Kopieren, fälschen, optimieren: Shanzhai-Kultur in China
Wenn man sich in Richtung der Außenbezirke von Shenzhen bewegt, verwandelt sich die Ebene des Perlfluss-Deltas allmählich in eine Berg- und Hügellandschaft. Graue Mauern von Fabrikdörfern ragen in der grünen Landschaft empor: „Kleine private Standardfabriken, errichtet in der Hoffnung, dass sie irgendwann Profit abwerfen, steigen förmlich aus dem Ackerland auf, Ziegelsteine und Blechhütten treten an die Stelle der alten Reisfeldlandschaften“ (aus „Factory Towns of South China“).
Wir befinden uns in der legendären Heimat der chinesischen Piraten: dem Shanzhai. In der chinesischen Popkultur steht Shanzhai (shan: Berg, zhai: Festung) für ein entlegenes Dorf in den Bergen, wo Banditen sich einst eine Gesellschaft erschaffen hatten, weit entfernt von den Gesetzen des Kaisers.
Die Shanzhai-Fabriken, in denen gefälschte Samsung-Smartphones oder die Schrittmotoren der neuesten 3D-Drucker hergestellt werden, sind in der Regel klein. Sie wurden ursprünglich von Familien geführt, die an das Perlfluss-Delta gezogen waren, um ein wenig in der globalen Business-Welt mitzumischen. Sie betreiben die Fließband-Produktion von Selfie-Sticks auf die gleiche Weise wie den Anbau von Möhren. Dabei besteht ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilung lediglich aus einer einfachen Internetverbindung. Hier lesen sie Produktrezensionen, studieren Fotografien, kaufen ein Muster des Produktes und nehmen es dann auseinander, um zu prüfen, ob sie ein vergleichbares Produkt zu geringeren Kosten anfertigen können.
Billigeres Gummi, recycelte Bestandteile, ältere Chips: Es muss dem Original nur nahe kommen, nicht aber gleichwertig sein. Sie arbeiten nicht mit Powerpoint-Folien wie die aufstrebenden Silicon-Valley-Hipster, wenn diese per „Growth Hacking“ eine Marketingkampagne aushecken. Hier werden lediglich Produkte produziert, die etwas günstiger sind als das Original. Die Konzerne hassen sie. Millionen Menschen nutzen ihre Produkte jeden Tag, um ins Internet zu gehen.
Nach dem Goldrausch
Nach 20 Jahren Goldgräberstimmung ist das Phänomen „Made in China“ heute nicht mehr Motor für wirtschaftliches Wachstum wie früher einmal. Die Arbeiter verlangen Mindestlohn, Sozialleistungen und vieles mehr. So verlagert sich alles weiter nach Süden. China ist gerade dabei, eine gigantische automatisierte Produktionsinfrastruktur aufzubauen. Japan hat den Weg vorgegeben, doch die umweltverträgliche, optimierte, integrierte, intelligente Megacity wird sich in China befinden.
Ihre Zentrale wird schon jetzt im Fischerdorf von Shenzhen gebaut, das inzwischen längst über seine alten Dimensionen hinausgewachsen ist. Mitten im gigantischen Industriezentrum des Perlflussdeltas liegt Shenzhen in direkter Nachbarschaft zu Hongkong – einer Stadt, die mit ihrem erstklassigen Wirtschaftssektor weltweit ihresgleichen sucht.
Tablets, Drohnen, Biotech-Produkte oder Open-Source-Hardware – all diese Technikkomponenten werden auf den Märkten von Shenzhen zum Kilopreis verkauft. Auf diesem Umschlagplatz wimmelt es von Internetprodukten und Crowdfunding-Geschäftsmodellen – die ganze Stadt scheint damit beschäftigt, die technologische Zukunft zu definieren. Die Maker-Bewegung – der Name für die neue Do-it-yourself-Kultur – hat hier ein neues Zuhause gefunden. Gruppen aus aller Welt kommen, um einen Teil des Kuchens zu ergattern.
Die Frage bleibt: Wie haben sich kommunistische Bauern in Cybergeeks verwandelt, die nun eine globale Industrie anführen? Wie haben sie so schnell gelernt, technische Entwicklungen zu erkennen, Fabriken zu managen, sich Produkte auszudenken und die kommenden Elektronikprodukte zu entwerfen?
Kopieren geht über Studieren
1980 hatten weniger als drei Prozent der Arbeiter in Shenzhen die mittlere Reife. Die Geschichtsbücher werden uns weis machen wollen, dass qualifizierte Manager von NASDAQ-Unternehmen nach China gekommen sind, um diese Leute auszubilden, dass die Lehrer der Kommunistischen Partei Chinas dabei geholfen haben, sie zu qualifizierten Arbeitern zu machen.
