Die Kunst des Abschreibens
iRights.info: Was ist Appropriation Literature?
Annette Gilbert: Der Begriff ist ein Vorschlag von mir, den ich in Analogie zu Appropriation Art gebildet habe. Diese Künstler kopieren absichtlich und strategisch Werke anderer Künstler. Als Appropriation Literature bezeichne ich eine Form von Literatur, die sich anderer Literatur bedient, und zwar, im Gegensatz zu „traditionellen“ Formen wie dem Zitat oder der Collage, in einem sehr extremen Maße: In der Regel wird das fremde Werk nicht ausschnittweise, sondern komplett kopiert. Mir scheint, es ist ein Phänomen unserer Zeit, dass immer mehr solcher Werke erscheinen.
iRights.info: Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Annette Gilbert: Das bekannteste Beispiel ist wohl Jonathan Safran Foers Buch „Tree of Codes“ von 2010. Es wurde geradezu enthusiastisch in den Medien weltweit besprochen. Foer greift zurück auf die Kurzgeschichtensammlung „Die Zimtläden“ von Bruno Schulz und wendet darauf eine Technik an, die man als Erasure bezeichnet. Das heißt, er tilgt aus dem Text Wörter und Satzteile. Die übrig bleibenden Sprachelemente ergeben einen neuen Text.
Schon der Titel spielt damit: Auf Englisch heißt Schulz’ Buch „The Street of Crocodiles“ – wenn man Buchstaben daraus löscht, bleiben drei Wörter stehen: „Tree of Codes“. So ist ein sehr schönes und äußerst fragiles Buchobjekt entstanden, denn Foer hat die Textteile, die er nicht benötigte, nicht einfach geschwärzt, sondern ausgeschnitten. Man kann durch die Löcher hindurchsehen und sich so verschiedene Texte zusammenbauen. Die Löschungen haben auch eine inhaltliche Aussage. Bruno Schulz war ein jüdischer Autor aus Polen und wurde 1942 von der Gestapo ermordet. Die Tilgungen und Leerstellen stehen für das Undarstellbare des Holocaust.
Ein anderes Beispiel, an dem man die Nähe zur bildenden Kunst sehen kann, ist von Elaine Sturtevant, die die Kurzgeschichte „Pierre Menard, Autor des Quijote“ von Jorge Luis Borges für ihr Buch „Sturtevant, Author of the Quixote“ (1970/2009) verwendet hat.
Borges’ Erzählung „Pierre Menard, Autor des Quijote“, die 1941 im Erzählband „Fiktionen“ erschienen ist, ist so ein bisschen die Ursprungsgeschichte der Appropriation Literature. Borges erfindet dort die Gestalt des französischen Schriftstellers Pierre Menard, der es sich Anfang des 20. Jahrhunderts zur Aufgabe macht, den klassischen Roman „Don Quijote“ von Cervantes noch einmal zu schreiben – nicht abzuschreiben, sondern aus sich heraus Wort für Wort noch einmal zu schreiben. Leider stirbt er, bevor er sein Werk vollenden kann. Aber in seinem Nachlass finden sich drei Kapitel, die – oh Wunder – Wort für Wort dem „Don Quijote“ gleichen. Der Erzähler in Borges‘ Geschichte denkt nun darüber nach, ob wir Menards Text anders als den von Cervantes lesen, und behauptet, dass dieser zweite Text viel reicher sei als das Original.
Sturtevant appropriiert also die Idee von Borges, aber auch den Text des „Don Quijote“, wenn sie drei Kapitel aus dem „Don Quijote“ unter ihrem Namen veröffentlicht. Es ist also eine doppelte Appropriation. Eigentlich sogar eine dreifache, denn sie stellt den drei „Quijote“-Kapiteln einen Brief an „Mr. Borges“ voran, der Pierre Menards Äußerungen zu seinem „Don Quijote“ aus Borges‘ Erzählung zitiert. Dieses Spiel mit der literarischen Tradition macht diesen Text in der Tat reicher, vielschichtiger – so wie es Borges vorhergesehen hat.
iRights.info: Woher kommt diese Nähe zur Kunst?
