Karl-Nikolaus Peifer: Das Urheberrecht wird zum Informationskontrollrecht
Das folgende Interview von Philip Stade erschien zuerst im Blog „Freie Kultur und Musik“, wir veröffentlichen es hier in geringfügig gekürzter Form. Philip Stade ist Musikstudent in Köln, das Interview schließt an eine Vorlesung von Karl-Nikolaus Peifer an, die er besuchte.
Philip Stade: Das Urheberrecht hat viele Probleme mit der Digitalisierung. Der erste Punkt, der mich interessieren würde, wäre die Abgrenzung der körperlichen Form. In § 15 Abs. 1 Urheberrechtsgesetz (UrhG) heißt es: Der Urheber hat das ausschließliche Recht, sein Werk in körperlicher Form zu verwerten. Da hatten Sie gefragt: Was ist eigentlich diese körperliche Form? Und ich habe das dann so verstanden, dass das dann im Vervielfältigungsrecht näher ausgeführt wird. Dass da dann gesagt wird: Vervielfältigung ist letztendlich vorhanden, gleichviel ob vorübergehend oder dauerhaft, in welchem Verfahren und in welcher Zahl. Und das wird dann aber über die Schranke § 44a UrhG wieder eingegrenzt, so dass vorübergehende Vervielfältigungshandlungen wieder zulässig sind. Sie haben einmal gesagt, dass das Vervielfältigungsrecht das wichtigste Gesetz für die Digitalisierung ist, weil man eben mit dieser Aussage alle digitalen Kopien in das Vervielfältigungsrecht und damit in die Verwertungsrechte reinholt. Vielleicht könnten Sie kurz erklären, wie es zu dieser Entscheidung kam.
Karl-Nikolaus Peifer: Das ist eine Entscheidung, die wurde Mitte der 1990er Jahre getroffen, als man noch nicht so richtig verstand, was eigentlich ‚körperlich’ im elektronischen Bereich ist – und was nicht körperlich ist. Das klassische Urheberrecht hat ja diese klare Trennung vorgenommen: Immer dann, wenn Sie ein Trägermedium erzeugen, also eine Kopie, die man auch wirklich anfassen kann, dann ist das Vervielfältigungsrecht betroffen. Und die Idee des Urheberrechtes war, dass der Urheber für jedes Trägermedium eine Chance haben sollte, eine Vergütung zu bekommen. Das heißt, wenn er lizenziert „Ihr dürft 5000 Platten pressen“ und für jede Pressung bekomme ich, sagen wir, 50 Cent, dann war für ihn klar, welches Vergütungsinteresse er an diesem Vorgang hatte.
Als nun die digitale Kopie aufkam, gab es ursprünglich ja durchaus noch Trägermedien und die Urheberrechtler der damaligen Zeit – wir sind jetzt so Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, als die CD aufkam, es noch keine rein elektronischen Dateien gab, keine MP3, keine MP4 – in dieser Welt war der Urheberrechtler der Meinung: Auch das ist noch eine Vervielfältigung. Und der nächste Schritt, der begann dann mit den Computerprogrammen. Bei den Computerprogrammen haben die Hersteller es erstmals so vorgenommen, dass sie keine Disketten, keine CDs mehr lieferten, sondern Bundle-Versionen. Das Programm war auf der Festplatte gespeichert. Und das war eigentlich der erste Punkt, an dem man sagte: Ja gut, wir haben jetzt kein Trägermedium, kein Programmträger mehr, den wir wegtragen können, sondern das ist irgendwo verkörpert auf dieser Festplatte.
Von da ist es logisch nur ein ganz kleiner Schritt, zu sagen: Ja, wenn es irgendwo elektronisch verkörpert ist – sei es, dass wir es nicht mehr anfassen können, sei es, dass wir es nicht mehr wegtragen können –, dann ist es ja wohl eine Kopie; so wie eine CD-ROM und so wie eine DVD eine Kopie ist. Und damit hat sich dieses Vervielfältigungsrecht in die digitale Welt hineingeschlichen. Und der § 44a UrhG hat nur noch einen kleinen Teil dieser Kopien wieder herausgenommen, nämlich den Teil, der praktisch unvermeidbar ist, wenn Sie ein Angebot im Netz aufrufen.
