Was die Fälschungen von Claas Relotius über die digitale Transformation des Journalismus lehren
Ende 2018 flog der preisgekrönte Journalist Claas Relotius als Fälscher zahlreicher Reportagen auf, die jahrelang beim Spiegel und anderen Medien veröffentlicht worden waren. Die Enttarnung ist der hartnäckigen Recherche seines Kollegen Juan Moreno zu verdanken. Entgegen enormer Widerstände bei Spiegel-Verantwortlichen schaffte er es, Relotius zu überführen.
Wie ihm das gelang, schildert Moreno in seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge“, das im September 2019 erschien. Mehr noch: Zwischen den Zeilen lernt man in Morenos Buch viel über die Trägheit etablierter, mit Print groß gewordener Verlagshäuser inmitten der digitalen Transformation des Journalismus.
Relotius schien ganz genau zu wissen, dass die bislang üblichen Kontrollmechanismen nicht mit seiner ausgeklügelten digitalen Arbeitsweise mithielten. Diese Schwachstellen nutzte er gezielt aus.
„Wie ein Romanautor“: Spektakulär, überraschend, plausibel – aber nicht wahr
Relotius‘ Texte lesen sich einerseits spektakulär und bieten im Format der Reportage Überraschungen, die die Tagesberichterstattung so nicht leisten kann. Andererseits wirkten seine Texte stets plausibel genug, um als wahr durchzugehen. Für diesen Seiltanz bediente er sich verschiedener unlauterer Mittel.
Relotius arbeitete, so Moreno in einer seiner treffenden Beschreibungen, „wie ein Romanautor“. Das Internet war dafür sein wichtigstes Instrument und sein Tor zur Welt. Oft ließ sich Relotius von Reportagen aus englischsprachigen Onlinemedien inspirieren, die er dann weiterspann.
Viele seiner Texte beschreiben Vorgänge oder menschliche Schicksale im Ausland. Oft reiste Relotius allerdings nicht mal in die entsprechenden Regionen, um vor Ort Originaleindrücke zu bekommen und in Interviews Stimmen zu sammeln, wie es Reporter*innen tun. Er blieb in seinem Hotelzimmer, um online zu recherchieren und zu fingieren.
Dreiste digitale Fälschungen: Screenshots, Emails, digitale Accounts
Auf der Basis von Recherchen in ausländischen Onlinemedien dachte sich Relotius Protagonist*innen aus oder dichtete existierenden Personen Züge an, die sie nicht hatten. Er legte ihnen Aussagen in den Mund oder erfand Handlungen, die sie nicht getätigt hatten, doch plausibel klangen.
Manchmal nutzte er Fotos von ausländischen Onlinemedien, um Protaganist*innen und Schauplätze zu illustrieren: Er erfand also Details, die seine Szenen ausschmückten und Glaubwürdigkeit schafften.
Mit Vorwürfen konfrontiert bot Relotius ein ganzes Arsenal an digitalen Fälschungen auf: So erfand er eine Recherche in einer existierenden US-amerikanischen Personendatenbank, die mit einer deutschen IP-Adresse nicht zugänglich ist. Er gab vor, von den USA aus in der Datenbank recherchiert zu haben und überreichte auf Nachfrage gefälschte Screenshots als Nachweis, um die Identität eines erfundenen Protagonisten abzusichern.
Er manipulierte Email-Korrespondenzen, fälschte sogar Email- und Facebook-Konten seiner angeblichen Interviewpartner*innen, die er als vermeintlich echte Nachweise ausgab. Mithilfe dieser Tricks hielt Relotius sein Lügengebäude relativ lange aufrecht – bis Moreno eine adäquate digitale Überprüfung verlangte und teils selbst durchführte.
Kurz: Mithilfe digitaler Technologie konstruierte Relotius Schauplätze, Personen, Handlungen und Recherchen oder bog sie sich zu spektakulären Geschichten zurecht. Identitäten stützte und belegte er mit ebenfalls digital fingierten Nachweisen. Er erfand nicht nur einzelne Details, sondern baute digitale Lebenswelten auf, die Glaubwürdigkeit vermittelten. Und mit denen er Kontrolle behalten konnte.
