Der EuGH, Google und das Vergessen: Was sagt das Urteil wirklich?
Ja: Das Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist in aller Munde. Markus Beckedahl ist eher positiv gestimmt, während Udo Vetter die Gefahr sieht, dass Suchmaschinen noch „weniger die Wirklichkeit“ abbilden als heute. Thomas Stadler setzt das Urteil mit den Netzsperren gleich und sieht einen „gefährlichen Paradigmenwechsel“. Die Politik hingegen – so Bundesjustizminister Heiko Maas, der grüne EP-Abgeordnete und Datenschutzvorkämpfer Jan Philipp Albrecht und Peter Schaar, der ehemalige Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit – ist erfreut.
Besonders glücklich sind die „konservativen Google-Kritiker in den Zeitungen“, wie der Perlentaucher leicht süffisant schreibt, die eigentlich „ihre eigene gerichtlich verfügte Irrelevanz“ bejubeln. Die „Welt“ spricht von einem Schritt zur „Rückeroberung des Cyberspace für den Internetbenutzer”. Andererseits hat die Satire-Seite des Spiegels durchaus Recht: Die weltweite Berichterstattung über den Kläger garantiert, dass nun jeder weiß, dass er einmal gepfändet wurde. In der digitalen Zeit sind die Michael Kohlhaases unserer Zeit sicher im Nachteil.
Diese Dimension sehen die Zeitungen aber heute nicht. In der FAZ titelt Reinhard Müller, dass die Welt „keine Google“ sei und kopiert eine Wendung von Google-Kritiker Gerald Reischl aus einem vor sechs Jahren erschienen Buch. Müller schreibt siegesbewusst, dass Google – „der Riese“ – „getroffen“ sei. Triumphtöne klingen an, wenn er fortfährt:
„Der mächtigste Konzern der Welt ist einer Macht unterlegen, die keine Truppen hat. Der Europäische Gerichtshof setzt den Bürger in den Mittelpunkt und dem Internetsuchdienst Google Grenzen.“
Kein pauschaler Löschanspruch gegenüber Google
Er schreibt auch, „[j]eder Betroffene hat einen Anspruch gegen Google auf Löschung sensibler Daten.“ Dies ist zu unscharf. Der Anspruch bezieht sich nur auf bestimmte Daten und nur auf die Ergebnisliste. Ebenfalls inexakt ist Mathias Müller von Blumencron, wenn er ebenfalls in der FAZ schreibt, dass es nun „doch ein Recht auf Vergessen werden im Internet“ gibt. Nein: das gibt es nicht.
Gleich daher an dieser Stelle: Wenn Informationen „in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls“ nicht mehr zweckerheblich verarbeitet werden, müssen „die betreffenden Informationen und Links [aus] der Ergebnisliste gelöscht werden“ (Absatz 94). Dieses Recht des Einzelnen ist abzuwägen gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers und „dem Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, die Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche zu finden“. Wobei solch eine Situation aber die Ausnahme sein werde, da besondere Gründe, wie die „Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben“ vorliegen müssten, die den Schluss zulassen, dass ein Eingriff in die Grundrechte dieser Person durch ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an ihr gerechtfertigt sei (Abs. 97).
Die konkreten Auswirkungen des Urteils sind naturgemäß unklar. Ein Indiz dafür, dass sich nicht viel ändern wird, könnte die Tatsache sein, dass es nach dem Autocomplete-Urteil des Bundesgerichtshofs keine Klagewelle gegen Google gegeben habe, wie die FAZ einen Anwalt zitiert.
Anlass zum Google-Bashing?
Das große mediale Echo des Urteils versteht man vor dem Hintergrund der in den letzten Wochen geführten Debatte um die Rolle von Google. Nachdem Mathias Döpfner im Feuilleton der FAZ in Reaktion auf ein Selbstlob Eric Schmidts leicht larmoyant nach staatlicher Regulierung rief, begann eine doch bemerkenswerte Diskussion um die Rolle von Google in der Informationsgesellschaft. Überschriften wie „Angst vor Google“, „Google ou la route de la servitude“, „Warum wir Google fürchten” , „Die Google-Gefahr“, „Dark Google“ schafften ein Klima, in dem nur schwer sachlich argumentiert werden konnte.
