir kürzlich vorgestellt haben.
Zusammen mit seinem Entwicklerkollegen Noah Rubin springt Riehl nun selbst in die Bresche, um die Freiheit des Melodienvokabulars zu erhalten: Per Software ließen die beiden rund 69 Milliarden Melodien erzeugen und stellten sie der Allgemeinheit zur Verfügung, für immer und alle gemeinfrei, klargestellt durch die Public Domain Mark.
Damit verfolgen die beiden das Ziel, Musiker*innen urheberrechtlich dagegen abzusichern, aufgrund unbewusster Übernahmen von Melodieschnipseln verklagt zu werden.
Aus Sicht von Riehl und Rubin funktioniere ihr Vorgehen rechtlich auf zwei Ebenen: Erstens seien Melodien letztlich nur Zahlenfolgen, und die schütze das Urheberrecht ja gerade nicht. Daher könne man auch kurze Melodien als urheberrechtlich frei einstufen.
Die knapp 69 Milliarden Melodien in einer offenen Datenbank frei verfügbar zu machen, führe zweitens dazu, dass jeder, der einem Plagiatsvorwurf ausgesetzt wird, nun den Klagenden entgegnen kann: Schaut in die Datenbank, die Melodie existiert bereits, nun beweist erst mal, dass ihr sie nicht von dort kennt, und ihr deshalb die behaupteten (Neu-)„Schöpfer*innen“ seid.
Die Frage ist nun: Was ist an diesen Überlegungen dran?
Ist das das Ende der Musikplagiate?
Starten wir dafür ein Gedankenexperiment und nehmen mal an, es lägen tatsächlich alle sinnvollerweise denkbaren Songmelodien in der Datenbank, also sowohl schon bestehende als auch jene, die bisher noch nicht verwendet wurden. Diesen Grad an Gewissheit verspricht der Hack von Riehl und Rubin zwar nicht (und kann hier auch nicht beurteilt werden), erleichtert aber das Gedankenexperiment.
Wie wirkte sich das auf einen Plagiatsstreit aus?
In der üblichen Konstellation einer solchen Auseinandersetzung, wenn Songwriter*innen oder Labels einander wegen Plagiaten angreifen, stellt sich das folgendermaßen dar:
- Songwriter*in 1 hat ein urheberrechtlich geschütztes Musikwerk geschaffen (Ausgangssong).
- Songwriter*in 2 hat in ihrem Song (Übernahmesong) Bestandteile daraus übernommen, etwa eine Melodiesequenz – unverändert, oder zwar in Teilen verändert, aber jedenfalls so nah am Ausgangssong, dass die Übernahme eine „Bearbeitung“ darstellt.
- Für eine „Bearbeitung“ hätte Songwriter*in 2 von Songwriter*in 1 eine Erlaubnis erfragen beziehungsweise erhalten müssen. Hat er/sie aber nicht, und deshalb muss Songwriter*in 1 zum Beispiel an den Tantiemen beteiligt werden. Lässt sich Songwriter*in 2 darauf nicht ein, wird geklagt.
Songwriter*in 2 kann sich jedoch gegen den Angriff verteidigen:
- Der Ausgangssong mag ja als Ganzes geschützt sein. Aber die Melodiesequenz, um die es geht und die Songwriter*in 1 für geschützt hält, erreicht nicht die „Schöpfungshöhe“. Das meint, die betreffende Melodiesequenz ist nicht ausreichend individuell, sondern alltägliches Musikvokabular. Dafür besteht kein urheberrechtlicher Schutz, der folglich nicht verletzt werden kann.
- Selbst wenn die Sequenz geschützt ist: Das Übernommene entfernt sich weit genug vom vermeintlichen Ausgangssong, dieser „verblasst“ hinter dem neuen Werk, zumal das Übernommene nur einen „niedrigen Schutzumfang“ genießt (das Urheberrecht kennt hier die „freie Benutzung“, setzt bei Melodien aber einen strengen Maßstab an, siehe Paragraf 24 II Urheberrechtsgesetz).
- Unabhängig von den ersten Überlegungen: Songwriter*in 2 hat den Ausgangssong nie gehört, kannte ihn also gar nicht (und kann das auch stichhaltig darlegen).