Die Wirklichkeit sieht anders aus: Wenn man keine Ressourcen hat, kein funktionierendes Bildungssystem und einem keine Berater oder Vordenker zur Verfügung stehen, lernt man, indem man sein Umfeld beobachtet. Man kopiert etwas, man setzt es ein, reproduziert es, modifiziert es, man bemüht sich – und schließlich macht man Fortschritte.
Im Longgang-Bezirk im Osten von Shenzhen gibt es ein Dorf namens Dafen. Hier hatte man sich darauf spezialisiert, Nachbildungen berühmter Gemälde zu verkaufen. Andy Warhol, Vincent van Gogh, Jackson Pollock – die Signaturen der unbekannten Maler von Dafen haben die Touristen ein ganzes Jahrzehnt lang begeistert. Aber die Fälscher von damals sind schon lange nicht mehr hier. Das Dorf hat sich inzwischen zu einem Markt für chinesische Künstler entwickelt, die von hier aus ihre Gemälde verkaufen.
Ein quasi-industrieller Prozess von Fälschungen der Meister hat dazu geführt, dass eine lokale Künstlerszene entstanden ist – was die Frage nach den Voraussetzungen für eigene Schöpfungen aufwirft. Walter Benjamin ist davon ausgegangen, dass die Massenproduktion von Kunst keine Spuren in Raum und Zeit hinterlassen würde, dass sie lediglich dazu in der Lage sein würde, eine Illusion von Kunst hervorzubringen. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht ist das Kopieren nur ein Übergangszustand in einem Lernprozess. Der Maler und Aktionskünstler Dubuffet drückte es so aus: „Für einen Maler ist die wichtigste Geste das Verdecken.“ Man sollte immer von den Besten lernen.
Qualität „Made in China“
Die Qualität gefälschter Produkte auf einem Markt wie dem chinesischen variiert enorm. Eine gefälschte Ray-Ban-Brille kann man für 20 Cent oder für 60 Dollar erwerben. Die Ray Ban für 20 Cent hält in der Regel einen Tag, bevor sie kaputt geht, die für 60 Dollar dagegen entspricht genau dem Original, einschließlich der gefälschten Garantiekarte.
Die Einordnung von gefälschten Produkten wird von Chinesen ziemlich salopp gehandhabt: A-Produkte sind die besten und vom Original nahezu nicht zu unterscheiden. B-Produkte haben eine niedrigere Qualität, und das geht immer so weiter, bis zur Kategorie „Z“ – hierbei handelt es sich um Schrott, den man als echtes Produkt ausgibt. Viele Online-Händler werben mit ihren AAA-Produkten, die angeblich vollkommen perfekt sind, besser noch als das Original – wie ein Paar Nike-Sneaker mit einem Extra-Adidas-Logo drauf.
Auch bei der Produktpiraterie gibt es gutes Handwerk: Schließlich ist es alles andere als einfach, den Intellekt von zehn Stanford-Absolventen zu rekonstruieren, indem man das neueste Smartphone-Modell aufschraubt. Da haben es die sogenannten „Tag & Nacht“-Fabriken etwas einfacher: Am Tag produzieren sie Schuhe für Nike – und in der Nacht produzieren sie Nike-Schuhe für sich selbst.
Whiteboxing als Erfolgsmodell
In den 1990er Jahren steckte der PC-Markt noch in den Kinderschuhen. Gordon E. Moore und sein berühmtes Gesetz über die Komplexität integrierter Schaltkreise öffnete das Tor für exponentielles Wachstum von Rechnerleistungen. Der neue Goldrausch verwandelte Sand in Silikon, so schnell, dass die Computer fast schon veraltet waren, wenn sie in den Verkauf gingen. Die Hersteller konnten mit dem technischen Fortschritt nicht mithalten.
Im Jahre 1995 verlor ein PC im Versand pro Woche 1,5 Prozent seines Wertes. Der Transport von China in die USA nahm mehrere Wochen in Anspruch. Dieser Zustand war für den Prozessorhersteller Intel nicht mehr haltbar, der dadurch seine neue Pentium-CPU nicht so schnell zu verkaufen konnten, wie er gerne wollte. Daher entschloss sich das Unternehmen, die sogenannte ATX-Plattform auf den Weg zu bringen, auf der man sämtliche technischen Zeichnungen und Daten abrufen konnte, um von überall Hauptplatinen für die aktuellen Modelle herstellen zu können.
