68,7 Milliarden Melodien aufgenommen und in die Gemeinfreiheit entlassen
Das spektakuläre Projekt heißt „All the Music“. Damien Riehl, US-amerikanischer Musiker und Jurist, stellte es vor rund vier Wochen bei einer TED-Konferenz in Minneapolis vor.
Riehl und sein Projektpartner Noah Rubin, Musiker und Programmierer, gingen dabei von jenen acht Grundtönen aus, die in der Popmusik am häufigsten vorkommen und genutzt werden, weil sie weltweite Hörgewohnheiten am erfolgreichsten bedienen. Daraufhin ließen sie algorithmisch die rechnerisch möglichen 8 hoch 12 gleich 68.719.476.736 Mehrtonfolgen erzeugen und aufzeichnen (das dauerte sechs Tage Rechenzeit).
Über ihre Webseite allthemusic.info sind nun die knapp 69 Milliarden Melodien verfügbar, als ein etwas über 600 Gigbayte umfassendes Datenpaket (via Internet Archive). Alle sind mit der Public Domain Mark von Creative Commons als gemeinfrei erklärt und damit für jegliche Nutzungen und ohne weitere Bedingungen freigegeben. Zudem ist ihr Code, freigegeben unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY 4.0, ebenfalls online verfügbar (via Github).
Überfordertes Copyright
Als einen Beweggrund für dieses Projekt erläutert Diehl bei seinem TED-Talk, dass das Copyright kaputt und überfordert sei. Immer häufiger komme es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen aufgrund vermeintlich abgekupferter Melodien, auch sehr kurzer Tonfolgen. Diese seien juristisch immer schwieriger zu entscheiden – wie etwa der jüngste Streit zwischen der Popmusikerin Katy Perry und dem Rapper Flame (Marcus Gray.)
Flame warf Perry vor, dass sie für ihren Song „Dark Horse“ unerlaubt eine Folge von nur drei Tönen aus seinem Song „Joyful Noise“ übernommen habe. Perry erklärte, sie hätte „Joyful Noise“ gar nicht gekannt, als sie ihren eigenen Song schrieb. Das zuständige Gericht entgegnete jedoch, dass „Joyful Noise“ auf Youtube 3 Millionen mal angesehen wurde, was ein Indiz dafür sei, dass Perry ihn wohl kennen müsste.
Songschreiben als Gang über ein Minenfeld
Dieser und weitere Melodien-Streits – er referenzierte unter anderem Fälle zu George Harrison/The Chiffons, Tom Petty/Sam Smith und weitere – führten Diehl und Rubin zu zwei Überlegungen.
- Alle weltweit aufgenommenen und bei einer der zahlreichen Musikplattformen verfügbaren Melodien zu kennen oder abzusuchen, ist weder von Popstars noch von Millionen unbekannter Musiker*innen zu leisten.
- Wenn die Anzahl von Views auf einer Plattform als gerichtsfestes Argument dafür gilt, dass man eine Melodie kennen müsste, gleiche das Songschreiben und Veröffentlichen dem Gang über ein Minenfeld. Mit jedem Monat, in dem weltweit neue Melodien aufgenommen und potenziell zugänglich gemacht würden, kämen Tausende oder gar Millionen neue „melodiemäßige Landminen dazu“, so Riehl.
Weil den Musiker*innen somit langsam aber sicher die „unbesetzten“ Melodien ausgingen, so Riehl, wollten er und Rubin ihnen mit diesem Mega-Katalog an nunmehr lizenzrechtlich freigegebenen Tonfolgen helfen – und sie vor diesbezüglichem rechtlichen Ärger bewahren.
Milliarden „unbesetzter“ Melodien nun gemeinfrei
Wie Riehl einräumt, werden manche Gerichte – jetzt oder in Zukunft – eine Tonfolge aufgrund ihres mathematischen Ursprungs womöglich als Zahlen einstufen, und damit als urheberrechtlich nicht schützbare Fakten. Doch gerade angesichts vieler, insbesondere jüngerer Urteile sei keinesfalls sicher, worauf sich Urteile stützen.
Vielmehr beurteilten manche Gerichte die Schutzfähigkeit nicht allein anhand der Melodien. Mitunter zähle auch der ästhetische Gesamteindruck, etwa beim Fall Blurred Lines, so Damian Riehl.
Solche Gerichtsurteile führten ihn zum „All The Music“-Projekt. Dadurch seien seiner Ansicht nach zumindest jene Milliarden Melodien gemeinfrei, die noch nicht urheberrechtlich „besetzt“ seien.
Im Nachgang des TED-Talks interviewte der Musiker und Musikblogger Adam Neely sowohl Damian Riehl als auch Noah Rubin zu ihrem ebenso beeindruckenden wie womöglich auch nachhaltigen Copyright-Hack und stellt in seinem Videobeitrag auch geltende urheberrechtliche Rahmen in Frage:
Damian Riehl kündigte an, die Anzahl rechnerisch erzeugter und als gemeinfrei erklärter Melodien nach und nach zu erhöhen.
1 Kommentar
1 Schmunzelkunst am 15. Februar, 2020 um 19:20
In dem Aufsatz zum Pelham-Urteil (GRUR 2/2020, siehe auch https://irights.info/webschau/webschau-eugh-urteile-zu-facebook-like-button-sampling-streit-afghanistan-papiere-und-zitatrecht/29591#comment-85917) wird vorgeschlagen, den umstrittenen starren Melodienschutz des § 24 II UrhG ganz aus dem Urheberrechtsgesetz zu streichen. Die Umsetzung der EU-Reform in deutsches Recht bietet m. E. hierzu die beste Gelegenheit.
Leider besteht aber die Gefahr, dass der starre Melodienschutz des § 24 II UrhG mit dem verwechselt wird, was der EuGH im Pelham-Urteil fordert, und deshalb weiterhin an ihm festgehalten wird. Der Melodienschutz des § 24 II hat aber damit nichts zu tun. Lt. Formulierung in Rn 39 der Pelham-Entscheidung ist es dem Tonträgerhersteller “gestattet, sich dagegen zu wehren, dass ein Dritter ein – auch nur sehr kurzes – Audiofragment seines Tonträgers nutzt, um es in einen anderen Tonträger einzufügen, es sei denn, dass dieses Fragment in den anderen Tonträger in geänderter und beim Hören nicht wiedererkennbarer Form eingefügt wird.” Damit ist nicht die Wiedererkennbarkeit der Melodie gemeint.
Im Pelham-Urteil ging es um das Recht des Tonträgerherstellers. Dessen Recht ist verletzt, wenn erkennbar ist, dass eine Tonfolge speziell aus seinem (!) Tonträger geklaut wurde. Das Recht des Tonträgerherstellers wird nicht verletzt, wenn man gar keinen fremden Tonträger benutzt, sondern die Tonfolge selbst nachspielt und aufnimmt. Ein schönes Beispiel ist ein Tonträger mit urheberrechtsfreiem Inhalt, z.B. Vogelgezwitscher. Der Gesang der Nachtigall darf wiedererkennbar bleiben, es darf aber nicht erkennbar sein, woraus der Gesang – wenn nicht aus eigener Aufnahme – entnommen wurde.
Kurz gesagt, der starre Melodienschutz hat mit dem Recht des Tonträgerherstellers nichts zu tun, wenngleich ich persönlich beide abschaffen würde.
Was sagen Sie dazu?