Heinz Pampel über die neue Open-Access-Policy der USA: Ein „wegweisendes Memorandum“
Kürzlich verkündete die US-amerikanische Regierung, dass staatlich finanzierte Forschung – dazu gehören insbesondere wissenschaftliche Texte – ab 2026 ohne Paywalls oder ähnliche Beschränkungen frei zugänglich sein muss. Damit würde beispielsweise die bisher geltende zwölfmonatige Embargo-Frist fallen. Betreffen würde die neue Regelung etwa 400 Wissenschaftseinrichtungen und deren Publikationswege, wie die New York Times berechnet hat.
Einer, der sich mit Open Access und dem wissenschaftlichen Publikationswesen gut auskennt, ist Dr. Heinz Pampel. Er arbeitet als Referent beim Helmholtz Open Science Office und forscht unter anderem zu Universitätsverlagen. Wir haben ihn per Email um eine Einschätzung der neuen US-Open-Access-Policy gebeten: ein Gespräch über Open Science als Innovationspolitik, die Effekte der Pandemie auf das (offene) Publizieren und neue Anwendungsmöglichkeiten für frei zugängliche Textkorpora.
Zum Interview: Open Access in den USA und weltweit
iRights.info: Herr Pampel, ist die neue US-Policy der Durchbruch für flächendeckendes Open Access in der Wissenschaft?
Heinz Pampel: Es ist ein wegweisendes Memorandum, in dem das White House Office of Science and Technology Policy (OSTP) die US-Behörden auffordert, sicherzustellen, dass geförderte Forschungsergebnisse im Sinne von Open Science offen zugänglich gemacht werden.
Jedoch: Wissenschaft ist international und die Publikationspraktiken variieren je nach Fachgebiet. Auch Open Science ist in den Disziplinen unterschiedlich weit verbreitet. Darüber hinaus ist es mit Blick auf die wissenschaftliche Selbstverwaltung essentiell, dass Hochschulen und außeruniversitäre Einrichtungen Open Science aktiv gestalten. Eine Policy kann den Kulturwandel hin zu Open Science unterstützen. In der Praxis sind weitere Aktivitäten erforderlich, zum Beispiel der Betrieb von Informationsinfrastrukturen wie digitale Repositorien oder auch Incentives und Trainings für Wissenschaftler*innen zur Förderung der Open-Science-Praxis. Der Durchbruch auf internationaler Ebene hin zu Open Science wird nur gelingen, wenn weitere Länder und Communities Open Science ebenfalls zum Standard machen.
Sie bezeichnen die neue Policy als „wegweisend“, etwa in einem Blogeintrag. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung? Und was bedeuten die Policy-Anforderungen für die Praxis, was muss passieren, damit sie umgesetzt werden können?
Wegweisend ist die Policy, weil sie in zentralen Aspekten deutlich weitergeht als bestehende Leit- und Richtlinien.
Das jetzt veröffentlichte Memorandum aktualisiert eine unter Präsident Obama im Jahr 2013 veröffentlichte Policy. Die neue Anweisung tangiert weitere US-Behörden und ist in ihren Spezifikationen detaillierter und umfassender. So wird zum Beispiel im Bereich Open Access eine Embargo-Periode von zwölf Monaten abgeschafft. Forschende, die von den Bundesbehörden Drittmittel empfangen, müssen zukünftig mit dem Erscheinen ihrer peer-reviewed Publikationen sicherstellen, dass diese sofort auf digitalen Open-Access-Repositorien offen zugänglich sind. Auch die Forschungsdaten, die Grundlage dieser Publikationen sind, werden in einer Vielzahl von Fällen sofort frei zugänglich gemacht werden müssen.
Es wird nun sehr darauf ankommen, wie die Bundesbehörden ihre Anforderungen im Rahmen sogenannter Public Access Policies im Detail ausarbeiten und welche Konsequenzen sich daraus für die Forschenden ergeben. Hier sind aktuell noch einige Fragen offen.
„Die USA gestalten Open Science als Teil ihrer Innovationspolitik.“
Es ist auffällig, dass die Policy es offensichtlich vermeidet, prominent von „Open Access“ zu sprechen, sondern eher von „Public Access“. Teilen Sie diese Beobachtung? Und wenn ja, was schließen Sie aus dieser sprachlichen Feinheit?
Die Begrifflichkeit wird bereits in der aktuellen Policy verwendet und geht auf eine Richtlinie der National Institutes of Health (NIH) aus dem Jahr 2008 zurück.