Digitale Kopie im Urheberrecht – „einerseits hellsichtig, andererseits desaströs”
Es ist ja netztypisch, dass Sie Informationen zugesendet bekommen, die aus technischen Gründen einen Moment in Ihrem Arbeitsspeicher abgespeichert werden müssen. Und die Urheberrechtler waren der Meinung, dass das eigentlich nicht unter das Kontrollrecht fallen dürfte und dass man das deswegen heraus nehmen musste. Aber wenn Sie diesen § 44a UrhG lesen, dann merken Sie, dass ja kaum etwas davon erfasst ist. Es sind wirklich fast nur diese unwillkürlichen Kopien, die in Ihrem Arbeitsspeicher entstehen, wenn Sie sich irgendeinen Inhalt aus dem Netz holen. Schon bei den Streaming-Angeboten ist der § 44a UrhG kritisch. Wenn ich ein Youtube-Video auf der Play-Fläche anklicke, schon dann ist es ja nicht mehr unwillkürlich – schon dann tue ich ja etwas und schon dann erzeuge ich eine Kopie willentlich. Man könnte also durchaus sagen, dass auch der Streamingbereich schon eine Kopie ist.
Das ist einerseits hellsichtig, andererseits desaströs. Hellsichtig ist es insoweit, als die Urheberrechtler natürlich gesehen haben, dass die Trägermedien mehr und mehr verschwinden und man sich dann fragen muss: Woran machen wir die urheberrechtliche Befugnis noch fest, wenn wir keine Trägermedien mehr haben? Indem man gesagt hat, die digitale Kopie ist genauso wie die verkörperte Kopie, hat man dieses Problem gelöst – sehr hellsichtig.
Desaströs auf der anderen Seite, weil wir dadurch natürlich viel intensiver in einen Bereich hineingehen, der früher urheberrechtsfrei war. Wenn ich mir früher ein Fernsehprogramm angeschaut habe, entstand keine Kopie – nirgendwo, außer vielleicht auf der Festplatte in meinem Gehirn. Wenn ich heute ein Programm digital anschaue, entstehen immer Kopien. Das heißt, ich kann es gar nicht vermeiden, Kopien zu erstellen. Damit ist die ganze digitale Welt mit jeder Kopie erfasst – mag diese auch noch so flüchtig, noch so vorübergehend, noch so beiläufig sein, mag sie noch so unwichtig sein, weil sie aus irgendeinem Router auf dem Transport des Signals auf dem Weg zu mir sei – sie ist erfasst. Und damit ist praktisch nichts mehr frei im digitalen Urheberrecht.
Philip Stade: Die Verbreitung (§ 17 UrhG) ist eine der umstrittensten Fragen der digitalen Gesellschaft, haben Sie in der Vorlesung gesagt und das zielte hauptsächlich auf die Frage ab, ob es eine Erschöpfung nach § 17 Abs. 2 UrhG bei digitalen Inhalten gibt, die nicht mehr „verkörpert“ sind, also ohne Trägermedien vorhanden sind. Das frage ich mich und da gibt es auch eine Internetseite redigi.com, auf der die verbrauchten MP3 dann weiterverkauft werden. Das ist letztendlich eine Verbreitungsfrage und das ist ja gerade noch umstritten. Ist der aktuelle Stand immer noch so, dass es unklar ist, ob so etwas zulässig ist?