Relotius‘ Methode: Online recherchieren, gedruckt veröffentlichen
Moreno berichtet in seinem Buch, dass Relotius beim Fälschen seiner Texte sehr dreist vorging, aber Vorsichtsmaßnahmen traf. So verwendete er in seinem Büro einen eigenen Laptop, obwohl ihm der Spiegel ein Arbeitsgerät stellte. Auf diese Weise schaffte es Relotius offenbar jahrelang, sich einer genaueren Kontrolle durch seinen Arbeitgeber zu entziehen oder diese zumindest zu erschweren.
Ähnlich methodisch ging er bei der Publikation seiner Texte vor. Seine Spiegel-Reportagen erschienen in aller Regel nur im gedruckten Heft, obwohl sie sicher auch bei Spiegel Online viele Klicks gebracht hätten. Moreno zufolge wusste Relotius um die Gefahr, die maschinenlesbare, online verfügbare Texte für seine Fälscherkarriere bedeutet hätten – und setzte durch, Online-Zweitveröffentlichungen zu unterbinden. Auch Übersetzungen ins Englische verhinderte er.
Auf diese Weise beschränkte Relotius gezielt die Reichweite und langfristige Verfügbarkeit seiner Texte im Internet. Laut Moreno kam er damit zugleich den Wünschen jener Vorgesetzten entgegen, die die einzigartigen, spektakulären Reportagen nur im Heft haben wollten, um sich Alleinstellungsmerkmale im stark geschwächten Printbereich zu sichern.
Nach der Enttarnung: Manipulationsversuche eines Wikipedia-Eintrags
Mit Sicherheit hätte man Relotius früher zur Rede stellen können, wären seine Texte online verfügbar und damit offen auffindbar gewesen. So gab es nach seiner Entlarvung verschiedene Versuche, seinen Eintrag bei Wikipedia gezielt zu schönen oder seine Rolle im Fälschungsskandal zu verzerren. Bis heute ist ungeklärt, wer dahinter steckte.
Beispielsweise wurde die Auflistung mutmaßlicher Fälschungen von einem unbekannten User komplett gelöscht, was Wikipedia-Mitglieder rückgängig machten. Andere Unbekannte luden Screenshots oder andere Belege hoch, die Relotius entlastet hätten. Diese stellten sich durch die Prüfung der Wikipedia-Mitglieder als Fälschungen heraus.
Das Offenlegen von Quellen und deren langfristige Verfügbarkeit im Internet, dazu der Blick der Vielen und die Möglichkeit, Artikel direkt zu kommentieren – das alles hätte bei Online-Leser*innen schneller Zweifel entstehen und artikulieren lassen als bei einem gedruckten Text.
Ähnlich wie bei wissenschaftlichen Arbeiten, die kollaborativ auf Internet-Plattformen wie vroniplag auf Plagiate und unsaubere Arbeitsweisen hin geprüft werden, hätten Unstimmigkeiten in Relotius‘ Texten online schnell zusammengetragen und diskutiert werden können.
Das System Relotius und der digitale Journalismus
Die (weltweite) digitale Vernetzung via Email und Social Media ermöglicht es, den Link zu einem Text an Betroffene weiterzuleiten. Durch digitale Übersetzungstools wären Relotius‘ Texte auch in fremden Sprachen schnell und kostengünstig verfügbar; die Rückwärts-Bildersuche erlaubt eine gezielte Recherche zu Nutzungen und Quellen von Bildmaterial; und über Archivierungstools wie archive.org sind Texte zudem langfristig im Internet abrufbar und nachnutzbar.
Das Gleiche gilt für Quellen und Dokumente, auf die sich Relotius in seinen Reportagen bezog. Das Internet bietet den großen Vorzug, digitale Dateien zu verlinken, um den Leser*innen von Texten die selbständige Überprüfung oder eine eigene Lesart zu ermöglichen.
