YouTube vs. GEMA: Philip Stade über Musik und Urheberrecht im digitalen Kapitalismus
„Dieses Video ist in Deutschland leider nicht verfügbar.“ Ein Satz, wie er bis vor einigen Jahren bei zahllosen gesperrten YouTube-Videos mit Musikspur zu lesen war. Der unglückliche Smiley aus dem YouTube-Logo wurde zum Symbol für den Streit zwischen der US-amerikanischen Streaming-Plattform und der deutschen Verwertungsgesellschaft GEMA (iRights.info berichtete mehfach darüber, etwa 2009 oder 2012).
Der Streit ging über mehrere Jahre und wirkte mitunter festgefahren, weil sich die beiden Parteien lange nicht darüber einig werden konnten, wie die Vergütung eines Videoabrufs mit Musik aus dem GEMA-Repertoire aussehen solle. 2016 schließlich einigten sich die beiden Parteien auf eine Lösung. Der Vertragsinhalt und die genaue Höhe der – auch nachträglich von Google beziehungsweise YouTube zu zahlenden – Vergütung wurde allerdings nicht öffentlich bekannt (iRights.info berichtete).
Der Musikwissenschaftler Philip Stade hat den Konflikt zwischen YouTube und der GEMA über mehrere Jahre hinweg studiert und genaustens analysiert. Seine Studie hat Stade kürzlich veröffentlicht. Anlässlich der Buchveröffentlichung hat sich Georg Fischer mit dem Autor unterhalten.
iRights.info: Du bist Musikwissenschaftler und hast Dich intensiv mit der GEMA und ihrem Verhältnis zu YouTube befasst. Für die Musikwissenschaft ein ungewöhnliches Thema: Was hat Dich daran so fasziniert?
Philip Stade: Allerdings, das ist in der Musikwissenschaft ein eher ungewöhnliches Thema. Ich habe mich gegen Ende meines Studiums mit dem Urheberrecht auseinandergesetzt, weil das in den Jahren 2012 und 2013 ein sehr umkämpftes Feld war. Der digitale Wandel führte zu immer mehr Konflikten. Es gab zu der Zeit zum Beispiel Unterschriften-Aktionen wie „Wir sind die Urheber“ oder Sven Regeners „Wut-Rede“, die Piratenpartei war viel in den Medien und allgemein wurde online sehr viel über das Urheberrecht gestritten. Es gingen sogar viele Menschen auf die Straße gegen ACTA.
Und weil es ja immer auch um Musik ging, hatte ich das Bedürfnis, diese Thematik näher zu untersuchen. Ich habe angefangen über Musik und Urheberrecht zu bloggen und das zusammen mit Twitter als Lern- und Austauschplattform schätzen gelernt. Und daraus ist dann die Idee entstanden, eine interdisziplinäre Diskursanalyse im Feld zwischen Musikwirtschaft, Urheberrecht und Kapitalismus im digitalen Wandel zu schreiben.
Philip Stade, Musikwissenschaftler und Gymnasiallehrer, unter anderem für Musik. Im Frühjahr 2021 erschien sein Buch „YouTube vs. GEMA. Musik und Urheberrecht im digitalen Kapitalismus“ im Büchner-Verlag, der Titel ist auch als kostenlose Open-Access-Variante erhältlich. Stade zeichnet den Konflikt zwischen der Verwertungsgesellschaft GEMA und der Streamingplattform YouTube detailliert nach und analysiert, warum er sich so hochschaukeln konnte.
YouTube und GEMA: Unterschiedliche Strategien, um den Diskurs zu beeinflussen
Du hast die öffentliche Debatte um GEMA/YouTube genauestens analysiert, die spätestens seit den Sperrtafeln ziemlich hitzig geführt wurde: Was hast Du dabei herausgefunden?
Ich habe mir den Online-Diskurs vorgenommen und versucht, diesen zu analysieren. Ich verstehe meine Forschungsarbeit zunächst einmal als eine Archivarbeit, weil viele Aspekte durch den digitalen Wandel flüchtiger werden und in Vergessenheit geraten. Gerade weil über die kürzlich beschlossene Urheberrechtsreform diskutiert wird, macht es Sinn, zurückzuschauen. Schon beim Konflikt zwischen YouTube und GEMA ging es auch um die Upload-Filter.