Harvard-Professorin Shoshana Zuboff etwa warf Google neo-absolutistische Machtfülle vor und schrieb „[o]ur demands for self-determination are not easily extinguished. We made Google, perhaps by loving it too much.” Zu viel Liebe für Google kann man dem Feuilleton zur Zeit nicht vorwerfen. Besser aber als grundsätzliche Kritik sind Diskussionen über Alternativentwürfe, wie einen freien Web-Index.
Was sagt das Urteil wirklich?
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs hat mit Urteil vom 13. Mai 2014 (Rechtssache C-131/12, Google Spain und Google) die Rechte von Bürgern im Internetzeitalter maßgeblich gestärkt. In einem 2012 von der spanischen Audiencia Nacional initiierten Vorabentscheidungsverfahren zur Auslegung von Artikel 2 Datenschutzrichtlinie (95/46/EG) und den Grundrechten auf Datenschutz und Achtung der Privatsphäre wies der Europäische Gerichtshof Google an, erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um bestimmte personenbezogene Daten aus dem Index der Suchmaschine zu entfernen und den „Zugang zu diesen Daten in Zukunft zu verhindern“ (Absatz 2).
Mario Costeja González hatte vor der AEPD Beschwerde gegen La Vanguardia, eine katalonische Zeitung, Google Spain und Google Inc. erhoben, da eine Google-Suche nach seinem Namen (‚Namenssuche‘) zu Links auf zwei Artikel aus der Zeitung vom 19.1. und 9.3.1998 führt, in denen unter Nennung seines Namens auf die Zwangsversteigerung eines Grundstücks hingewiesen wird. Die Audiencia Nacional, vor der das Verfahren landete, ersuchte den Europäischen Gerichtshof um Klärung der Verpflichtungen von Suchmaschinenbetreibern hinsichtlich des Schutzes personenbezogener Daten im Lichte von Grundrechte-Charta und Datenschutzrichtlinie und der Tragweite des „Rechts auf Vergessenwerden“.
Erhebliche Gefahr für Grundrechte
Zunächst wies der Europäische Gerichtshof Googles Argument zu Artikel 2 (b) RL 95/46 zurück, dass Suchmaschinen keine Daten verarbeiteten, da sie nicht zwischen personenbezogenen Daten und anderen Informationen unterschieden (Abs. 22).
Der Suchmaschinenbetreiber sei auch „für die Verarbeitung Verantwortlicher“ im Sinne des Artikels 2 (d) der Richtlinie (Abs. 33), zumal Suchmaschinen „maßgeblichen Anteil an der weltweiten Verbreitung personenbezogener Daten“ hätten. Ohne sie würden nach bestimmten Namen Suchende diese Informationen nicht finden (Abs 36). Dies gefährde Grundrechte „erheblich“; und deshalb hätten Suchmaschinenbetreiber in ihrem „Verantwortungsbereich im Rahmen [ihrer] Befugnisse und Möglichkeiten“ dafür zu sorgen, dass grundrechtliche Garantien ihre volle Wirksamkeit entfalten können (Abs. 38).
Hinsichtlich der räumlichen Anwendbarkeit der Richtlinie betonte der Europäische Gerichtshof, dass der Unionsgesetzgeber aus Schutzgründen einen besonders „weiten räumlichen Anwendungsbereich“ vorgesehen habe (Abs. 54) und daher Verarbeitungen von personenbezogener Daten „im Rahmen der Tätigkeiten“ einer Niederlassung nicht dadurch ausgeschlossen werden können, dass die Verarbeitung selbst außerhalb des Territoriums – etwa in den USA – durchgeführt werde. Es reiche aus, wenn der Suchmaschinenbetreiber aus wirtschaftlichen Erwägungen eine Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft gegründet habe, „deren Tätigkeit auf die Einwohner dieses Staates ausgerichtet“ sei. Wo die konkrete Verarbeitung der Suchanfrage stattfinde, könne dahingestellt bleiben.
