Öffentlichkeit kennt keine beschränkte Teilnehmerzahl
Den EU-Institutionen wird häufig ein Öffentlichkeitsdefizit attestiert, ihre Vertreter haben dies mitunter selbst eingestanden. Auch der Verfassungsrechtler Dieter Grimm und Politologen wie Fritz Scharpf oder Peter Graf von Kielmansegg haben diese Einsicht schon Mitte der neunziger Jahre bestätigt. 2009 versprach Claus Haugaard Sørensen, Generaldirektor für Kommunikation bei der Europäischen Kommission, mit der weiteren Verbreitung des Internets werde auch die lang erwartete europäische Öffentlichkeit kommen.
Doch nun machte der Europäische Gerichtshof Haugaard Sørensen und der europäischen Öffentlichkeit einen Strich durch die Rechnung: Rechtmäßige, öffentliche Daten dürfen öffentlich bleiben, aber in Europa bitte nicht allzu öffentlich. Das Gericht entschied letzte Woche im Rechtstreit des Herrn Mario Costeja González gegen Google Spain. Die Suchmaschine habe „die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Herrn Costeja González betreffende personenbezogene Daten aus ihrem Index zu entfernen und den Zugang zu diesen Daten in Zukunft zu verhindern.“ Diese Daten waren personenbezogen, aber zugleich rechtmäßig in der spanischen Zeitung „La Vanguardia“ veröffentlicht.
Weil sie zulässig publiziert wurden – ja, im vorliegenden Fall sogar publiziert werden mussten, durften sie auch nicht gelöscht werden, auch wenn Costeja González es gerne gehabt hätte. Kurzum, die Daten dürfen nicht gelöscht werden, sie sind öffentlich. Eigentlich. Dennoch soll der Zugang zu diesen Daten eingeschränkt und nur über die Zeitung selbst ermöglicht werden. Somit sollen sie europaweit nur für eine kleinere Öffentlichkeit zugänglich sein.
Öffentlichkeit kennt keine feste Grenze
Ein Merkmal der Öffentlichkeit ist, dass sich ihre Grenzen zwar gegenüber der Privatsphäre und dem Individuum definieren lässt. Umgekehrt aber ist ihre Reichweite nicht bestimmbar. Mit anderen Worten: Man kann ihr keine maximale Grenze vorschreiben. Der Sinn von öffentlichen Daten liegt darin, allgemein zugänglich zu sein – nicht allgemein eingeschränkt zugänglich. Eine eingeschränkte Allgemeinheit ist ein Widerspruch. Wie groß oder klein die von der Presse berechtigt erzeugte Öffentlichkeit ist und sein kann, darf nicht gesetzlich eingeschränkt werden.
Der erste Absatz von Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, auf den sich das Urteil indirekt bezieht, garantiert die Freiheit der Meinung und die Freiheit „Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben“. Weiterhin heißt es im zweiten Absatz „Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet“.
Allgemeiner Vorrang von Privatsphäre und Datenschutz
Mit seinem Urteil negiert der Europäische Gerichtshof im Ergebnis alle drei Punkte: Da die Rechte auf Privatsphäre und Datenschutz „im Allgemeinen“ gegenüber dem Interesse der Allgemeinheit überwiegen sollen (Randnummer 81), stellt das Gericht somit berechtigte öffentliche Daten unter die Aufsicht einer Behörde. Denn Artikel 8 (Recht auf Schutz personenbezogener Daten) autorisiert Datenschutzbehörden, die Einhaltung dieses neu festgestellten Vorrangs des Datenschutzes vor der Meinungsfreiheit zu überwachen; sowohl bei privaten als auch dann bei öffentlichen Daten.
Der Öffentlichkeit wird – da die Daten nicht gelöscht werden, sondern nur die Indexierung bei Google – eine virtuell-räumliche oder funktionale Grenze gesetzt. Die Freiheit der Medien wird insofern eingeschränkt, als sie ihre Reichweite nicht über die Auffindbarkeit in Suchmaschinen erweitern können. Die Öffentlichkeit kann damit außerhalb der Presse-Domains ein rechtmäßig öffentliches Datum nicht mehr auffinden.