Wo freie Inspiration endet und wo unfreies Plagiat beginnt – und wie sich was beweisen lässt – das füllt schon länger Rechtswissenschaftsjournale, Feuilletons und Kneipengespräche mit Musiker*innen.
Daher nun also der Reihe nach:
Ein Musikwerk ist nicht nur Notenbild
Der urheberrechtliche Schutz eines Musikwerks setzt eine persönliche geistige Schöpfung voraus. Diese Schöpfung muss eine gewisse Höhe erreichen. Ist dies der Fall, darf sie nicht ungefragt in einem neuen Werk übernommen werden.
Für Musikwerke ist die Melodie oft der wichtigste Anknüpfungspunkt, um den Schutzgrad zu beurteilen, während Stilmittel, Klangfarben, Harmonien, Rhythmen für sich gesehen frei(er) sind. Besonders lang und individuell müssen Melodien nicht sein, um die notwendige Schöpfungshöhe zu erreichen. Es gibt zwar keine feste Mindestanzahl an Tönen, aber je kürzer die Melodie, desto weniger Raum bietet sie für Eigenartigkeit.
Andererseits gibt es eindrucksvolle Beispiele „eigenartiger“ Melodien mit nur wenigen Tönen: Selbst die ersten drei (gleichen!) Akkorde von AC/DCs „Highway to hell“ erkennen viele schon, wenn man sie mit einem Ton ansingt, oder etwa die ersten vier Töne von Beethovens fünfter Symphonie. Das heißt aber nicht, dass diese Tonfolgen für jeden Kontext unfrei sind.
Was als illegale Übernahme juristisch angegriffen wird, ist häufig nicht nur die Melodie. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel aus Instrumentierung, Rhythmik, verwendeten Stilmitteln, eingesetzten Klangeffekten, dem verwendeten Tempo, der Intonation.
Diese Komponenten bilden gemeinsam mit der Melodie das Gesamtwerk und führen zum „ästhetischen Gesamteindruck“. Und dieser Eindruck, diese entscheidende hörpsychologische Wirkung, lässt sich häufig nicht einfach nur in Noten darstellen.
Kurzum: Ein Musikwerk ist mehr als seine nackte Melodie – und nicht nur kalte Tonkombinationen-Mathematik.
Arrangement und Sound bieten Schöpfungsspielräume
Was bedeutet das für den Hack von Riehl und Rubin, die beklagen, dass den Komponist*innen die unbesetzten Melodien ausgehen?
Zunächst einmal ist es keine neue Erkenntnis, dass die mögliche Anzahl an Tönen begrenzt ist. Beim Verwenden einer Melodie für einen Song kommt es für Musiker*innen darauf an, alle Komponenten gesamtheitlich zu sehen und den Schöpfungsspielraum jenseits der Melodie zu nutzen. Und der ist unendlich!
Dass es nicht allein auf die Melodie ankommt, zeigen auch die Entscheidungen der Gerichte: Gary Moores eingängiges Gitarrensolo von „Still Got The Blues“ fand sich melodisch und harmonisch schon im Barock; dieselbe Melodie klingt anderswo lange nicht so catchy – wohl aber bei der damaligen Plagiatsvorlage von der Band „Jud’s Gallery“, eben auch als Gitarrensolo mit ähnlichem Vibe. Daher sah das Landgericht München I damals zwar die Melodie als gemeinfrei an, sprach ihr aber im gesamten Hörerlebnis mit Arrangement und Sound von „Jud’s Gallery“ Schutz zu – Moore verlor.
Das heißt: Selbst wenn sich alle einig sind, dass eine Melodie urheberrechtlich frei ist, kann die Kombination mit anderen musikalischen Komponenten die Individualität ausmachen, eine eigene Schöpfungshöhe erreichen und damit den urheberrechtlichen Schutz rechtfertigen.
Teilweise spielt die Melodie auch fast gar keine Rolle, etwa bei der Übernahme von Groove und Feel eines Tracks, wie im viel diskutierten Fall „Blurred Lines”, der heute von vielen als Ausgangspunkt für immer krudere Prozesse gesehen wird.