Karl-Nikolaus Peifer: Es ist ein bisschen klarer geworden. Das Verbreitungsrecht wäre natürlich der Weg gewesen, um dieses digitale Dilemma wieder zu lösen. Wenn man schon sagt, alles ist verkörpert, dann hätte § 17 UrhG eigentlich dafür gesorgt, dass jede Verkörperung, an der einmal etwas verdient wurde, weiterveräußert werden kann. Wenn Sie also bei Apple iTunes einen Song herunterladen und dafür 99 Cent bezahlen, dann müssten Sie eigentlich in den Besitz dieser Kopie kommen in einer Art und Weise, die die Urheberrechte an dieser einzelnen Vervielfältigung erschöpft. Das heißt, Sie müssten genau diese iTunes-Datei weiterveräußern können. So ist das Konzept des Urheberrechts. Erstaunlicherweise haben aber die Urheberrechtler fast geschlossen den § 17 UrhG dahingehend ausgelegt, dass er nur Trägermedien erfasst, aber keine digitalen Verkörperungen. Und das ist natürlich inkonsequent. Also entweder sage ich, es ist eine Kopie, dann muss das Recht daran sich auch erschöpfen. Oder ich sage, es ist keine Kopie, dann brauche ich keine Erschöpfung, dann sind wir eben ganz raus aus der Vervielfältigung.
Gebrauchtsoftware: Die Entscheidung des EuGH
Die Frage kam natürlich hoch bei den gebrauchten Computerprogrammen. Der Bundesgerichtshof hatte die Frage zu entscheiden, ob ich eine gebrauchte Programmkopie weiterverkaufen darf: Ich kaufe mir als Unternehmer 50 Lizenzen, davon brauche ich 40 und die 10 verkaufe ich weiter. Die Softwarehersteller waren der Meinung, dass es an den 50 Lizenzen keine Erschöpfung gibt, dass ich also die 10 auch nicht weiter verkaufen darf, dass nur ich sie nutzen darf – und wenn ich sie nicht nutze, dann bleiben sie eben da liegen. Dieser Fall wurde dem Bundesgerichtshof vorgelegt, der BGH hat ihn dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt und der hat entschieden, dass Gebrauchtsoftware tatsächlich gehandelt werden darf, dass also eine Erschöpfung an Gebrauchtsoftware stattfindet. Und jetzt warten wir noch auf die genaue Auslegung der Urteilsgründe des Europäischen Gerichtshofs. Beim EuGH weiß man nie genau, wie man die Urteilsgründe nun auslegen muss, man muss sehr viel lesen und sehr genau lesen. Aber das Ergebnis jedenfalls, dass das Geschäftsmodell Gebrauchtsoftware ein urheberrechtlich zulässiges Geschäftsmodell ist, das scheint der EuGH so auch zu meinen. Und damit wären wir in der Tat bei der Relevanz dieser Frage für alle Vervielfältigungsstücke, also auch für die Musik.
Philip Stade: Das wäre sehr spannend, wenn jeder seine Dateien weiterverkaufen könnte und noch eine Kopie anfertigen könnte.
Karl-Nikolaus Peifer: Ob das geht, ist natürlich fragwürdig. Die Urheberrechtler sagen: Neenee, du kannst nur das Vervielfältigungsstück weiterverkaufen, was du bekommen hast. Das darfst du dann auch nicht behalten. An der Stelle sagen die Softwarehersteller: Daran seht ihr, dass es nicht geht. Wenn ich eine Kopie auf die virtuelle Reise schicke, dann behalte ich ja immer eine Kopie zurück. Lückenlos wäre das System also nur dann, wenn ich die Kopie losschicke und dann die verbliebene Kopie auf meiner Festplatte lösche. Und da sagen die Softwarehersteller: Das kann ja keiner kontrollieren. Wir können es auch nicht kontrollieren und deswegen kann das nicht gehen. Anders jetzt der EuGH, der sagt: Doch, das geht, es ist eine Erschöpfung daran möglich. Dann müssten Sie aber jetzt, wenn Sie die Kopie weiterreichen, die bei Ihnen verbliebene Kopie löschen. Sonst würden Sie ja nicht Ihre Kopie weiterverkaufen sondern eine neue Kopie anfertigen. Das erlaubt Ihnen § 17 UrhG aber nicht.