Binnen weniger Monate begannen tausende kleiner Firmen in Taiwan damit, „White-box“-Computer herzustellen, also PCs ohne Markenbezeichnung oder sogar ohne Produktnummer. Die zusammengesetzten Rechner wurden von Taiwan aus verschifft und der Prozessor wurde vor Ort im Laden eingesetzt. Nach weniger als zehn Jahren wurden diese markenlosen Computer weltweit Marktführer, mit einem Marktanteil von mehr als 30 Prozent.
Von dieser Erfolgsgeschichte inspiriert entschloss sich der taiwanesische Chiphersteller UMC dazu, diesen White-Box-Prozess in einem neuen und schnell wachsenden Markt einzusetzen: dem Mobilfunkmarkt. Das Unternehmen verwandelte eines seiner Forschungs- & Entwicklungs-Projekte in einen Ableger namens Mediatek (MTK). Mediatek begann damit, Bausätze mit technischen Zeichnungen für Hardware und Software zu verkaufen. Sie organisierten auch Trainings und Betreuung für Tausende kleiner Fabriken, die basierend auf ihrem Bausatzsystem Mobiltelefone herstellten.
Während man im Westen immer noch Nokia-Telefone kaufte, verwandelten sich Chinas Fließbandfertigungsanlagen in veritable Design-Labore. Man musste lediglich einen MTK-Bausatz nehmen, eine Plastikhülle und ein paar Knöpfe hinzufügen, ein Betriebssystem aus dem Ärmel schütteln – fertig war das digitale Telefon. Ein Samsung-Telefon in Form von Michael Jordan? Kein Problem. Außerdem mit fünfzig Klingeltönen und Leuchtdioden? Okay, da frage ich meinen Bruder.
2010 wurden 100 Millionen Mobiltelefone mit MTK-Chips verkauft, hauptsächlich in Südostasien, Afrika und Indien. In der Zwischenzeit wurde MTK mehrfach beschuldigt und verklagt, Patente der unterschiedlichsten Technologien zu verletzen. Diese „unfaire“ Benachteiligung gegenüber Wettbewerbern hat einen der am schnellsten wachsenden Industriezweige hervorgebracht: das mobile Internet.
Von China nach Ghana: Das Power Bank Phone
Das Power Bank Phone, das plötzlich die Straßen von Accra in Ghana eroberte, ist ein gutes Beispiel für diese Erfolgsstory. Während man im Westen gerne Anzug-tragende Führungskräfte losschickt, um einen Business-Deal auszuhandeln, schließen die Chinesen Geschäfte gerne als Individuen oder über die Familie ab. Tausende Chinesen sind in den letzten Jahren nach Afrika gezogen, um dort Firmen aller Art zu gründen.
Einer von ihnen hat offensichtlich die für Westafrika typischen Stromausfälle erlebt und dies als besonders ärgerlich empfunden. Um das Problem zu lösen, hat er ein Telefon entworfen, das in der Lage ist, als Stromspender zu fungieren. Und weil man in Ghana offenbar gerne verschiedene Telefonnummern hat, sollte das Gerät außerdem mit drei SIM-Karten funktionieren.
Unser Mann rief seinen Cousin in Guangdong an und fragte ihn, ob er in seinem Werk ein solches Mobiltelefon herstellen könne. Nur wenige Tage später wurde die erste Serie im Container angeliefert – und bereits nach einer Woche sah man es auf den Märkten von Accra im Einsatz. Es war noch nicht einmal nötig, gefälschte Markennamen wie Samsung oder Ericsson auf die Verpackung zu drucken – die Info über die technischen Daten und eine Abbildung des Gerätes waren vollkommen ausreichend.
Open-Source-Produktion
Die Shanzhai-Industrie ist beispielhaft für eine vom freien Markt hervorgebrachte technische Innovation: schnelle, kundenorientierte, schrittweise Produktentwicklung. Design- und Entwicklungstheoretiker könnten von diesen chinesischen Tüftlern das eine oder andere lernen. Gutes Produktdesign beruht hier darauf, dass einfache Starterkits zur Verfügung stehen, sowie auf der Fähigkeit, bestehende Funktionalitäten zu kopieren und zu integrieren, und schließlich auf dem einfachen Zugang zu Produktionsmitteln.