Annette Gilbert: Werke wie diese haben es im Literaturbetrieb schwer, sie dehnen unseren Begriff von Literatur – und überdehnen ihn damit häufig auch. Die Autoren stellen grundsätzliche Fragen, die sonst im Literaturbetrieb nur selten gestellt werden: Was ist Literatur? Was ist ein literarisches Werk? Welche Erwartungen haben wir an sie? Welchen Stellenwert hat Originalität, welche Rolle spielen die Paratexte und die Gestaltung eines Textes für die Lektüre und Interpretation?
In meiner Anthologie zur Appropriation Literature arbeite ich mit vielen Abbildungen, denn die Autoren schreiben beziehungsweise kopieren nicht einfach nur Texte, sondern arbeiten häufig mit der Materialität der Texte, mit der Textgestalt, mit dem Buch als Objekt – wie Jonathan Safran Foer in „Tree of Codes“.
Sie beziehen also auch den Satz, das Cover, den Index, das Impressum und so weiter in die künstlerische Gestaltung mit ein, sogar den institutionellen Rahmen, in den das Werk mit der Publikation gestellt wird. Wenn ein Künstler zum Beispiel die Covergestaltung eines Reclam-Bändchens imitiert, zitiert er damit auch dessen Image als Klassikerverlag und den Anspruch auf Kanonbildung. Dieser Aspekt von Literatur findet viel zu selten Beachtung.
iRights.info: Was ist der Grund dafür, dass sich Autoren mit physischen Eigenschaften von Bücher beschäftigen?
Annette Gilbert: Ich glaube, dass die Rückkehr zum gedruckten Buch etwas damit zu tun hat, dass es gegenwärtig eine Sehnsucht nach dem Materiellen gibt, weil alles immer digitaler wird. Zugleich zieht die Beschäftigung mit dem literarischen Erbe, wie sie die Appropriation Literature ausmacht, wohl zwangsläufig die Beschäftigung mit dem Buch als Medium nach sich, denn das war nun einmal die vorherrschende Form von Literatur der letzten Jahrhunderte. Es gibt aber natürlich auch viele digitale Beispiele von Appropriation Literature. Dabei fällt oft das Schlagwort von der postdigitalen Literatur. Dabei geht es nicht allein darum, dass das Digitale jetzt durch ist und wir zum Analogen zurückkehren, sondern dass Künstler und Autoren beides – Analoges und Digitales – verbinden.
iRights.info: Wie sieht es mit dem Rechtlichen aus? Diese Frage stellt sich ja automatisch, wenn wir davon reden, dass fremde Texte übernommen werden. Wie gehen die Autoren damit um?
Annette Gilbert: Nicht ohne Grund arbeiten viele Autoren mit Klassikern, also Texten, deren Autoren länger als 70 Jahre tot sind. Obwohl das natürlich nicht der einzige Grund ist – es geht ja auch darum, an der Tradition der Weltliteratur zu partizipieren. Aber nicht selten verwendet man bewusst ältere Ausgaben oder gemeinfreie Übersetzungen als Vorlage. Manchmal fügen die Autoren auch juristische Gutachten über den ungeklärten Status ihres Werks an oder deklarieren ihr Werk vorsichtshalber als „nicht im Handel erhältlich“.
Es gibt aber durchaus Autoren, die bewusst Werke oder Ausgaben nehmen, die noch urheberrechtlich geschützt sind. Richard Prince etwa, der 2011 die Erstausgabe von J.D. Salingers „The Catcher in the Rye“ (deutsch: „Der Fänger im Roggen“) unverändert unter seinem Namen neuauflegt. Oder Simon Morris, der 2010 Jack Kerouacs Roman „Unterwegs“ – im Original „On the road“ – abtippt (eine Seite pro Tag) und als Blog unter dem Titel „Getting Inside Jack Kerouac’s Head“ veröffentlicht und danach auch noch einmal als Buch vorlegt, das äußerlich die Penguin-Ausgabe imitiert. Soweit ich weiß, hat bisher keiner von beiden Schwierigkeiten bekommen. Aufsehen erregende Prozesse oder Feuilletondebatten, wie man sie aus der Kunstwelt etwa von Richard Prince oder aus der Literatur etwa von Kathy Acker und Helene Hegemann kennt, sind bisher ausgeblieben.