Philip Stade: Noch zum Punkt ‚Bearbeitungen’(§ 23 UrhG): Das haben Sie ja auch in der Stellungnahme in der Enquete-Kommission beschrieben, dass Remixes und Mash-ups von den sogenannten Prosumenten heute erstellt werden und dass da ein ganz klares Nutzerinteresse vorliegt, das der sozialen Kommunikation dient – aber gleichzeitig auch oft keine wirkliche Gefährdung der etablierten Kulturmärkte stattfindet, wenn man jetzt von Fan-Videos oder so etwas spricht. Aber es fällt natürlich alles unterschiedslos unter das geltende Urheberrecht. Jetzt habe ich vor ein paar Tagen gelesen, dass diese nur in wenigen Fällen verfolgt werden von den Rechteinhabern. Aber das ist natürlich keine Rechtssicherheit. Es ist jetzt die Frage, wie groß das Interesse ist, so etwas zu unterbinden oder eine Einwilligung dafür erforderlich zu machen. Und Sie hatten auch mal angedacht, eine Schranke für nutzergenerierte Inhalte zu etablieren, was aber auf europäischer Ebene schwierig wäre wegen dieser Begrenzung des Schrankenkatalogs. Wie kommt man aus diesem Dilemma wieder heraus?
Karl-Nikolaus Peifer: Eine einfache Lösung wäre: Durch Interpretation der maßgeblichen Rechtsgrundlagen. Das sind zwei Vorschriften: § 23 und § 24 UrhG. § 23 UrhG sagt, eine Bearbeitung ist immer lizenzpflichtig. § 24 UrhG besagt, eine „freie Benutzung” ist es nicht mehr. Und jetzt ist die Frage: Wie interpretiere ich den Begriff „freie Benutzung“? Die Gerichte haben gesagt: Immer dann, wenn ich das Original noch erkenne, ist es eine Bearbeitung und keine freie Benutzung. Und damit ist Fan-Art komplett raus aus dem § 24, aus der freien Benutzung. Weil der Sinn von Fan-Art ja darin besteht, dass ich das Original noch erkenne. Ich huldige ja demjenigen, dessen Fan ich bin. Also muss es immer erkennbar sein und damit ist es immer eine abhängige Bearbeitung.
Man kann das aber auch anders interpretieren. Man kann auch sagen: Wenn etwas Neues entsteht, was erkennbar nicht mehr das Original ist, dann handelt es sich um eine freie Benutzung. Und so wäre ich durch eine bloße Interpretation sehr viel stärker in dem § 24 UrhG – und aus dem § 23 UrhG raus. Warum macht man das nicht? Es gibt eine Begründung dafür, die ich nicht ganz falsch finde, die aber ein bisschen dafür sorgt, dass die lebenden Urheber die nachfolgenden Urheber ein bisschen kontrollieren – um nicht zu sagen: zensieren – können. Das ist die Begründung, die den Gesetzgeber dazu verleitet hat, zu sagen: Der Urheber soll nicht nur den Markt kontrollieren, den er mit seinem eigenen Werk begonnen hat, sondern er soll auch noch so ein paar Folgemärkte kontrollieren können.
Fan-Fiction als „freie Benutzung”?
Wenn ich jetzt also „Sherlock Holmes” Band 1 schreibe und diese Figur Sherlock Holmes mit Dr. Watson in London in ein bestimmtes Setting hinein setze, so dass aus diesen Figuren eine Persönlichkeit wird, dann, so der Gesetzgeber, soll ich auch alleine die Chance haben, „Sherlock Holmes” Band 2, Band 3, Band 4, Band 100 zu schreiben. Wenn jetzt ein Fan kommt und sagt: Harry Potter ist ein bisschen langweilig geworden, ich mache jetzt Harry Potter mal zu einem Homosexuellen – dann, so die Idee, soll die Urheberin von Harry Potter sagen können: Das schädigt, das beeinträchtigt meine persönlichen Interessen, die ich mit dieser Figur verbinde. Du kannst gerne ein Buch schreiben über einen homosexuellen Zauberlehrling, aber es soll nicht Harry Potter sein. Das ist meine Geschichte.