In journalistischen Texten liest man oft den Hinweis, dass ein bestimmtes Dokument dem Verlag „vorliegt“. Das wäre in vielen Fällen gar nicht nötig. Man kann das Dokument, wenn nicht triftige rechtliche oder moralische Gründe dagegen sprechen, als Beigabe mit-veröffentlichen. Solche Offenlegungsmechanismen hätten Relotius zwar nicht zwingend verhindert, es ihm aber deutlich schwerer gemacht, so weit zu kommen.
Im digitalen Umbruch des Journalismus
Wie bei vielen anderen erfolgreichen Fälschungen auch war Relotius den Kontrollmechanismen technisch überlegen und kannte deren Schwachstellen. Moreno zufolge agierte Relotius zudem innerhalb eines internen Umbruchs beim Spiegel: Personelle Wechsel kündigten sich an, Relotius stand kurz vor einer Beförderung.
Das erklärt wohl gewisse Nachlässigkeiten. Doch ohne das Unvermögen und den Unwillen, Relotius‘ Fiktionen und digitale Nachweise adäquat zu prüfen, wäre der Fälscher niemals so lange durchgekommen.
Insofern lässt sich Claas Relotius als ein Symptom für die vielfältigen Probleme sehen, die traditionelle Verlagsmedien mit der digitalen Transformation noch immer (zu) haben (scheinen). Relotius agierte versiert mit neuen technischen Mitteln, die der Spiegel und andere noch mit den alten, für das Digitale nicht gerüsteten Methoden kontrollierten. Das zeigt die Trägheit großer Verlagshäuser, von denen sich einige vom vielfach prämierten Starjournalisten blenden ließen.
Zwar sind Fälschungen, egal wo sie passieren, sicherlich nicht in allen Fällen oder zu jeder Zeit zu verhindern. Doch sollten Morenos Einsichten dafür genutzt werden, journalistische Texte mit Hilfe digitaler und nicht-digitaler Tools besser zu überprüfen, um Fälschungen leichter zu entlarven und ihnen damit langfristig vorzubeugen. Die digitalen Werkzeuge dafür liegen vor, sie müssten nur aufbereitet und für die Allgemeinheit geöffnet werden.
Wie Juan Moreno die Fälschungen von Claas Relotius enttarnte
Der Fälschungsskandal um Claas Relotius stürzte den Spiegel Ende 2018 in eine tiefe Krise, die große Teile der Branche erfasste. Jahrelang hatte Relotius als Spiegel-Redakteur zahlreiche seiner Reportagen komplett oder teilweise gefälscht, stark übertrieben oder anderweitig fingiert. Wie sich herausstellte, hatte er auch bei anderen Medien unsaubere, stark frisierte oder sogar gefälschte Artikel publiziert. Eine Übersicht findet sich bei Wikipedia. Der Spiegel führt eine eigene Liste zu den dort erschienenen Texten.
Maßgeblich beteiligt an der Aufdeckung Relotius‘ war der Journalist Juan Moreno. Er hatte für eine Auslandsreportage im Herbst 2018 mit ihm zusammengearbeitet und Ungereimtheiten in dessen Arbeitsweise bemerkt. Als sich der Verdacht für Moreno erhärtete, suchte er das Gespräch mit den verantwortlichen Spiegel-Ressortleitern. Dort glaubte man ihm nicht, er stieß auf enorme Widerstände. Durch investigative Recherche fand er belastbare Beweise und konnte schließlich die Ressortleitung überzeugen, Relotius überführen und eine Überprüfung aller seiner Texte anstoßen.
Im September 2019, knapp ein Jahr nach der Enttarnung, veröffentlichte Moreno „Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ im Rowohlt Verlag. In dem Buch schildert er seine eigene Perspektive auf den Fälschungsskandal und welche Faktoren es Relotius ermöglichten, so lange und erfolgreich gefälschte oder manipulierte Reportagen bei etablierten Medien zu veröffentlichen.
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