Die US-Regierung will den Zugang zu Ergebnissen der öffentlich geförderten Forschung deutlich erleichtern. Steuerzahlende sollen ohne Barrieren auf die Erkenntnisse der öffentlich finanzierten Forschung zugreifen können. So betont die US-Regierung in der Begründung der Policy das Interesse der Öffentlichkeit, wie auch der Industrie, an der freien Verbreitung von wissenschaftlichen Ergebnissen.
Deutlich wird dies zum Beispiel in der begleitenden Pressemitteilung, in der eine Rede von Joe Biden aus dem Jahr 2016 vor der American Association for Cancer Research zitiert wird. In dieser hat der damalige Vizepräsident im Rahmen der „Cancer Moonshot“-Initiativen Fortschritte bei der Krebsbekämpfung gefordert und dabei auch das Potenzial von Open Access für die medizinische Forschung betont.
Die USA gestalten Open Science als Teil ihrer Innovationspolitik. So wurde eine Anforderung zum Umgang mit digitalen Forschungsdaten auch jüngst im „Chips and Science Act“ verankert.
Welche Rolle spielten die Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie, als Wissenschaftler*innen zuhause festsaßen und von dort aus auf Publikationen zugreifen mussten?
Die COVID-19-Pandemie hat die Vorteile von Open-Science-Praktiken verdeutlicht. Das haben wir auch im Rahmen unserer Arbeit im Helmholtz Open Science Office beobachtet. Wir begleiten den Kulturwandel hin zu Open Science für die Helmholtz-Gemeinschaft, die größte Forschungsorganisation in Deutschland, und sehen in unserer täglichen Praxis, dass Wissenschaftler*innen sehr viel aktiver Aufsätze, Forschungsdaten und Forschungssoftware offen teilen als noch vor 10 Jahren. So wurden in Helmholtz im Publikationsjahr 2019 bereits 67 % der Fachartikel im Open Access veröffentlicht.
In der Pandemie hat gerade der offene Austausch von Preprints deutlich zugenommen. Damit sind aber auch Herausforderungen verbunden; zum Beispiel gilt es bei Preprints die Limitationen der noch nicht qualitätsgesicherten Ergebnisse zu beachten. Erfreulich ist, dass viele Forschende ihre Ergebnisse auf Twitter und Co. allgemeinverständlich kommunizieren.
„Wir brauchen ein nachhaltiges digitales Ökosystem an Open-Science-Infrastrukturen.“
Ist die Policy auch eine Antwort auf veränderte Nutzungspraktiken, etwa die verstärkte Nutzung von Schattenbibliotheken wie SciHub oder LibGen? Erleichtert die Policy zukünftig den Zugriff für die Nutzer*innen, so dass Schattenbibliotheken obsolet werden?
Schattenbibliotheken sind keine Lösung. Wir brauchen ein nachhaltiges digitales Ökosystem an Open-Science-Infrastrukturen, auf denen Artikel, Forschungsdaten und wissenschaftliche Software dauerhaft gespeichert und offen zugänglich gemacht werden. Die neue Policy der US-Regierung wird die Weiterentwicklung dieses Ökosystems fördern. Sie fokussiert erfreulicherweise den Betrieb von digitalen Repositorien und sieht die Anwendung von persistenten Identifikatoren zur dauerhaften Adressierung digitaler Informationsobjekte vor [das sind eindeutige Bezeichnungen, etwa der sogenannte DOI für Publikationen, Anm. d. Red.].
Hier gibt es diverse Anknüpfungspunkte zu den Aktivitäten in Deutschland und Europa rund um die Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) und die European Open Science Cloud (EOSC). Mit unserem Service re3data (Registry of Research Data Repositories) haben wir in den letzten zehn Jahren erfolgreich die Kartierung des digitalen Ökosystems begleitet. Aktuell weisen wir knapp 3.000 solcher Repositorien für digitale Forschungsdaten nach. Zukünftig gilt es, dieses Ökosystem auszubauen und so die digitale Souveränität der Wissenschaft zu stärken.
Große Wissenschaftsverlage wie Elsevier oder Wiley stellen bei Open-Access-Publikationen zunehmend auf APCs (article processing charges), also vorträglich von den Autor*innen finanzierte Publikationen um. Was bedeutet die neue Policy für diese Verlage?
Es wird nun sehr auf die praktische Umsetzung der Policy in den einzelnen Behörden ankommen. Sie sind jetzt aufgefordert, Pläne zur Realisierung vorzulegen. Diese Pläne werden auch auf die Wissenschaftsverlage wirken.
Der Blick auf die Praxis des National Institute of Health (NIH) in den USA, die bereits seit 2008 eine Open-Access-Policy erfolgreich umsetzt, zeigt, dass das Zusammenspiel von Verlagen und Open-Access-Repositorien gut realisierbar ist.