Link-Löschpflicht für Google
Die zentrale Kontroverse lag allerdings im Umfang der Verantwortlichkeit des Suchmaschinenbetreibers nach der Richtlinie 95/46 – insbesondere in der Frage, ob Suchmaschinenbetreiber dazu verpflichtet werden können, Links zu Webseiten Dritter mit Informationen zu einer bestimmten Person zu entfernen, auch wenn Name und Informationen auf dieser Webseite nicht vorher oder gleichzeitig gelöscht würden und wenn ihre Veröffentlichung auf den Internetseiten des Dritten als solche rechtmäßig sei (Abs. 62).
Google war dagegen der Ansicht, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebiete, dass Löschungsanträge an den Herausgeber der betreffenden Website zu richten seien (Abs. 63). Diesem Ansatz folgte der Europäische Gerichtshof nicht. Detail am Rande: Als einzige Regierung vertrat die österreichische die Auffassung, dass Löschungsanordnungen an Suchmaschinen nur möglich seien, wenn die betreffenden Daten „rechtswidrig oder unzutreffend seien“ oder schon von der ursprünglichen Website gelöscht wurden (Abs. 64).
Der Europäische Gerichtshof betont, dass die Richtlinie 95/64 im Lichte der Grundrechte auszulegen sei und insbesondere Artikel 7 (Recht auf Achtung des Privatlebens) und Artikel 8 der Grundrechte-Charta (Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten) zu beachten seien (Abs. 68f). Die durch Suchmaschinenanbieter ausgeführte Verarbeitung persönlicher Daten könne die Grundrechte auf Privatsphäre und Datenschutz „erheblich beeinträchtigen“, da Namenssuchen einen „strukturierten Überblick“ über Informationen zu dieser Person ermöglichen. Außerdem verleihe die gesellschaftliche Funktion des Internets den Suchergebnissen Ubiquität (Abs. 80).
Gesucht: Angemessener Interessensausgleich
Allerdings sei ein angemessener Ausgleich zwischen dem „berechtigte[n] Interesse von potenziell am Zugang zu der Information interessierten Internetnutzern“ und den Grundrechten der betroffenen Person aus den Artikel 7 und 8 der Charta zu finden. „[I]m Allgemeinen“ würde dieser Ausgleich zugunsten der gesuchten Person ausgehen, in „besonders gelagerten Fällen“ könne er aber „u.a. je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt“ variieren (Abs. 81).
Das Fazit des Europäischen Gerichtshofs daher: Suchmaschinenbetreiber könnten von Datenschutzbehörden angewiesen werden, aus der Ergebnisliste von Namenssuchen Links zu Seiten von Dritten mit Informationen über diese Person zu entfernen (Abs. 82, 88).
Ein Recht auf Vergessenwerden?
Hinsichtlich des Rechts auf Vergessenwerden verweist der Europäische Gerichtshof darauf, dass die rechtmäßige Verarbeitung sachlich richtiger Daten durch Zeitablauf unrechtmäßig werden könne, wenn der Zweck wegfalle oder in Anbetracht der verstrichenen Zeit die Erheblichkeit der Daten für den Ursprungszweck sinke (Abs. 93). Hier sei eine Einzelfallprüfung vorzunehmen: Wenn die Informationen „in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls“ nicht mehr zweckerheblich verarbeitet wird, müssen „die betreffenden Informationen und Links der Ergebnisliste gelöscht werden“ (Abs. 94). Dies sei ein Recht der betroffenen Person, wobei ein Schadensnachweis nicht nötig sei (Abs. 96).
Verabsolutiert dürfe das Recht nicht werden: Es sei abzuwägen gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers und „dem Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, die Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche zu finden“. Solch eine Situation werde aber die Ausnahme sein, denn der Europäische Gerichtshof verlangt besondere Gründe wie die „Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben“ , die den Schluss zulassen, dass ein Eingriff in die Grundrechte dieser Person durch ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an ihr gerechtfertigt sei (Abs. 97).
Im Anlassfall sei die Information sensibel, die Veröffentlichung liege 16 Jahre zurück und keine besonderen Gründen lägen vor, die ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit rechtfertigten (Abs. 98). Daher müsse Google den Link löschen.