Man darf also Musikplagiate nicht auf Melodien beschränken. Das behauptet der Hack von Riehl und Rubin nicht, aber man muss dennoch betonen, wie sehr es häufig auf alles ankommt, was Eigenart ausmacht.
Darf man „befreite“ Melodien bedenkenlos nutzen?
Bleibt noch zu fragen, ob Musikschaffende durch den Hack tatsächlich weniger Angst vor einem Rechtsstreit haben müssen und ob man sich in der Melodiendatenbank ohne Bedenken bedienen darf.
Das hängt davon ab, ob an den Melodien in der offenen und frei nutzbaren Datenbank überhaupt jemand Rechte haben kann.
Riehl/Rubin liessen die Melodien als Kombinationsmöglichkeiten auf begrenztem Tonumfang mit begrenzter Tonanzahl per Software „errechnen“. Diese computergenerierten Melodien dürften nach deutschem Rechtsverständnis keine Werke im Sinne des Urheberrechts sein, denn Werke müssen von Menschen geschaffen werden („persönliche geistige Schöpfung“).
Für ein schöpferisches Band zu den erzeugten Melodien reicht die Anweisung an die Software, mit abstrakten Parametern milliardenweise Melodien auszuspucken, nicht aus. (Hingegen wäre ein Datenbankschutz am Gesamtpaket aller enthaltenen Melodien denkbar.)
Riehl/Rubin stellen die Melodien ohnehin frei zur Verfügung, weshalb sie zusätzlich per Public-Domain-Mark klarstellen, daran keine Urheberrechte zu beanspruchen. Aus dieser Warte betrachtet können die Melodien also ohne Probleme übernommen werden.
Allerdings heißt das nicht, dass nicht andere Urheber*innen schon Rechte an einzelnen Melodien haben, die sich in der Datenbank befinden.
Vorsicht bei bestehender Musik
Zunächst mal ist es denkbar, dass zwei Menschen völlig unabhängig voneinander dieselben Melodien schreiben, das wäre eine sogenannte Doppelschöpfung. Riehl spricht genau das an: Hier entstehen zwei unabhängige Urheberrechte, die sich nicht in die Quere kommen.
Wird allerdings behauptet, dass der jüngere („gleiche“) Song das Urheberrecht am älteren Song verletzt, so hat es die sich verteidigende Person häufig schwer: Sie muss den „Anscheinsbeweis“ entkräften, den älteren Song nicht gekannt zu haben oder sich aus einer gemeinfreien Quelle bedient zu haben.
Gerade bei hohem Ähnlichkeits- und Bekanntheitsgrad ist das schwierig. Selbst wer den Song mal vor zwanzig Jahren auf einem Konzert gehört hat, dann unbewusst das Erinnerte abruft und zu einem Song macht, kann eine Urheberrechtsverletzung begehen.
Da Richter*innen den Menschen nicht in den Kopf schauen können, arbeiten sie mit Beweisregeln, Indizien und Glaubhaftigkeiten. Auch hier gibt es eine Daumenregel: Für kurze, einfache, wenig bekannte, vielleicht auch anderswo auftauchende Melodien ist es einfacher, den Vorwurf zu entkräften, als bei längeren, komplexeren Melodien.
In dieser Beweisfrage ist Riehls/Rubins Datenbank jetzt jedenfalls eine Quelle mehr, zudem eine gemeinfreie. Und je bekannter ihre Datenbank wird – was sich unter anderem anhand der Zugriffe und Downloads ermitteln ließe – desto eher gelingt es zukünftig womöglich, den Ball zurückzuspielen: „Ich habe exakt diesen Schnipsel aus der Datenbank. Beweise du doch, dass ich es von dir habe.“
Allerdings gilt auch hier: Werden von einem Song beispielsweise auch arrangierte oder klangliche Eigenarten übernommen, könnte das Berufen auf die Gemeinfreiheit der übernommenen Melodie ins Leere laufen.
Die Datenbank als Beweislastumkehr
Was ist nun mit den Melodien, die bisher noch nicht verwendet wurden?