Mehrere Dinge habe ich herausgefunden: YouTube und GEMA setzten unterschiedliche Strategien im Diskurs ein. YouTube arbeitete mit Personalisierungen, forderte Transparenz, zeigte sich stets offen für Gespräche und bezog sich auf den freien Markt. Das Framing der Sperrtafeln verstärkte die Position, dass die GEMA schuld an den Sperrungen sei. Außerdem gab es Bezüge zu historisch gewachsenen Diskurskoalitionen gegen die GEMA (etwa aufgrund früherer Konflikte, siehe zum Beispiel hier, Anm. d. Red.), was die Grundlage bildete für das „GEMA-Bashing“, das ich in Online-Kommentaren wiederfinden konnte.
Und wie ging die GEMA vor?
Die GEMA konnte mit ihren Bezugspunkten Urheberrecht und Gerechtigkeit nur vereinzelt eigene Wertvorstellungen in den Vordergrund stellen. Vielmehr bestand die Strategie der GEMA darin, das eigene Imageproblem festzustellen und eine Erzählung von „David gegen Goliath“ zu versuchen. Insgesamt blieb die GEMA im internationalen Vergleich und trotz einem enormen öffentlichen Druck sehr lange standhaft und ging auch mehrmals vor Gericht. Übergeordnet zeige ich damit, dass mittlerweile nicht mehr das Urheberrecht in Form der GEMA, sondern eher der digitale Plattformkapitalismus in Form von YouTube eine hegemoniale Vormachtstellung innehat. Das macht es für die Verwertungsgesellschaft schwer, Menschen zu mobilisieren.
Was könnte die Verwertungsgesellschaft tun?
Das ist keine leichte Frage. In meiner Arbeit zeige ich, dass das Urheberrecht nicht erst seit der Jahrtausendwende in Teilen der Bevölkerung kein gutes Image hat. Der digitale Wandel führte zu Abmahnungen fürs Filesharing, Diskussionen zu Upload-Filtern und vielen offenen Fragen im Urheberrecht, zum Beispiel zum Thema Remix. Die GEMA ist in der öffentlichen Wahrnehmung eng mit diesem Urheberrecht [und den damit verbundenen Nutzungsbeschränkungen, Anm. d. Red.] verknüpft. Daher ist ihr Handlungsspielraum im Diskurs nicht besonders groß.
Dennoch sehe ich Chancen mit transparenten Ausschüttungsverfahren, wie einer von der GEMA angedachten Blockchain, das Image der GEMA positiv zu beeinflussen. Dass es nicht leicht ist für Musiker*innen über ihre Finanzen zu sprechen oder warum sie das Urheberrecht und die GEMA für wichtig erachten, führe ich ebenfalls in der Arbeit anhand von Sven Regeners bekannter „Wut-Rede“ aus. Das Ganze ist also eine vielschichtige Sache.
Verwertungsgesellschaften
Verwertungsgesellschaften verwalten Nutzungsrechte und Vergütungsansprüche an den Werken von Urheber*innen. Werden die Werke wirtschaftlich genutzt, sammeln sie meist pauschale Abgaben ein, zum Beispiel die „Bibliothekstantieme“ für das Verleihen von Büchern oder die „Leermedienabgabe“ für privates Kopieren. Die Einnahmen schütten sie an Urheber und zum Teil an andere Rechteinhaber aus. Bekannte Einrichtungen sind etwa die GEMA, die VG Bild-Kunst oder die VG Wort. Mehr zum Thema.
In Deiner Arbeit unterscheidest Du grundlegend zwischen dem journalistischen und dem in den Sozialen Medien geführten Diskurs zum Thema. Warum ist diese Unterscheidung so wichtig?
Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass journalistische Medien und Soziale Medien immer mehr ineinanderfließen. Beispiele dafür sind, dass man unter Artikeln einer Online-Zeitung kommentieren kann oder dass in sozialen Netzwerken journalistische Kanäle entstehen. In meiner Arbeit untersuche ich, wie die Ebenen zusammenwirken. Einerseits konnte ich zeigen, wie in Kommentaren von Privatpersonen die Argumente der Akteure YouTube und GEMA aufgegriffen werden. Die Rolle der journalistischen Medien ist dabei, die Äußerungen der institutionellen Akteure zu vermitteln und einzuordnen. Andererseits greifen die GEMA und auch Online-Zeitungen Stimmungen in Sozialen Medien auf, wenn etwa das Imageproblem der GEMA angesprochen wird. Schließlich zeige ich auch, was für besondere Dynamiken in Sozialen Medien entstehen können, die bis zum „GEMA-Bashing“ führen.
„Verwertungsgesellschaften werden in einem digitalen Musikstreamingmarkt eine immer wichtigere Rolle spielen“
Die Umsetzung der Urheberrechtsreform in deutsches Recht wurde kürzlich beschlossen, ab August bereits soll das neue Gesetz gelten. Auch die Verwertungsgesellschaften waren in dem politischen Aushandlungsprozess beteiligt, haben die Interessen der Urheber*innen eingebracht und vertreten. Wie siehst Du als Beobachter die Rolle der Verwertungsgesellschaften in der Reform?
Verwertungsgesellschaften werden in einem digitalen Musikstreamingmarkt eine immer wichtigere Rolle spielen, weil die Bezahlung von Urheber*innen nur über kollektive Rechtewahrnehmung funktioniert. Wenn man sich die Stellungnahmen von der GEMA und YouTube zum aktuellen Gesetzgebungsverfahren fürs Urheberrecht anschaut, wird klar, dass viele Fragen aus dem YouTube-GEMA-Konflikt heute weiterhin diskutiert werden: Umgang mit Formen der Pastiche, neue Schranken oder generell die Verantwortung der Diensteanbieter. Und die Verwertungsgesellschaften versuchten möglichst gute Änderungen für ihre Mitglieder zu erzielen – was ja auch ganz klar ist. Genauso äußerten Google und YouTube ernsthafte Bedenken zum „Pre-Flagging“. Als Diskursanalytiker zeigt sich mir in der jetzt beschlossenen Urheberrechtsreform also das jahrelange Ringen um Macht.
Schauen wir uns die andere Seite an: YouTube beziehungsweise Google. Einige Jahre später und mit etwas Distanz: Wie ist YouTube aus dem GEMA-Konflikt herausgegangen: Gestärkt oder mit einem blauen Auge?
YouTube konnte sich insofern durchsetzen, als dass die Einigung der beiden Parteien geheim gehalten wird. Auch das Image von YouTube und Google scheint wenig gelitten zu haben. Was die Abrufzahlen angeht, ist YouTube im Musikvideo-Bereich weiterhin Spitzenreiter, der lange Streit mit der GEMA scheint also kein Problem für die Plattform gewesen zu sein. Aber YouTube ist mit sich ständig ändernden Diensten wie „YouTube Music“ trotzdem auf der Suche nach Wachstum im Musikstreaming-Markt. Hier sind Plattformen wie Spotify erfolgreicher. Welche Rolle der Konflikt mit der GEMA dabei spielte, lässt sich aber nicht abschätzen.
Zum Image-Problem der GEMA, das Du auch schon angesprochen hast: Die Verwertungsgesellschaft wird immer wieder dafür kritisiert, dass niemand durch ihren Tarifdschungel blickt. Wie stehst Du dazu? Ist die GEMA offen und verständlich genug?
Mehr Transparenz und Einfachheit für die GEMA klingen erstmal gut. Aber letztlich bleibt das Urheberrecht und die Verwertung ein komplexes Themenfeld. Der Rechtswissenschaftler Karl-Nikolaus Peifer hat in einem Interview mit mir gesagt, dass einfachere Verfahren nicht unbedingt für mehr Gerechtigkeit sorgen. Das sehe ich auch so. Im Grunde stehen wir daher vor einer riesigen Herausforderung, die schon im YouTube-GEMA-Diskurs wiederholt angesprochen wurde: Einerseits ist das Urheberrecht ein Expert*innen-Thema. Andererseits sind heute viel mehr Menschen mit urheberrechtlich relevanten Inhalten in Kontakt und alle können ihre Meinungen in Sozialen Medien kundtun. Dazwischen zu vermitteln ist total schwierig. Hier gehört es dazu, verständlich und offen zu kommunizieren, um Vertrauen zu gewinnen, was für eine Verwertungsgesellschaft wie die GEMA ohne enorme Marketing-Budgets sicherlich schwierig ist. Der Tarifrechner auf der GEMA-Webseite ist aber wie ich finde ein gutes Beispiel, wie niederschwellig und einfach kommuniziert werden kann.