Vor diesem Hintergrund ist Fan-Art dann doch kritisch, weil das Urheberrecht sagt: Ihr dürft das alle eigentlich zu Hause machen. Wenn Sie sich zu Hause hinsetzen und den homosexuellen Harry Potter herunterschreiben, das in Ihren Schrank legen und das vielleicht nur Ihrer Familie zu lesen geben, passiert gar nichts. Sobald Sie es allerdings in der Öffentlichkeit tun – und die Öffentlichkeit ist eben heute auch das soziale Netzwerk, das ist auch die Fan-Page im Internet – sobald Sie das tun, greifen Sie eben dann doch in die Verwertung des Hauptmarktes ein. Und die Angst, die dabei besteht, ist, dass irgendwann alle Leute Ihren schwulen Harry Potter viel schöner finden als den Original-Harry Potter – und die Original-Urheberin, die die Figur erfunden hat, ihren Markt verliert. Das ist das Argument. Man kann dafür eine gewisse Sympathie aufbringen. Aber man muss natürlich sehen, dass dadurch einige Urheber die verbesserte Version des eigenen Erstlingswerks verhindern können. Das ist etwas, was mit Free Culture und freier Diskussion von Ideen nur schwer vereinbar ist.
Philip Stade: Ich kenne das von vielen Seiten im Internet, wo viele Remixe von Musikstücken präsentiert werden. Das geschieht dann letztendlich alles in einem sehr rechtsunsicheren Rahmen?
Karl-Nikolaus Peifer: Eigentlich nicht rechtsunsicher, es ist an sich klar verboten. Rechtsunsicher wird es allenfalls dadurch, dass manche Verwerter gemerkt haben, dass es nicht klug ist, die eigenen Fans zu vergraulen. Das ist auch einer Schriftstellerin wie Rowling gelegentlich passiert, dass sie solche Fan-Verwendungen durchaus duldet. Zum einen, weil sie vielleicht selber Anregungen daraus bekommt, zum anderen aber auch, weil sie nicht ihre treuesten Fans verärgern möchte. Also lässt man das mal laufen. Und es gibt auch Verwerter, auch im Musik- und im Filmbereich, die sagen: Wir lassen das mal laufen.
Das ist eine kluge Entscheidung, die das Urheberrecht ja auch zulässt. Sie müssen Ihre Rechte ja nicht ausüben. Sie können auch subjektiv darauf verzichten, sie auszuüben. Es ist eine kluge Entscheidung, zu sagen: Wir lassen das solange zu, wie es unseren Hauptmarkt nicht beeinträchtigt. Die Sache kippt eben dann, wenn das Fan-Produkt erfolgreicher wird als das Hauptprodukt. Aber in der Filmindustrie ist das sehr unwahrscheinlich, weil die Filmindustrie eben doch so professionell und so perfektionistisch ist, dass es wenig vorstellbar ist, dass irgendein Fan an seinem Computer Star-Wars besser macht als das Original. Im Musikbereich ist das natürlich schon eher möglich. Im Musikbereich haben wir nicht so viele Gestaltungsmittel und da gebe ich Ihnen Recht. Da kann es durchaus sein, dass der Remix besser ist als das Original.
Philip Stade: Dann gibt es ja noch den Absatz 2 bei der freien Benutzung (§ 24 Abs. 2 UrhG), nach dem ein absoluter Melodienschutz besteht.
Karl-Nikolaus Peifer: Das ist eigentlich eine mit dem Urheberrecht so nicht erklärbare Entwicklung. Denn wir haben in allen Bereichen die Situation, dass wir Bearbeitungen zulassen können, dass wir freie Benutzungen zulassen können, und warum bei der Musik die Melodie absolut geschützt ist, das ist nicht erklärbar.
