Löschansprüche: Das Problem zuerst dort angehen, wo es entsteht

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Hintergrund zu diesem Artikel: Verfassungsrichter Masing – EuGH droht, „liberale Linien des Äußerungsrechts zu unterlaufen“. Update, 14.08.2014: Masings Papier jetzt auch im Wortlaut.
Bundesverfassungsrichter Johannes Masing weist in seiner Analyse auf kritische Aspekte des EuGH-Urteils zum „Recht auf Vergessenwerden“ hin, von denen hier zwei Aspekte hervorgehoben und kommentiert werden sollen.
Erster Aspekt: Grundsätzlicher Vorrang des Persönlichkeitsrechts gegenüber öffentlichem Interesse und Kommunikationsfreiheiten
Masing kritisiert, dass der Europäische Gerichtshof dem Persönlichkeitsschutz grundsätzlich Vorrang gegenüber kollidierenden Interessen und Grundrechten gewährt. Soweit es die Frage anbelangt, ob ein Suchmaschinenbetreiber Verweise löschen muss, „überwiegen die geschützten Rechte der betroffenen Person im Allgemeinen gegenüber dem Interesse der Internetnutzer“, heißt es im Urteil selbst (C-131/12, Rz. 81). Nur in „besonders gelagerten Fällen“ könne das öffentliche Interesse der „Internetnutzer“ an der Auffindbarkeit von und dem Zugang zu Informationen, die durch Suchmaschinen vermittelt werden, vorgehen.
Völlig zurecht sieht Masing hier einen „inadäquaten“ Vorrang des Persönlichkeitsrechts begründet. Der Europäische Gerichtshof versucht mit seinem Urteil, die Verweise, die durch Suchmaschinen vermittelt werden, einem anderen Rechtsregime zu unterwerfen als die Inhalte selbst. Das wirkt sich so aus, dass Suchmaschinen auf Inhalte, die Auswirkungen auf Persönlichkeitsrecht haben, auch dann nicht verweisen dürfen, wenn deren Publikation selbst rechtmäßig ist.
Während sich Pressewebseiten oder auch Individuen mit dem Verweis auf die Presse- und/oder Meinungsfreiheit verteidigen können, wenn jemand von ihnen verlangt, Inhalte zu löschen, geht im Verhältnis zwischen Suchmaschinenbetreiber und Individuum der Persönlichkeitsrechtsschutz generell vor. Nach deutschem Verfassungsrecht aber steht die Presse- und Meinungsfreiheit dem Persönlichkeitsrecht gleichrangig gegenüber. Dieses Verhältnis betrachtet der Europäische Gerichtshof ausschließlich durch die datenschutzrechtliche Brille und kommt zum Schluss, dass sich Suchmaschinen-Betreiber auf das sogenannte Medienprivileg – dem datenschutzrechtlichen Pendant zur Presse- und Rundfunkfreiheit – nicht berufen können.
Eingriff in öffentliches Informationsinteresse weitgehend ignoriert
Eine solche datenschutzrechtliche Fokussierung greift – so argumentiert auch Masing – eindeutig zu kurz. Auch ist es sachlich nicht gerechtfertigt, betroffene Grundrechte anders zu bewerten, wenn es darum geht, Links zu löschen, als wenn es darum geht, die Inhalte selbst zu löschen. Der Europäische Gerichtshof macht es sich bei der Abwägung schlicht viel zu leicht.
Dies zeigt sich deutlich an einem Beispiel: Die Löschung von Links auf Artikel in Presseportalen und Blogs wirkt sich zumindest mittelbar erheblich auf die Pressefreiheit der Inhaltsanbieter aus. Wie der Europäische Gerichtshof selbst einräumt, sind Verweise in Suchmaschinen ganz entscheidend für die Auffindbarkeit der Inhalte. Was nicht über Suchmaschinen gefunden wird, ist praktisch der öffentlichen Wahrnehmung entzogen.