Mit der Veröffentlichung des Urteils begibt sich der Europäische Gerichtshof zugleich in einen unfreiwillig komischen, performativen Widerspruch: Denn im Gegensatz zu Urteilsveröffentlichungen in Deutschland wird beim Europäischen Gerichtshof der Name nicht geschwärzt – so auch hier, obgleich der Name des Klägers für den Sachverhalt nicht relevant ist. Herr González wird über Google entweder dauerhaft im Zusammenhang mit dem Urteil und dem zugrundeliegenden Sachverhalt im Internet zu finden sein. Oder das Urteil wird für die Öffentlichkeit über Google nie auffindbar sein, wenn Herr González auch die Löschung der Indexierung dieser personenbezogenen Daten bewirken sollte.
Grundrechte: EuGH vs. nationale Gerichte
Die Mitgliedstaaten in der EU legen bislang selbständig das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit aus. Das Äußerungs- und Presserecht ist auch national geregelt. Inwiefern andere Grundrechte das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit rechtmäßig oder -widrig einschränken, wurde bisher nicht vom Europäischen Gerichtshof festgestellt, sondern von den jeweiligen nationalstaatlichen Gerichten.
Dies wiederum wirft auf die Feststellung des EuGHs, nach der die Grundrechte (!) auf Privatsphäre und Datenschutz im Allgemeinen gegenüber dem – bloßen? – „Interesse“ der Öffentlichkeit auf Informationszugang überwiegen, ein ganz anderes Licht. Sichert sich der EuGH damit ein Mitspracherecht in Fragen der Meinungsfreiheit und beansprucht er auch insoweit den Grundrechtsschutz? Oder handelt es sich nur um ein Abwägungsinteresse unter anderen? Folgt er der Prämisse, dass Grundrechte gleichberechtigt nebeneinander stehen oder schafft er eine Rangfolge?
Privatisierung des Öffentlichen
Zeitungen schreiben nicht für die Schublade; sie wollen und suchen eine möglichst breite Öffentlichkeit. Auch ihre Archive wahren das Interesse der Allgemeinheit. Dank der Digitalisierung und der Indexierung über Suchmaschinen können Zeitungen und Archive eine Öffentlichkeit erreichen, die über die geographischen Grenzen ihrer Verbreitung hinwegreicht – nicht zuletzt auch mit Suchmaschinenoptimierung, über die Zeitungen ihre Inhalte besser sichtbar machen konnten. Der Zugang zu Archiven als ehemaliges Arkanprivileg wurde dank Suchmaschinen allgemein möglich. Sind Informationen in Suchmaschinen nicht mehr auffindbar, werden sie digital verstauben.
Öffentlichen Daten ein Haltbarkeitsdatum zu setzen – wie es das Gericht in diesem Fall praktisch getan hat – läuft auf eine Privatisierung des Öffentlichen hinaus. Das Private existiert nur, wenn auch das Öffentliche existiert. Demokratische Gesellschaften bedürfen beider Sphären, um die Balance zwischen Kollektivität und Individualität herzustellen. Zugleich zerfransen die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichen mit der Zeit. Private Daten können mit der Zeit von öffentlichem Interesse sein, wie etwa die Liebesbriefe aus den Schützengräben des ersten Weltkrieges.
Auch ein Gebot des Vergessens öffentlicher Ereignisse ist nicht neu und bereits aus Friedensverträgen in der Antike bekannt. Dennoch wurden diese offizielle Vergessens-Gebote von der Geschichtsschreibung, der Kunst und der Literatur früher oder später überholt. Demokratische, liberale Gesellschaften haben dieses Gebot umgewandelt, nachdem sie erkannten, dass ein Zwang des Vergessens inkompatibel mit dem liberalen Konzept der Demokratie ist – es sei denn in den Ausnahmefällen von Verjährung und Amnestie.
Dass das Private vor dem Öffentlichen geschützt werden soll, wird zurecht häufig in letzter Zeit gefordert. Dass auch das Öffentliche vor dem Privaten geschützt werden soll, wurde offenbar vergessen. Auch vom Europäischen Gerichtshof.
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