Philip Stade: Das Urteil „Metall auf Metall“ des BGH sagt: „Ein Eingriff in die Rechte des Tonträgerherstellers (§ 85 Abs. 1 UrhG) ist bereits dann gegeben, wenn einem fremden Tonträger kleinste Tonfetzen entnommen werden“. Dazu haben Sie in Ihrer Stellungnahme bei der Internet-Enquete geschrieben: „Dieser Schutz von Kleinstelementen sorgt dafür, dass die Rechte an Tonträgern besser geschützt werden als die Rechte der Komponisten und Textdichter.“ Das sei letztendlich ein Irrweg. Was wäre ein besserer Weg in Ihrem Sinne?
Karl-Nikolaus Peifer: Die Krux liegt darin, dass der BGH gesagt hat: Ihr dürft auf diese Einzeltöne gar nicht zugreifen. Auch nicht im Wege des § 24 UrhG, also im Wege der freien Benutzung. Das halte ich für schlicht falsch. Dass wir dem Urheber einen Markt für seine Schöpfung erhalten, kann man noch halbwegs erklären – ich habe es gerade versucht. Aber dass man auch dem Einzelton, der eingespielt ist, jede Möglichkeit nimmt, in einen neuen Zusammenhang gebracht zu werden, das ist in der Kunst ein krasser Ausnahmefall. Denken Sie an die gesamte Kunst der Collage, wo ich tatsächlich Vervielfältigungen von Originalwerken in ein neues Kunstwerk hineinsetzen kann, um etwas neues zu schaffen. Und niemand käme auf die Idee – die Urheber ohnedies nicht – diese Neuschöpfung zu verhindern; es gibt da auch keine Leistungsschutzrechte, also auch nicht die Hersteller oder die Galeristen. Indem die Musikindustrie mit Unterstützung des BGH sagt, der einzelne Ton ist schon für sich genommen geschützt, hat man etwas Systemfremdes geschaffen, was den Urhebern – die das Recht ja schützen soll – mehr Probleme bereitet, als es bereiten müsste. Und die Musikindustrie an der Stelle schützt. Das ist ein Schutz, der auch so nicht vermittelbar ist. Das war so nicht gedacht.
Philip Stade: Wir haben ja gerade schon über kollektive Rechtewahrnehmung gesprochen, dass Sie das als ein Hauptaktionsfeld der Urheberrechtspolitik im digitalen Zeitalter ansehen. Wie könnte das aussehen? Wir haben ja C3S [Cultural Commons Collecting Society] und die GEMA im Falle von Musik gesehen. Können Sie das kurz beschreiben, wie das in Ihren Augen gut aussehen könnte?
Karl-Nikolaus Peifer: Also, der Sinn einer kollektiven Verwertung besteht darin, dass jeder für bestimmte Nutzungen gegen Zahlung einer angemessenen Vergütung an den Inhalt gelangt. Und der Sinn der kollektiven Werkverwertung liegt vor allen Dingen darin, dass es einen gibt, den ich ansprechen kann. Also eine Verwertungsgesellschaft etwa und diese Verwertungsgesellschaft etwa einen Remix gestatten kann.
Nehmen wir mal an, ich bin Musiker, ich verdiene mit Remixes mein Geld und ich möchte diverse Tonträger nutzen, um ein neues Werk zu schaffen. Dann muss ich idealerweise von einem Lizenzgeber den Inhalt bekommen. Wenn das eine Verwertungsgesellschaft wie die GEMA ist, klappt das. Das klappt sogar weltweit. Das haben die Verwertungsgesellschaften jahrelang so praktiziert. Wenn das viele Verwertungsgesellschaften sind und dazu auch noch die Musikindustrie, die Musikunternehmen als Rechteinhaber kommen, dann klappt es nicht mehr, weil ich von GEMA vielleicht einen Schnipsel bekomme, den ich brauche. Aber die anderen Schnipsel muss ich mir unter Umständen bei 12, 13, 14 Stellen zusammenkaufen. Irgendwann wird das System so unattraktiv und ich bin so lange unterwegs, um diese Schnipsel zusammen zu bekommen, dass ich es nicht mehr mache. Die Transaktionskosten, sagen die Ökonomen, sind einfach zu groß, um das noch erfolgreich zu machen.