Auch wir haben in einem von der DFG geförderten Projekt namens DeepGreen die Kooperation mit Verlagen erfolgreich umgesetzt. Über DeepGreen wurden 2021 mehr als 19.000 wissenschaftliche Artikel automatisiert von Verlagen auf Open-Access-Repositorien übertragen und dort frei zugänglich gemacht.
Unter dem Begriff der Open-Access-Transformation wird am Umbau des digitalen Publikationssystems gearbeitet. In Helmholtz haben wir mit vielen Verlagen Rahmenverträge zu Open Access abgeschlossen. Auch mit dem DEAL-Projekt verfolgen wir dieses Ziel im Rahmen der Allianz der Wissenschaftsorganisationen. Dank dieser Initiative wurden im Jahr 2021 über 27.000 Artikel im Open Access realisiert. An diese positiven Beispiele gilt es in der weiteren Umsetzung anzuknüpfen.
„Bemerkenswert ist aber der politische Wille in den USA, Open Access jetzt umzusetzen.“
Je mehr (wissenschaftliche) Texte, Dokumente und Datensätze offen zur Verfügung stehen, desto mehr Anwendungen für Forschende, Privatleute, Unternehmen und andere interessierte Kreise ergeben sich daraus, beispielsweise durch Text and Data Mining oder dem Training von AI-Techniken. Was für Effekte (fernab von Zugreifen/Lesen/Zitieren) erwarten Sie aus der Vermehrung von offenen Publikationen?
Die Anwendung von AI-Verfahren hat in vielen Fachgebieten deutlich an Bedeutung gewonnen. Die Methoden werden besser und auch die Anzahl der Open-Access-Veröffentlichungen steigt. Damit wächst der Korpus an Publikationen, der digital bearbeitet werden kann. Das US-Memorandum sieht vor, dass wissenschaftliche Publikationen maschinenlesbar, zum Beispiel entsprechend der Auszeichnungssprache JATS, offen zugänglich gemacht werden. Das ist bemerkenswert.
Auch in Deutschland und Europa sollten wir in Verträgen mit Verlagen darauf einwirken, dass Publikationen maschinenlesbar sind und über standardisierte Schnittstellen abgefragt werden können.
Die USA sind nach wie vor die bedeutendste Wissenschaftsnation der Welt. Festigt die Policy ihre Führungsrolle? Werden andere Wissenschaftsnationen, darunter auch Deutschland, nachziehen und ähnlich ambitionierte Open-Science-Programme entwickeln müssen, um nicht den Anschluss zu verlieren?
Mit dem Plan S, den einige Förderorganisationen auf EU-Ebene vorgelegt haben, gibt es durchaus ähnliche Ansätze in Europa. Bemerkenswert ist aber der politische Wille in den USA, Open Access jetzt umzusetzen. Nun wird es noch wichtiger, die Kooperation bei der Umsetzung der Transformation zu Open Access auf internationaler Ebene zu stärken.
Wir sind Partner in dem BMBF-Projekt open-access.network, in dem neben einer Informationsplattform die Vernetzung zum Thema Open Access gefördert wird. Die Nachfrage nach solchen Angeboten ist sehr groß. Es gibt einen großen Informations- und Vernetzungsbedarf rund um die Realisierung von Open Access. Auch im Bereich des offenen Zugangs zu digitalen Forschungsdaten und des nachhaltigen Umgangs mit Forschungssoftware wächst die Anzahl der Initiativen und Akteur:innen.
„Das Paradigma des wissenschaftlichen Wissens als Allgemeingut sollte uns anleiten.“
Was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung in den Bereichen Open Access und Open Science?
Laut dem Open-Access-Monitor, den unsere Kolleg:innen am Forschungszentrum Jülich betreiben, sind aktuell 57 % der Zeitschriftenartikel, die an wissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschland entstehen, frei zugänglich. Wir haben also noch einiges zu tun. Kooperation ist der Schlüssel. Mit Blick auf die wissenschaftliche Selbstverwaltung braucht es Foren, in denen wir den Umgang mit Wissen und Information breit diskutieren und gestalten. Das Paradigma des wissenschaftlichen Wissens als Allgemeingut sollte uns anleiten. Nur kooperativ können wir nachhaltige Publikationsinfrastrukturen in akademischer Trägerschaft fördern, auf denen Artikel, Forschungsdaten, Forschungssoftware und weitere Ressourcen vernetzt und offen publiziert, rezipiert und diskutiert werden können.
Herr Pampel, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
iRights.info informiert und erklärt rund um das Thema „Urheberrecht und Kreativität in der digitalen Welt“.
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