In einer gedachten Matrix aus allen knapp 69 Milliarden Melodien wären sie die unbesetzten Felder, die freien Räume. „We preserve blank spaces”, ruft Damian Riehl dann auch bei seinem TED-Talk aus.
Für diese Fälle könnte es dann tatsächlich gelingen, die gemeinfreie Melodie aus der Datenbank erfolgreich anzuführen. Songwriter*in 2 könnte die Melodie aus der Datenbank übernehmen, die schon Songwriter*in 1 genommen hat.
Doch im Beweis-Ping-Pong um unabhängige Doppelschöpfung oder illegale Kopie gälte dann wieder: Auf den Gesamteindruck kommt es an.
Ein Mensch kann ein Werk schaffen, das ein Computer geschaffen hat
Übrigens: Dass ein Computer eine Melodie generiert hat, besagt noch nicht, dass ein Mensch dieselbe Melodie (ohne Kenntnis des computergeschaffenen Werks!) nicht auch als schöpferisches Werk schaffen kann.
Durchaus ernst zu nehmen ist aber das Argument, dass die Melodie letztlich eine Zahlenfolge ist. Zwar lässt sich jedes auch noch so komplexe Werk irgendwie numerisch darstellen, aber einfachste Zahlenfolgen (1, 2, 3, 3, 2, 1) sind in der Tat gemeinfreie Fakten.
Hier wären wir aufs Neue beim ästhetischen Gesamteindruck, in dem die „Zahlen“ daherkommen, mit all den musikalischen Komponenten: Ist die Melodie noch so schutzlos, die konkrete Form als Musikwerk kann trotzdem ausreichend individuell sein – wir wiederholen uns.
Fazit: Ein wichtiger Impuls
Der Hack ist nicht das Ende der Plagiatsprozesse, verspricht es aber auch nicht. Er krempelt auch nicht die Urheberrechtspraxis um, denn Musik ist weit mehr als Melodie. Und man wird bei jedem Werk, das bei der GEMA angemeldet ist, weiterhin von seinem Schutz ausgehen.
Ob der Hack in der (juristisch geführten) Durchsetzung von Urheberrechten bestimmte Tendenzen in der Rechtsprechung kippen kann oder den Streit nur woandershin verlagert – von der Melodie zum Vibe – muss sich noch zeigen.
Schon jetzt setzt er aber mindestens einen wichtigen Impuls. Denn das Risiko, auch völlig unbewusst zwischen verbotenem Plagiat und erlaubter Inspiration falsch zu liegen, ruft berechtigte Kritik über erschwerte Schaffensbedingungen auf den Plan, gerade wenn es dabei um immer kleinere Übernahmeschnipsel geht.
Je größer die Scheren in den Köpfen der Musikschaffenden, desto mehr gerät auch ein Legitimationsargument des Urheberrechts in die Krise: nämlich, dass strenge Schutzrechte einen Anreiz zum Schaffen setzen sollen – und nicht in erster Linie einen Anreiz, Songs durch Rechtsabteilungen zu jagen.
1 Kommentar
1 Schmunzelkunst am 21. Februar, 2020 um 10:43
Das ist gut durchdacht. Kompliment. Auch der Hinweis auf die Doppelschöpfung ist wichtig, obwohl bei einer Doppelschöpfung beide Werke Ergebnis einer schöpferischen, menschlichen Leistung sind. Die gemeinfreien, computergenerierten Elemente einer Datenbank sind eher vergleichbar mit in der Natur vorgefundenen (ebenfalls gemeinfreien) Formen, von denen z.B. eine zufällig eine täuschende Ähnlichkeit mit einer Skulptur von Henry Moore aufweist. Eine Vervielfältigung (z. B. ein Foto) einer solchen natürlichen Form, darf ich m.E. auch dann erlaubnisfrei veröffentlichen, wenn mir die Skulptur von Moore bereits bekannt ist. Das dürfte bei der Benutzung der Musikdatenbank auch so sein. Die darin enthaltenen Elemente sind alle gemeinfrei, auch wenn es identische, noch urheberrechtlich geschützte Tonfolgen gibt. Das ist der Segen der Digitalisierung. Der endlos tippende Affe (infinite-monkey) kann sich ausruhen :-).
MfG
Johannes
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