Verwertungsgesellschaften – „jetzt sucht man ein neues System und man findet es nicht”
Wie kann man das lösen? Man kann es nur lösen, indem diejenigen, die solche Rechte lizenzieren, also Musikindustrie und Verwertungsgesellschaften, zusammenarbeiten. Die neue Verwertungsgesellschaft, die etwa Creative Commons macht, und die GEMA müssten also sicherstellen, dass sie eine Zusammenarbeitsvereinbarung miteinander eingehen, die darauf hinaus läuft, dass mir die GEMA erst einmal diesen Inhalt gibt, und dann mit der neuen Verwertungsgesellschaft darüber redet, wie die Vergütungen jetzt verteilt werden. Für den Lizenznehmer wäre der Weg dann einfach und für die Lizenzgeber, die sich untereinander kennen, müssten Instrumente geschaffen werden, dass sie Verträge auf Gegenseitigkeit haben.
Das haben die Verwertungsgesellschaften in der Vergangenheit immer so gemacht. Wenn also die GEMA belgische oder englische Urheberrechte wahrgenommen hat, hat sie immer Ihnen die Lizenz gegeben, wenn sie die Diskothek betrieben haben. Von den eingesammelten Vergütungen gingen dann eben ein Teil nach England und ein Teil nach Belgien und dort wurde das an die belgischen und die englischen Urheber ausgeschüttet. Das System haben die also alle schon durchdacht. Es würde funktionieren. Seit einigen Jahren ist das System nur – insbesondere, weil die europäische Kommission hier Wettbewerbsbeschränkungen vermutete – aufgeknackt worden und jetzt sucht man ein neues System und man findet es nicht. Ich hoffe, dass man irgendwann doch dazu zurückfindet, dieses alte System noch einmal zu überarbeiten und es so transparent zu machen, dass es für alle Belange in der digitalen Welt passt. (…)
Philip Stade: Zu den Schranken im Urheberrecht: Da haben Sie oft das Beispiel gebracht von dem 15-Jährigen, der sich fragt, was darf er jetzt eigentlich mit einem Youtube-Video machen. Da sagen ja viele, dass diese Schranken zu kompliziert sind. Auf der anderen Seite haben Sie auch auf der C’n’B Convention gesagt, dass man sich eine Illusion aus dem Kopf schlagen müsste: „Wir können ein gerechtes Urheberrecht nicht einfach gestalten, weil einfach nicht gerecht heißt.“ Dann haben wir kurz danach auch gesprochen, dass Sie die Idee von Creative Commons gut finden, dass man das Urheberrecht auf Icons herunterbricht, um eben so eine Nutzerfreundlichkeit herzustellen. Letztendlich wäre das ein Gegensatz, dass das Urheberrecht an sich hoch komplex bleibt, aber dass man daran arbeiten müsste, wie Nutzer leicht erkennen können, was sie machen dürfen und was nicht. Das müsste doch noch stärker forciert werden oder ist das nicht Ihre Meinung?
Karl-Nikolaus Peifer: Was ich damit meinte war, dass der Gesetzestext nicht unbedingt einfach sein kann, wenn er auch gerecht sein soll. Denn Gerechtigkeit ist vor allen Dingen Einzelfallgerechtigkeit und um möglichst viele Einzelfälle ihrer Typik nach zu erfassen, muss das Gesetz tendenziell länger und weniger kurz sein. Denn je kürzer es ist, desto pauschaler ist es.