Prinzipiell sind solche Werke jedenfalls eindeutig Kunstwerke und sollten der Kunstfreiheit unterliegen. Die Frage ist nur, ob die Autoren in jedem Fall Recht bekämen, wenn die Rechteinhaber vor Gericht gehen würden. Da wird dann der konkrete Fall verhandelt – und jeder Fall ist anders, es hängt viel von den Details ab und man weiß nicht, ob die juristische Argumentation tatsächlich der ästhetischen folgen wird, wenn zum Beispiel ein ganzer Roman unverändert neu veröffentlicht wurde.
In jedem Fall ist immer ganz klar, was hier gemacht wird, es wird niemand getäuscht, denn entweder sind die Texte so bekannt, dass alle wissen, dass Borges diesen Text geschrieben hat und nicht Elaine Sturtevant. Oder es wird explizit im Titel oder an anderer Stelle auf Borges als Autor der Vorlage hingewiesen. Insofern ist es kein Plagiat, der Akt der Aneignung ist immer ganz deutlich gekennzeichnet, ja in Szene gesetzt.
iRights.info: Gibt es denn Fälle, wo Autoren juristischen Ärger bekommen haben?
Annette Gilbert: Damit kommen wir wieder zu Borges zurück: Der argentinische Autor Pablo Katchadjian hat Borges’ Erzählung „Das Aleph“ mit eigenem Text erweitert und 2009 unter dem Titel „Das gemästete Aleph“ veröffentlicht. Dagegen ist Borges’ Witwe, die das Erbe ihres Mannes verwaltet, vorgegangen. Katchadjian wurde im Juni 2015 in zweiter Instanz der Verletzung des Urheberrechts schuldig gesprochen, sein Vermögen wurde eingefroren. Theoretisch drohen ihm nun bis zu 6 Jahre Haft. In Argentinien, aber auch international, hat sich daraus eine Diskussion entsponnen, was eigentlich künstlerisch erlaubt sein soll und was nicht.
Ich würde sagen, in seinem Fall überwiegt der Anteil eigenen Textes das „Zitat“ deutlich, die eigene schöpferische Leistung ist also nicht zu übersehen. Sein Text basiert auf einer intensiven inhaltlichen und stilistischen Auseinandersetzung mit dem Vorgänger, sein ganzes Projekt zeugt von immenser Wertschätzung. Es schadet Borges also nicht, sondern mehrt seinen Ruhm.
Dass sich der Streit ausgerechnet an Borges entzündet, ist natürlich bizarr. Im Grunde ist die gesamte Literatur ohne Anleihen an bestehende literarische Werke, Erzählweisen, Figuren und Stoffe nicht denkbar. Niemand wusste das besser als Borges. Sein gesamtes literarisches Werk, aber auch sein Lebenswerk als Direktor der argentinischen Nationalbibliothek gründet auf der Auseinandersetzung mit der literarischen Überlieferung. Und in seinen Erzählungen hat er selbst eben jene literarischen Schreibweisen imaginiert und radikal durchgespielt, die inzwischen zur etablierten ästhetischen Strategie geworden sind.
Für mich ist die Klage jedenfalls nicht nachvollziehbar, aber vielleicht braucht es solche Fälle, um auf das Problem aufmerksam zu machen und die künstlerische Freiheit zu stärken.
Literatur:
Annette Gilbert (Hrsg.): REPRINT. Appropriation (&) Literature. Luxbooks 2014 und Wiederaufgelegt.
Annette Gilbert (Hrsg.): Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern, transcript 2012.
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