Der Europäische Gerichtshof berücksichtigt diesen Umstand jedoch nur zugunsten der von der Berichterstattung Betroffenen, indem er in Suchmaschinen-Verweisen einen erheblichen, selbständigen Eingriff in deren Interessen sieht. Dass mit der Löschung der Verweise jedoch ein erheblicher Eingriff in die Kommunikationsfreiheiten der Äußernden und Berichterstattenden sowie in das Informationsinteresse der Öffentlichkeit einhergeht, ignoriert das Gericht weitgehend.
Diese unangemessene und kurzsichtige Beurteilung führt im Zweifel zu einem elementaren praktischen Problem: Wenn das Persönlichkeitsrecht bei der Beurteilung, ob ein Link zu löschen ist oder nicht, im Allgemeinen vorgeht, wird es die Regel sein, dass die Suchmaschinenbetreiber dem Löschungsbegehren nachkommen. Natürlich ist es wesentlich einfacher, schlichtweg zu löschen, statt komplexe Abwägungen zu treffen oder gar alle dafür notwendigen Informationen zu recherchieren. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs legt eine solche Handhabung nahe und führt damit in einer unermesslichen Zahl an Fällen zu einer massiven Ungleichbehandlung der betroffenen Interessen.
Zweiter Aspekt: Suchmaschinen sollten solche Entscheidungen nicht treffen
Masing kritisiert, dass der Europäische Gerichtshof mit seinem Urteil den Konflikt zwischen zwei privaten Parteien – Individuum und Inhaltsanbieter – auf einen Dritten verlagert. Der Suchmaschinenbetreiber habe jedoch weder Einfluss auf diesen Konflikt noch Einblick darin. Wenn die Pflichten von Suchmaschinen- und Inhaltsanbietern von der Rechtmäßigkeit des Links und der Quelle entkoppelt werden, entstehe ein problematisches Konfliktlösungsmodell.
Masing räumt dabei ein, dass es zunächst naheliegend erscheint, den häufig schwer auszutragenden Konflikt zwischen Inhaltsanbietern und Betroffenen auf eine dritte Instanz – einen Gatekeeper wie die Suchmaschinenbetreiber – zu verlagern. Natürlich ist es für den Betroffenen im Zweifel wesentlich effizienter, Suchmaschinen-Verweise vor allem bei Google löschen zu lassen, statt sich mit einer – unter Umständen sehr großen – Zahl von Quellen auseinanderzusetzen, die womöglich aus dem Ausland zugänglich gemacht werden.
Dennoch kritisiert Masing zutreffend, dass damit die Problemlösung vom Konflikt entkoppelt wird. Der Suchmaschinenbetreiber hat im Zweifel weder die nötigen Informationen, noch die Ressourcen, um solche Auseinandersetzungen sachgerecht lösen zu können. Er wird also im Zweifel den einfachsten Weg gehen und löschen, ohne den Betreiber der Quelle anzuhören oder Nachforschungen anzustellen.
Löschanspruch bei Suchmaschinen sinnvoll, wenn andere Wege erfolglos blieben
Um dies und die hiermit einhergehenden erheblichen Auswirkungen auf wesentliche Grundrechte und demokratische Werte zu vermeiden, macht Masing einen sehr unterstützenswerten Vorschlag. Suchmaschinenbetreiber sollten nur in Ausnahmefällen unmittelbar in die Pflicht genommen werden können, wenn sich der Betroffene nachweislich bereits vergeblich darum bemüht hat, die Quelle zu löschen, oder wenn das aus faktischen Gesichtspunkten von vornherein aussichtslos erscheint. Dies komme etwa in Betracht, wenn die Information auf einer Vielzahl von Seiten enthalten wäre oder die Quellen vom Ausland angeboten würden.
Eine solche – lediglich subsidiäre – Handlungspflicht der Suchmaschinenbetreiber wäre in der Tat sinnvoll. Sie würde den Konflikt grundsätzlich auf die Primärebene zwischen den Beteiligten verlagern und hielte dennoch für „Härtefälle“ eine Rückfalloption bereit, damit sich Betroffene effizienter gegen multiple und dezentrale Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Netz wehren können.
Lesen Sie auch die Einschätzung von Thorsten Feldmann, Ansgar Koreng und Carlo Piltz zu Masings Positionen: Ein gordischer Knoten aus Datenschutz und Meinungsfreiheit
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