Bevor man aber in den westlichen Salons über das Shanzhai-Modell debattiert, darf man nicht die anderen Erfolgsfaktoren vergessen: billige Arbeitskräfte und ein stabiles politisches Gefüge. Die Kommunistische Partei Chinas und ihre Weigerung, Gesetze zum Schutz der Arbeiter durchzusetzen, hat einen wichtigen Anteil am aktuellen Entwicklungs- und Innovationsrausch.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Shanzhai-Industrie ist, dass – weil es sich um Piraten handelt, die heimlich in abgelegenen Fabriken arbeiten – sie ein umfassendes System der Kooperation und des Austausches aufgebaut haben. Auf Instant-Messaging-Gruppen tauschen sie Pläne, Neuigkeiten, rekonstruierte Produktpläne und technische Bauzeichnungen aus. Auch ohne verkaufsfördernde Label wie „Open Source“ wurde hier eine arbeitsteilige Herstellung praktiziert. In vielerlei Hinsicht hallt im System Shenzhen der Traum der „Fab City“ nach, bei dem Design-Labore und kleine Produktionsstätten für das öffentliche und private Wohl zusammenarbeiten.
Die Fortführung von Shanzhai ist das Prinzip der Open-Source-Produktion. Firmen vor Ort wie Seeed Studio und Cubietech haben das voll und ganz verstanden. Diese neue Generation chinesischer Hersteller versammelt eine große Tech-Gefolgschaft, samt optimierter Geschäftsabläufe in punkto Dokumentation, der Pflege der Community und Werbung. Man kann ohne weiteres die Qualität ihrer Entwürfe begutachten und interessante und lehrreiche Touren durch ihre Fertigungshallen in Shenzhen unternehmen.
Hier erinnert nichts an die düstere Welt der Piraten: Methodologien und Herstellungspläne werden online veröffentlicht, es gibt vernünftigen Nutzerservice – und sie verhelfen sogar Ihrer Crowdfunding-Kampagne zum Erfolg, wenn Sie sie darum bitten. Sie wissen, dass Produkte nicht im Kopf von Entwickler geboren werden, sondern in den Händen von Fabrikarbeitern.
Das Produktionsdesign der Zukunft
Jahrzehntelang sind ausländische Unternehmen nach China gekommen und haben das Land mit dem verlassen, wofür sie bezahlt haben – mit billigem Kram, der kaum funktioniert. Man kann nicht erwarten, dass ein Bauer, der weder lesen noch schreiben kann, schon vom ersten Tag an in der Lage ist, eine Schweizer Armbanduhr herzustellen. Nach Jahren im Untergrund an den Rändern des globalen Produktionssystems haben die Shanzhai-Hersteller aber inzwischen ein Produktionsmodell entwickelt, das Generationen von Produktdesignern in Zukunft beeinflussen könnte.
Kopieren, fälschen und bereits bestehende Erfindungen neu einzusetzen, hat in diesem Fall nicht zur Zerstörung einer bestehenden Industrie geführt, sondern zu ihrer Optimierung. Außerdem hat es die Kosten für die Ausbildung tausender chinesischer Hersteller und Produzenten gedeckt und dabei einen hochprofitablen Wirtschaftszweig hervorgebracht.
Anstatt das bestehende Modell anzufechten, könnte die Umwandlung des Shanzhai-Produktionsmodells in ein Open-Source-Modell für Massenproduktion die aktuelle Begeisterung für die Effizienz technologischer Entwicklungen noch verstärken. Falls sich der freie Zugang zu geschützten Ressourcen langfristig gesehen als schädlich erweisen sollte, wird es nicht an den Verlusten durch Piraterie liegen, sondern vielmehr daran, dass dieses umfassende Wissen, die immensen Ressourcen und Fähigkeiten für die falschen Vorhaben und Absichten eingesetzt werden.
Dieser Text erschien zuerst auf Englisch in „The Pirate Book“, herausgegeben von Nicolas Maigret und Maria Roszkowska beim Aksioma-Institut für zeitgenössische Kunst Ljubljana. Aus dem Englischen von Lewis Gropp. Der Text ist unter „Copyleft“ freigegeben.
2 Kommentare
1 Man Kann am 12. Januar, 2016 um 15:30
schuldig machen, wer immernoch chinesische Produkte kauft!
2 Donato am 21. Januar, 2016 um 09:09
Es ist ein Spruch aus Amerika: “Fake it till you make it”. Aber in Amerika gibt es ja alles: Diesen Spruch, Patentanwälte und die Obstfirma, die Offshore den weltweit größten Geldberg hortet, den sie mit genau dem Gegenteil der Shanzhai-Methode erwirtschaftet hat. Und zwar auf den Buckeln dieser Menschen …
btw hier oben: wer nichts aus China im Hause hat, werfe die erste Raubkopie.
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