Überraschende Wende
Dieses Ergebnis überraschte auch, weil noch die Schlussanträge des Generanwalts Niilo Jääskinen vom 25.6.2013 zu einem gegenteiligen Ergebnis gekommen waren. Er wies ein allgemeines Recht auf Vergessenwerden mit starken Worten („käme einer Geschichtsverfälschung gleich“) zurück (Abs. 108 und 129). Vielmehr habe der Internetnutzer ein Recht auf Zugang zu dieser Information: Dieser „mache aktiv von seinem Recht auf Empfang von Informationen über die betroffene Person aus öffentlichen Quellen Gebrauch“ (Abs. 130).
Auch der Internetsuchmaschinen-Diensteanbieter mache Gebrauch von seiner unternehmerischen Freiheit und von der Freiheit der Meinungsäußerung (Abs. 132). Einem Recht auf Vergessenwerden, so Generalanwalt Jääskinen, würden entscheidende Rechte wie die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit geopfert.
Grundrechtliche Geschichtsmassage
In der Tat stellt die Kollision verschiedener Grundrechtspositionen hinsichtlich des Zugangs zu Informationen gerade im Internet eine Herausforderung dar. Die Konstruktion historischer Wahrheiten auf Grundlage einer gesellschaftlichen und privaten Selektion aus einem Speicher der Erinnerungen verlangt zumindest einmal einen einigermaßen unverfälschten Speicher. Allerdings übersieht Generalanwalt Jääskinen, dass ja nicht Geschichtsfälschung betrieben wird: Auch weiterhin kann jeder Interessierte im Archiv von „La Vanguardia“ sämtliche Zeitungsseiten bis ins 19. Jahrhundert konsultieren. Die Löschung des Links bedeutet bloß, dass die Verknüpfung zum Namen nicht mehr so leicht fällt.
Dies entspricht durchaus der sozialisierenden Funktion des Vergessens, die ja auch teils strafrechtlich bewehrt ist. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, die im Ergebnis stimmig ist und der gerade in Hinblick auf die wachsende Bedeutung des Grundrechtsschutzes im Internet zuzustimmen ist, verbleibt teilweise kryptisch. Der Kriterienkatalog für Gegenausnahmen von der Löschpflicht – „u.a. je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt“ – verbleibt sehr schemenhaft. Man vermisst auch klare Äußerungen zur grundrechtlichen Position der Internetdiensteanbieter, die zuletzt vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Delfi unter Beschuss genommen wurden.
Der Internetrechtler Viktor Mayer-Schönberger argumentiert in „Delete“, dass Informationen im Internet nach einer Zeit gelöscht werden sollten, um Vergessen zu simulieren. Mit der Löschpflicht für Links hat der Europäische Gerichtshof dem Konzept der „expiration dates for information“ eine grundrechtssensiblere Alternative zur Seite gestellt.
Nur die Zeit wird zeigen, ob das Urteil als Einfallstor für „Geschichtsmassage“ missbraucht wird und ob auch Unternehmen beginnen werden, mithilfe des Europäischen Gerichtshofs ihr Auftreten in Google zu optimieren. Bei Löschansprüchen für schlechte Reviews von Restaurants zum Beispiel wird aber wohl regelmäßig das öffentliche Interesse dominieren.
Ganz so schnell arbeitet Google übrigens nicht. Am 13.5., um 15:30 Uhr lieferte eine Namenssuche nach „Mario Costeja Gonzalez“ über Google Search den Link auf die inkriminierte Seite im „La Vanguardia“-Archiv immer noch als dritten Treffer. Aber eines wird Herrn Costeja freuen: Der erste Treffer ist nunmehr das Urteil, das ihm Recht gibt.
Nachtrag: Auch am 14.5., 12:00 Uhr, ist der Link noch zu sehen. Diesmal als vierter Treffer.
Dr. Matthias C. Kettemann ist Post-Doc-Fellow am Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“ der Universität Frankfurt, Universitätsassistent am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Karl-Franzens-Universität Graz und arbeitet zu den Themen Internet Governance, Regulierung, Menschenrechte und Völkerrecht. Dieser Beitrag erschien zuerst bei International Law and the Internet – Crosspost mit freundlicher Genehmigung von Matthias C. Kettemann.
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