Die andere Frage ist aber, ob ich jetzt dem 15-Jährigen zumuten möchte und zumuten muss, in das Urheberrechtsgesetz zu schauen und mal raus zu finden, ob er denn diese Kopie ziehen darf oder ob er sie nicht ziehen darf. Und da könnte man, meine ich, den Gesetzestext für den Nutzer übersetzen durch solche Symbole wie Creative Commons das macht. Creative Commons erklärt ja auch nur einen Gesetzessatz, der etwa lauten könnte: Du darfst dieses Werk zu privaten nicht-kommerziellen Zwecken auf deinen Rechner kopieren. Das wäre die lange Formulierung. Damit wäre der 15-Jährige vielleicht schon latent überfordert, wenn die Formulierung sehr viel länger wird. Aber wenn man ihm ein leichtes Icon anbietet, „Copy-Plus“, dann weiß der 15-Jährige: Oh, ich darf das kopieren. Wie er das formuliert, wie das im Gesetz steht ist dann nicht mehr wichtig. Es weiß aber, was er tun darf. Und das wäre meine Idee oder das wäre jedenfalls die Zukunft, dass wir versuchen, das Gesetz eben auch so zu übersetzen, etwa durch Icons, etwa durch Bilder, dass es der Nutzer einfach verstehen kann, dass er es auch sofort versteht und nicht lange lesen muss.
Philip Stade: Eine abschließende Frage, um noch mal zu Lawrence Lessig zurück zu kommen: Würden Sie ihm zustimmen, wenn er sagt, dass wir zu sehr in einer Erlaubniskultur leben und nicht in einer Freien Kultur?
Karl-Nikolaus Peifer: Das ist eine schwierige Frage. Ich würde nicht sagen, dass wir zu sehr in einer Erlaubniskultur leben. Ich würde nur sagen, dass sich das Urheberrecht von seinen Wurzeln sehr stark entfernt hat und so eine Art Informationskontrollrecht geworden ist und das hängt mit der Digitalisierung zusammen. Indem ich das Urheberrecht eben auf kleine Bits zusammenschneide und diese Bits – wie etwa in der „Metall auf Metall“-Rechtssprechung – für sich genommen schütze, komme ich dazu, dass schon die Nutzung der Information erlaubnispflichtig wird. Und das ist eigentlich nicht die Philosophie des Urheberrechts.
Nicht jedes Bit ein Geschäftsmodell
Das Urheberrecht hat immer gesagt: Informationen als solche sind gar nicht schutzfähig, Ideen als solche sind gar nicht schutzfähig. Sondern schutzfähig ist nur der konkrete individuelle Ausdruck. Wenn wir also mit dieser Idee wieder ernst machen würden, dann wäre sehr viel mehr ungeschützt und dann wären wir nicht in einer Kultur, in der wir alles erlauben müssen. Aber Lawrence Lessig ist Amerikaner und in den USA haben wir sehr stark konzentrierte Urheberrechte, die bei großen Rechteverwertern liegen; bei den Filmstudios, bei den großen Musikstudios, und für die geht es darum, 360 Grad auszuwerten. Das heißt, die haben ein großes Interesse daran, jede Nutzung durch Lizenzverträge auch zu einem Bezahlmodell zu machen. Das ist aber nicht unbedingt das, was das Urheberrecht europäischer Prägung auch tatsächlich wollte, will und auch heute noch so regelt. Deswegen halte ich es für ganz typisch, dass ein Amerikaner das sagt.
Wir haben gelegentlich so den Eindruck, dass in Europa alles viel enger und viel strenger noch ist als in den USA. Das Gegenteil ist der Fall. Die Probleme kommen aus dem US-amerikanischen Urheberrechtsverständnis, das eben jedes Bit zu einem Geschäftsmodell macht, nicht aus unserem Urheberrechtsverständnis. Nur, da die US-amerikanische Musik- und Filmkultur und auch die Computerkultur im Augenblick die Welt auf der Content-Seite regiert, werden wir davon nicht unbeeinflusst bleiben.
Philip Stade: Okay, das ist ja ein schönes Schlusswort. Vielen Dank!
Karl-Nikolaus Peifer: Gerne.
Was sagen Sie dazu?