Was eine Bildungsschranke leisten müsste: Vier Grundsätze
Zu den wichtigsten Regelungen des Urheberrechts gehören die Schranken – Ausnahmeregelungen, die es ermöglichen, Werke ohne Zustimmung des Rechteinhabers zu nutzen. Besonders wichtig sind diejenigen für Zwecke der Bildung. Die Begründung liegt auf der Hand: Die Förderung von Bildung und Erziehung liegt im Interesse der Allgemeinheit; dieses Interesse sollte Vorrang haben vor den Exklusivrechten von Rechteinhabern. Worauf kommt es bei einer modernen Ausnahmeregelung des Urheberrechts im Bildungsbereich an? Hier soll es um vier Grundsätze gehen, auf der eine solche Ausnahmeregelung aufbauen sollte.
1. Art der Nutzung statt Art des Nutzers
Gesetzgebung über die Ausnahmen für den Bildungsbereich sollte sich nicht damit beschäftigen, wer ein Werk nutzt, sondern wofür es eingesetzt wird. Anders gesagt: Alle, die am Bildungsprozess teilhaben möchten, sollten gleich behandelt werden – unabhängig davon, ob es sich um öffentliche Universitäten, weiterführende Schulen, private Sprachschulen, örtliche Bildungsvereine oder Nichtregierungsorganisationen handelt. Die Ausnahmeregelegung könnte für jeden Einzelnen und alle Institutionen gelten, solange sie sich auf dem Gebiet des Lehrens und Lernens betätigen.
Die technologische Entwicklung bringt die Chance mit sich, den Bildungsprozess egalitärer und deutlich vielfältiger zu gestalten – das gilt heute weit mehr als noch vor zehn Jahren. Hier gilt es, die Gelegenheit am Schopf zu packen und auch außerschulische und andere informelle Bildungsprozesse unter die Sonderregelungen im Urheberrecht einzuordnen.
Lehrer und Lehrerinnen stehen heute vor einer schweren Aufgabe: Sie müssen dafür sorgen, dass Schüler mit ganz unterschiedlichem Lernverhalten standardisierte Lernziele erreichen. Sie müssen sich gleichzeitig selbst fortbilden und ihre Lehrfähigkeiten weiterentwickeln. Mit all dem und weitere Anforderungen konfrontiert, sollten sie im 21. Jahrhundert nicht noch genötigt sein, weitere Hindernisse wie einen mangelnden Zugang zu Unterrichtsmaterialien überwinden zu müssen. Viele dieser Materialien sind bequem im Netz erhältlich.
Wenn sich Pädagogen nach einer Stelle umsehen, sollte es für sie kein Kriterium sein müssen, welche Einrichtung es sich leisten kann, Nutzungsrechte für Lehrmaterialien zu erwerben, die sie in ihrem Unterricht einsetzen möchten. Die Qualität des Unterrichts sollte nicht davon abhängen, welche vertraglichen Vereinbarungen die Bildungsreinrichtungen mit den Verlagen aushandeln konnten. Den Lehrenden sollte ein großer Handlungsspielraum gewährt werden, um das Lehrmaterial so einsetzen zu können, wie es ihnen zum Erreichen der Lernziele jeweils am besten geeignet erscheint. Sie sollten sich keine Sorgen um Urheberrechte und mögliche Sanktionen bei Rechtsverstößen machen müssen. Heute haben wir diese Gelegenheit, dies zu ermöglichen – aber wir haben es noch nicht erreicht.
Im Netz ist auch eine der besten Möglichkeiten zu finden, eine Fremdsprache zu erlernen: Youtube. Lernende müssen sich keine exklusiven Bücher mit Sprach-CDs kaufen, die mit professionellen, von Schulbuch- und Wissenschaftsverlagen angeheuerten Sprechern aufgenommen wurden. Das ist unnötig, wenn sich für Lernende gute kostenlose Videos finden lassen, in denen die Sprache in ihrem natürlichen, alltäglichen Klang zu hören ist. Wenn nötig, kann man seiner Klasse einen Film über die Luchse im Nationalpark Bialowieza oder über die Sitka-Fichte Picea sitchensis aus Alaska zeigen, ohne eine DVD vom anderen Ende der Welt bestellen zu müssen. Das Urheberrecht sollte eben das ermöglichen – ganz gleich
- wer der Lehrende ist;
- wer die Schüler sind;
- wo die Videos laufen.
