Das italienische Kulturerbegesetz – eine Bedrohung für die Gemeinfreiheit?
Was haben das französische Modelabel Jean Paul Gaultier, der deutsche Spielehersteller Ravensburger und das Magazin GQ gemeinsam? Mehr als man zunächst annehmen würde: In Italien ist das Ministerium für Kultur in mehreren Fällen erfolgreich gerichtlich gegen Nutzungen von Renaissance-Meisterwerken aus italienischen Museen vorgegangen. Und das, obwohl die Werke von Botticelli, da Vinci und Michelangelo ohne jeden Zweifel gemeinfrei sind. Denn sie stammen aus dem 15. und 16. Jahrhundert.
Das italienische Ministerium ignoriert die EU-weiten Regelungen zur Gemeinfreiheit. Es beruft sich nicht auf Urheber- oder Leistungsschutzrechte, sondern auf die Bestimmungen des Kulturerbe- und Landschaftsgesetzbuchs. Die Fälle werfen ein Schlaglicht auf ein mögliches Schlupfloch in der EU-Urheberrechtsrichtlinie von 2019.
Die Gemeinfreiheit in der EU-Urheberrechtsrichtlinie
Die Urheberrechtsrichtlinie hat die Gemeinfreiheit in Europa erheblich gestärkt. So regelt Artikel 14 verbindlich für alle Mitgliedstaaten, dass reine Vervielfältigungen gemeinfreier visueller Werke keinen Urheberrechts- oder Leistungsschutz genießen. Nicht nur ist Artikel 14 der erste direkte Bezug auf die Gemeinfreiheit (Public Domain) im europäischen Urheberrecht überhaupt. Er erleichtert auch den Zugang zu und die Nachnutzung von Werken der bildenden Kunst erheblich.
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Zuvor war es unter Verweis auf die Lichtbildrechte des Fotografen möglich, auch die Nutzung von Reprofotografien oder anderer Eins-zu-eins-Vervielfältigungen von gemeinfreien Werken zu untersagen. Dies hatte der BGH im Rechtsstreit zwischen den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen und einem in den Wikimedia-Projekten aktiven Fotografen festgestellt. Mit Artikel 14 ist das nun nicht mehr möglich, was insbesondere die digitale Nutzung gemeinfreier Werke erleichtert.
… und wie Italien sie aushebelt
Deutschland hat die Vorgabe im Urheberrecht in Paragraf 68 umgesetzt. Auch Italien hat Artikel 14 der Richtlinie im November 2023 umgesetzt. Allerdings mit einem Zusatz. Der ist zwar klein, eröffnet aber Spielraum: „Die im Gesetzesdekret (…) enthaltenen Bestimmungen zur Reproduktion des kulturellen Erbes bleiben unberührt.“ Dieser Verweis bezieht sich auf Artikel 108 des italienischen Kulturerbe- und Landschaftsgesetzbuchs. Demnach erfordert die Vervielfältigung von Objekten des italienischen Kulturguts, die im Besitz einer staatlichen Einrichtung sind (also etwa eines öffentlicher Museums), für kommerzielle Zwecke die Erlaubnis der Einrichtung und gegebenfalls die Entrichtung einer Zulassungsgebühr.
Der kleine Zusatz öffnet Italien ein Hintertürchen, die europäischen Vorgaben werden durch diesen Kniff umgangen. Formal ist das Kulturerbe- und Landschaftsgesetz dem Verwaltungsrecht zugeordnet. Anstelle sich auf Bildrechte o.Ä. zu berufen, begründet Italien die Beschränkung der Nachnutzung als Maßnahme zum Schutz eines öffentlichen Gutes (konkret des nationalen Kulturerbes). Einerseits erhebt der italienische Staat eine Zulassungsgebühr als Beitrag zur materiellen Aufrechterhaltung des kulturellen Erbes. Andererseits behält er sich sozusagen als Hüter der Würde des nationalen Kulturguts vor, nach der Meinung der Behörden unangebrachte Nutzungen zu untersagen.
Wie der italienische Staat kommerzielle Nutzungen gemeinfreier Werke behindert
Der italienische Staat hat die Bestimmungen des Kulturerbe- und Landschaftsgesetzbuchs bereits in einer Reihe von Fällen genutzt. Entweder um kommerzielle Nutzungen einzelner Werke gerichtlich zu untersagen oder um die Zahlung einer Zulassungsgebühr durchzusetzen. Kurioserweise geht es in allen Fällen um Künstler der Renaissance, die Jahrhunderte vor der Erfindung des modernen Urheberrechts gelebt haben: Sandro Botticelli (1445-1510), Leonardo da Vinci (1452-1519) und Michelangelo (1475–1564).
Michelangelo, David
Der erste Fall betrifft den David von Michelangelo, der sich seit 1873 in der Galleria dell’Accademia in Florenz befindet. 2017 bereits gingen das Kulturministerium und die Accademia erfolgreich gegen das Modelabel Brioni und ein Kunststudio vor. Sie hatten eine originalgetreue Reproduktion des David zu Werbezwecken in einen Smoking der Marke gekleidet (mittlerweile ist die entsprechende Website von Brioni nicht mehr verfügbar).
Das Gericht entschied, dass die Abbildung nicht mehr öffentlich verwendet werden dürfe (unter Androhung einer Säumnisgebühr von € 500 für jeden Tag Verzögerung). Ferner sei das Urteil als Entscheidung zu verstehen, dass das Bildnisrecht auch für Objekte des italienischen Kulturerbes bestehe.
Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus
Einige Jahre später, nämlich im Oktober 2022 machte die Meldung Schlagzeilen, dass die Uffizien in Florenz gegen die Nutzung von Botticellis Die Geburt der Venus durch das Modelabel Jean Paul Gaultier in einer Kollektion vorgegangen waren.
Der Fall ist auch deshalb paradox, da die Uffizien Die Geburt der Venus auf ähnliche Weise vermarkten (z.B. als Print auf Topfhandschuhen).
Leonardo da Vinci, Virtuvianischer Mensch
Im Februar 2023 wurde bekannt, dass das Kulturministerium und die Accademia in Venedig gegen den deutschen Spielwarenhersteller Ravensburger vorgehen. Und zwar weil der schwäbische Spielwarenhersteller den Vitruvianischen Menschen von da Vinci für ein Puzzle verarbeitet hatte. Das venezianische Gericht ordnete an, dass Ravensburger die Nutzung zu unterlassen habe. Zusätzlich soll der Puzzle-Produzent für jeden Tag Verzögerung eine Säumnisgebühr von € 1.500 entrichten.
Und nochmal: Michelangelo, David
Und im März 2023 erging in Florenz ein erstinstanzliches Urteil gegen das Magazin GQ Italia (Condé Nast). Das Gericht untersagte die Nutzung von Michelangelos David auf dem Cover des Magazins aus dem Sommer 2020. Ferner entschied das Gericht, dass GQ Italia eine Erlaubnisgebühr in Höhe von € 20.000 sowie € 30.000 Strafe für die Entstellung des Werkes zu zahlen habe.
Der Richter bekräftigte die problematische Rechtsauffassung aus dem früheren David-Prozess, dass das Bildnisrecht auch für Objekte des italienischen Kulturerbe bestehe und bei einer juristischen Person (der besitzenden Institution) liegen könne. Die rechtliche Grundlage hierfür lieferte das Kulturerbegesetz.
Urheberrecht mit angeklebtem Bart
Erlaubnis und Zulassungsgebühr erinnern verdächtig an eine Lizenz. Lizenzen sind bei Gemeinfreiheit aber ausgeschlossen. Gemeinfreie Werke sind vollkommen frei und ohne Bezahlung nutzbar, auch von Unternehmen für kommerzielle Zwecke. Italienische Expert*innen wie Simone Aliprandi und Carlo Piana sowie Roberto Caso bezeichneten die Bestimmungen des Kulturerbe- und Landschaftsgesetzbuchs daher als ein „Pseudo-Urheberrecht“. In der Tat muss man sich fragen, ob Italien diese Spielart eines Urheberrechtes mit angeklebtem Bart nur eingeführt hat, um gemeinfreie Werke gewinnbringend vermarkten zu können.
Finanziell ist allerdings zweifelhaft, ob der Ertrag die administrativen Kosten der Erhebung der Zulassungsgebühr rechtfertigt. Insbesondere die paternalistische Argumentationsfigur des Gesetzgebers, dass der Staat das nationale Kulturerbe vor Entstellung schützen müsse, ist problematisch. Kreatives Schaffen bezieht sich immer auch auf bereits vorhandene Werke und setzt sich mit ihnen auseinander. Nur diese Auseinandersetzung (ob in der „Hoch-“ oder der kommerziellen Populärkultur) hält die Klassiker aktuell. Hindernisse in der Nutzung ersticken die Kreativität und schränken die Meinungsfreiheit ein.
Nicht nur Italien: Ähnliche Schlupflöcher auch in Frankreich, Portugal und Griechenland
Artikel 108 des italienischen Kulturerbegesetzes steht nicht nur im Widerspruch zum Geist von Artikel 14 der EU-Urheberrechtsrichtlinie – er bedroht auch die Gemeinfreiheit. Ähnliche Bestimmungen existieren auch in anderen EU-Mitgliedstaaten, darunter Griechenland, Portugal oder Frankreich).
Daher müsste der Europäische Gerichtshof (EuGH) klären, ob diese auch dem Wortlaut nach der Urheberrechtsrichtlinie widersprechen. Allerdings hat noch kein italienisches Gericht einen solchen Fall an den EuGH weitergegeben. Sollte diese Form des Pseudo-Urheberrechts für gemeinfreie Werke allerdings zulässig sein, wäre der europäische Gesetzgeber gefragt, dieses Schlupfloch zu schließen.
Im April 2023 hat Italien die Bestimmungen durch einen Erlass sogar noch verschärft. In der Vergangenheit stand es Museen frei, auch kommerzielle Nutzungen zuzulassen und keine Zulassungsgebühr zu erheben. Aufgrund der nun erlassenen Richtlinien ist die Erhebung der Zulassungsgebühr zukünftig verpflichtend. Es sind in Zukunft also weitere Auseinandersetzungen über das italienische Kulturerbegesetz zu erwarten.
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2 Kommentare
1 Lorenz am 20. Juli, 2023 um 08:16
Was ich mich frage: wenn die Bestimmungen so eklatant dem EU-Recht widersprechen, warum ist keiner der Angeklangten (Ravensburger, GQ usw) vor einen europäischen Gerichtshof gezogen? Waren die Erfolgsaussichten zu gering?
2 Georg Fischer am 20. Juli, 2023 um 10:19
Lieber Lorenz, soweit wir wissen, ist noch niemand vor den EuGH gezogen. Warum nicht, das lässt sich nur mutmaßen. Möglicherweise spielt die Abwägung von Kosten/Nutzen eine Rolle. Wenn sich hier was Neues tut, werden wir darüber berichten. Beste Grüße aus der Redaktion
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