„Für Musiker*innen ist das Thema Urheberrecht eine ambivalente Angelegenheit.“
In Deiner Arbeit bringst Du einige Beispiele, wie Musiker*innen auf die Urheberrechtsstreitigkeiten reagieren und sich teils selbst zu Wort melden, wie etwa Deichkinds „Illegale Fans“ oder die bereits angesprochene Wutrede von Sven Regener. Wie siehst Du denn die Stellung der Musiker*innen in diesem Konflikt?
Für Musiker*innen ist das Thema Urheberrecht eine ambivalente Angelegenheit. Einerseits gibt es wenige professionelle musikalische Urheber*innen, die auf ihre GEMA-Einnahmen verzichten wollen. Andererseits äußern sich nur wenige in der Öffentlichkeit zu dem Thema. Deichkinds „Illegale Fans“ war eine Hymne fürs illegale Downloaden, während sich Sven Regener in seiner Wutrede lautstark für den Urheberrechtsschutz aussprach und mehr Respekt für geistiges Eigentum forderte. Regener sagte damals, dass man schnell als uncool dastehen würde, wenn man als Musiker*in über Geld rede. Das erklärt auch, warum sich nur wenige Musiker*innen zu ihren Einnahmen aus Streamingdiensten wie Spotify äußern. Insgesamt lässt sich daran gut erkennen, welche Macht solche Diskurse ausüben.
Wo siehst Du GEMA und YouTube in zehn Jahren? Welche Konflikte sind gelöst, welche geblieben, welche neu hinzugekommen?
Zehn Jahre sind im digitalen Wandel eine Zeitspanne, in der unglaublich viel passieren wird. Ich schätze, dass zum Beispiel auf der Blockchain basierende Tantiemen einerseits für mehr Transparenz sorgen werden. Andererseits ist zu befürchten, dass der digitale Kapitalismus wenige Plattformen noch mehr stärken wird. YouTube – wenn es die Plattform noch in 10 Jahren gibt – wird Diskurse vermutlich noch stärker beeinflussen können und wer weiß, wie Musikschaffende dann noch beteiligt werden. Wie sich die Upload-Filter auswirken werden, ist aus meiner Sicht auch schwierig abzuschätzen. Vermutlich diskutieren wir in zehn Jahren einfach wieder über neue Reformen des Urheberrechts, weil es ganz neue Musikplattformen geben wird.
Hast Du eine Vorstellung davon, wie solche neuen Plattformen aussehen beziehungsweise was sie leisten könnten?
Ich schätze, dass zum Beispiel auf virtuellen Konzerten mit Augmented Reality neue Formen der Interaktion zwischen Musiker*innen und den Hörenden möglich sein werden. Wenn ich mir die Fortschritte der künstlichen Intelligenz in den letzten Jahren anschaue, wird bestimmt auch immer mehr Musik von Algorithmen komponiert oder neuartig zusammengefügt. Das wird das Urheberrecht und die Plattformen sicherlich vor neue Herausforderungen stellen. Ich hoffe sehr, dass viele Musikschaffende in Zukunft von ihrer Musik leben können, aber faire und genossenschaftlich organisierte Musikstreamingdienste wie Resonate haben es anscheinend schwer, sich gegen die etablierten, mächtigen Plattformen durchzusetzen.
Zum Weiterlesen: Philip Stade, „Youtube vs. GEMA. Musik und Urheberrecht im digitalen Kapitalismus“, 376 Seiten, erschienen im Büchner-Verlag 2021. Erhältlich für 34,- € sowie als kostenlose Open-Access-Variante. Das Interview führte Georg Fischer.
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