Eine Schranke zur Nutzung von urheberrechtlich geschützten Werken sollte nur eine Bedingung stellen: dass die Lehrenden die Materialien für Bildungszwecke einsetzen.
2. Technologieneutralität
Eine Ausnahmeregelung sollte keine Vorschriften in Bezug auf eine bestimmte Technologie machen, also technologieneutral sein. Es muss unerheblich sein, wie ein Werk technisch genutzt wird – beispielsweise als traditionelles Schulbuch oder in seiner elektronischen Form. Ebensowenig sollte es eine Rolle spielen, wie der Unterricht durchgeführt wird – das Urheberrecht muss berücksichtigen, dass zum Lernen heute auch E-Learning dazugehört.
Durch Initiativen wie edX und durch Lehrmaterialien, die von einzelnen Lehrern hochgeladen werden, kann Bildung heute wahrhaft global sein. Man kann per Internet an Kursen teilnehmen, die Tausende von Kilometern entfernt abgehalten werden. Das Urheberrecht sollte keinen Unterschied machen, ob ein Lehrender seinen Schülern höchstpersönlich die Arbeitsblätter austeilt oder ob die Aufgaben per E-Mail aus Polen nach Italien geschickt werden.
Den Schulen dürfen nicht die Hände darin gebunden sein, geschützte Materialien zu verwenden und Technologien zu nutzen, die zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen: Lehrende müssen die vielen neuen Ressourcen nutzen können, statt auf veraltetes Material und überholte Methoden beschränkt zu sein. Schulen können den Schülern beibringen, wie man Informationen findet und Fähigkeiten zum modernen Lernen entwickelt, statt dass sie selbst alle Informationen bereitstellen müssten. Wie kann man von den Schulen erwarten, künftige Generationen zu bilden, wenn man ihnen nicht die Möglichkeit einräumt, moderne Mittel zu nutzen, um sie aufs lebenslange Lernen und eine produktive berufliche Laufbahn vorzubereiten?
3. Klarheit
Es ist wichtig, dass die Ausnahmeregelungen klar und deutlich sind, damit Lehrende genau wissen, in welchen Fällen sie gelten und in welchen nicht. Lehrer sind keine Urheberrechtsexperten und das sollen sie auch gar nicht sein müssen. Sie müssen sich darauf konzentrieren können, wie sie ihren Unterricht am besten abhalten, und nicht darauf, ob sie gerade eine Rechtsverletzung begehen, wenn sie ein Video zeigen oder einen Online-Artikel mit der Klasse teilen.
In mehreren Ländern dürfen Lehrer aufgrund einer Ausnahmeregelung Filme zeigen, aber sie haben trotzdem Angst, es zu tun. Um auf der sicheren Seite zu sein, kaufen die Schulleitungen häufig lieber Lizenzpakete von spezialisierten Unternehmen, die zugleich in Schulen auftauchen, um vor Urheberrechtsverstößen zu warnen. Solche Pakete können richtig teuer sein: In Polen nahm eine Rechteagentur von Schulen Gebühren in Höhe von 700 Złoty (knapp 157 Euro) für eine Einzelvorführung und bis zu 4.000 Złoty (rund 950 Euro) für eine jährliche Flatrate. Letztgenannter Betrag entspricht der Jahresgebühr für den Internetzugang an vielen Schulen in Polen.
Ein unklares Gesetz schafft Verwirrung und lässt unnötige Kosten entstehen, die aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden. Es verschwendet die Zeit der Lehrer, die darüber nachdenken müssen, wie sie Gesetze umschiffen können, statt sich darauf zu konzentrieren, einen guten Unterricht mit den von ihnen gewünschten Materialien und Mitteln anzubieten.
Dennoch kann man nicht alles auf einmal haben: Je detaillierter und komplexer das Gesetz ist, desto schwieriger ist es auf neue und unvorhergesehene Situationen anzuwenden. Gefragt ist eine Balance zwischen klaren, für Lehrende verständlichen Regeln und einer Flexibilität, die auch solche Nutzungen für Bildungszwecke erlaubt, die unser heutiges technologisches und gesellschaftliches Verständnis noch übersteigen.
4. Verpflichtende Ausnahme
Die Ausnahmeregel sollte für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union verbindlich sein.
Anhand der oben genannten Grundsätze ging es bislang um die Frage, wie eine Bildungsschranke aussehen sollte, die für eine digitale Gesellschaft geeignet ist. Aber selbst wenn sie in einer Urheberrechts-Richtlinie festgeschrieben wird, wäre diese Ausnahmeregelung völlig wertlos, wenn sie nicht in allen Mitgliedstaaten auf die gleiche Weise umgesetzt würde. Haben die Mitgliedstaaten die Option, bestimmte Sonderregelungen zu ignorieren, führt das – wie schon bei der Umsetzung der bestehenden EU-Urheberrechtsrichtlinie – zu einem Flickwerk an Regelungen quer durch Europa, das grenzübergreifende Bildungs ungeheuer erschwert. Europa strebt einen digitalen Binnenmarkt an – eine für alle Staaten verbindliche Bildungsschranke im Urheberrecht würde dazu beitragen.
Der Beitrag erschien zuerst in der Reihe „Copyright Untangled“ des Communia-Netzwerks, aus dem Englischen von Ina Goertz. Lizenz: CC-BY.
2 Kommentare
1 Matthias Ulmer am 18. Februar, 2016 um 17:54
“Den Schulen dürfen nicht die Hände darin gebunden sein, geschützte Materialien zu verwenden und Technologien zu nutzen, die zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen.”
Das klingt gut.
Wenn ein Autor viel Zeit aufwendet möchte, um mit einem Schulbuch zur Verbesserung der Gesellschaft beizutragen, er kann das Schulbuch aber wegen fehlender Sicherung der Eigentumsrechte nicht verkaufen, dann wird er das nicht tun. Dann sind den Schulen die Hände gebunden, weil es das Material zur Verbesserung der Gesellschaft gar nicht gibt.
Dann kann der Staat das als öffentliche Aufgabe sehen und selbst aktiv werden. Das scheint ja das Ziel in Polen zu sein, die Schul- und Lehrbücher einheitlich im Sinne der Regierungspartei zu regulieren.
Wenn man ein Gesellschaftsbild oder eine Verfassung hat, die das ausschließt, dann ist die Sicherung der Eigentumsrechte die Grundlage für die Entstehung von Bildungsmedien.
2 Kay Gollhardt am 13. März, 2016 um 12:05
Eine Bildungsschranke wird immer dazu führen, dass dem System früher oder später das Material ausgeht.
Materialien, die als Grundstock für freie Bildungsmedien dienen sollen, sind nicht vom Himmel gefallen. Irgendjemand hat hier seine Zeit und sein Geld investiert. Jeder Text, jedes Bild oder jeder Film beruht auf Arbeit und ist mit Kosten verbunden. Wieso sollte man den Urheber enteignen dürfen? Es ist immer leicht, so etwas zu fordern, wenn man es nicht selbst erarbeitet hat.
Wieso erstellt die OER-Szene nicht einfach einen eigenen Material Grundstock sondern fordert stattdessen beim Staat geförderte Materialien oder -noch besser- eine Enteignung der Urheber durch die Bildungsschranke? Die Antwort habe ich oben schon gegegeben: Das Material selbst zu erstellen wäre zu mühsam und das private Geld einzusetzen will hier wohl auch niemand.
Die Idee ein Schneeballsystem in Gang zu setzen, finde ich gut. Wenn die Basis dafür aber die generelle Enteignung der Urheber ist, dann kann das System nur scheitern. Jeder Urheber muss sas Recht haben selbst über sein Material zu bestimmen.
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