Wenn Wissenschaftsverlage zu Datenkraken werden
Datenschützer*innen ist das Tracking von Nutzer*innen im Netz schon lange ein Dorn im Auge: Unternehmen und andere Akteure können mithilfe bestimmter Technologien umfassende und präzise personalisierte Nutzungsprofile von Personen erstellen – oft ohne das Wissen der Nutzer*innen.
Für Unternehmen sind die Daten eine nicht zu unterschätzende Einnahmequelle, weil die aggregierten Daten etwa dafür sorgen, dass Angebote oder Werbeanzeigen individuell zugeschnitten werden können. Gleichzeitig können große Datenmengen auch allgemeine gesellschaftliche Tendenzen offenlegen und in einem zweiten Schritt beeinflussbar machen. Wissen ist Macht – das gilt auch für personenbezogene Daten im Netz.
Dass auch vermehrt Wissenschaftler*innen und ihr Rechercheverhalten in digitalen Informationsangeboten von der Nachverfolgung und Auswertung betroffen sind, zeigen nun erste Initiativen, die sich gegen eine Ansammlung von Nutzer*innenprofilen und für mehr Datenschutz in der Wissenschaft aussprechen.
Initiative fordert: „Stop tracking Science“
Wissenschaftsverlage nutzen zunehmend die Möglichkeiten der Datenaggregation. Die Initiative „Stop tracking Science“ der Deutschen Zentralbibliothek für Medizin (ZB MED) – Informationszentrum Lebenswissenschaften und verschiedener Forschenden ruft daher gegen die Kommerzialisierung durch Datenhandel in der Wissenschaft auf.
Laut der Initiative, die bereits mehr als vierhundert Personen unterzeichnet haben, verletzt das Tracking der Forschenden im Netz grundlegende Rechte und die Integrität einer offenen Wissensgesellschaft. Nach der Kommerzialisierung und der damit einhergehenden Herausbildung einer marktbeherrschenden Stellung einiger weniger Großverlage stehe nun eine weitere Enteignung der Wissenschaft auf der Tagesordnung, so die Initiator*innen: der Wechsel vom Verkauf von Inhalten zum Handel mit Daten. Wissenschaftliche Verlage würden zu Datenhandels- und Datenanalyseplattformen.
Sie fordern daher, das Tracking von Wissenschaftler*innen zu stoppen. Tracking dürfe nicht länger Gegenstand von Verhandlungen zwischen Forschungseinrichtungen und Verlagen sein. Zudem fordern die Unterzeichner*innen mehr Offenheit und freien Zugang zu Wissen und Forschung: Offene Standards in der wissenschaftlichen Kommunikation müssten Vorrang vor Lösungen haben, die Wissensmonopole und Anbieterbindung förderten, heißt es übersetzt aus dem Englischen.
Damit wird auch dem Open-Access Gedanken Rechnung getragen, der gerade in der Corona-Pandemie aufgezeigt hat, wie wichtig der freie Online-Zugang zu beispielsweise Bibliotheken und Textsammlungen ist.
Um diese Forderungen zu erfüllen, sollen Forschungseinrichtungen die „Declaration on Research Assessment“ (DORA) oder eine gleichwertige Verpflichtung unterzeichnen, so die Initiator*innen. Die Declaration on Research Assessment (zu Deutsch: „Erklärung zur Forschungsbewertung“) richtet sich gegen die gängige Praxis, die Bedeutung von Wissenschaftler*innen und ihren Publikationen in Verhältnis zu der Häufigkeit ihrer Zitierung zu stellen (sogenannter Impact Factor) und als Entscheidungsfaktor für die Qualität einzelner Forschungsartikel oder bei Einstellungs-, Beförderungs- oder Finanzierungsentscheidungen zu verwenden.
Institutionen, die sich nicht an diese Grundsätze hielten, müssten von Förderungen ausgeschlossen werden. Die Petition kann weiterhin unterzeichnet werden.
Verlagstrojaner und Drittanbieter
Wie weit das Tracking in der Wissenschaft bereits etabliert ist, zeigt das kürzlich veröffentlichte Informationspapier „Datentracking in der Wissenschaft: Aggregation und Verwendung bzw. Verkauf von Nutzungsdaten durch Wissenschaftsverlage“ des Ausschusses für Wissenschaftliche Bibliotheken und Informationssysteme der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
In der Stellungnahme erheben die Autor*innen schwere Vorwürfe gegen die großen Wissenschaftsverlage wie Springer oder Elsevier, bei denen eine „Transformation von Wissenschaftsverlagen hin zu Data Analytics Businesses“ stattgefunden habe.
Die Wissenschaftsverlage bauten Technologien in ihr Angebot ein, die es den Verlagen ermöglichten, personalisierte Profile der Nutzenden mittels verschiedener Parameter wie Zugriffs- und Nutzungsmesswerten, Angaben zur Verweildauer oder Tippgeschwindigkeit zu erfassen und zu speichern.
Bei den eingesetzten Technologien kämen unter anderem sogenannte Trojaner zum Einsatz, also Softwareprogramme, die im Hintergrund und ohne Wissen der Anwender*innen Daten im großen Umfang erheben und speichern. Diese Programme würden „Bibliotheken im Zusammenhang mit Rabatten für andere Leistungen angeboten werden“.
Die Bibliotheken setzen damit Software ein, die auf intransparente Art und Weise Daten – darunter auch biometrische Daten wie die Art der Mausbewegung – erfasst und umfassende Nutzer*innenprofile erstellt. Die daraus entstehenden Datensätze würden Verlage wie Springer oder Elvesier für eigene kommerzielle Zwecke einsetzen.
Die Tracking-Werkzeuge, die die Verlage einsetzten, stammen häufig von großen Drittanbietern wie Google und Facebook oder auf das Tracking spezialisierten Unternehmen, die „das Informationsverhalten von Hochschulangehörigen plattformübergreifend [erheben] und im Fall von Google, Facebook oder Twitter mit dem bereits vorliegenden Wissen über ihr sonstiges Onlineleben“ verknüpften, so die Autor*innen.
Für die betroffenen Studierenden und Forscher*innen seien diese Praktiken weitgehend unbekannt. Auch fehle es häufig an transparenten Datenschutzinformationen, die über diese Verfahren aufklären.
Mit Überwachung gegen Schattenbibliotheken
Die wissenschaftlichen Großverlage begründen den Einsatz von Tracking-Werkzeugen und Spyware damit, gegen sogenannte Schattenbibliotheken wie Sci-Hub (kurz für Science Hub) vorgehen zu wollen.
Schattenbibliotheken sind Volltextdatenbanken im Internet, die grundsätzlich wie klassische Bibliotheken öffentlich eingesehen werden können. Sci-Hub etwa umgeht die in öffentlichen Bibliotheken bestehenden urheberrechtlichen Beschränkungen, indem sich die Website als Bibliothek ausgibt, die bereits Zugang zu einem Text erworben hat. Sci-Hub bietet nach diesem Vorgehen derzeit Zugriff auf mehr als 75 Millionen Dokumente an. Die Idee hinter diesen Umgehungspraktiken ist häufig, den Zugang zu Wissen und Forschung zu öffnen und die Beschränkungen der großen Wissenschaftsverlage auszuhebeln. Da dabei aber Urheberrechte verletzt werden, versuchen die Großverlage diese Praktiken mit allen Mitteln zu verhindern.
Die unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Schattenbibliotheken eingesetzte Spyware würde dabei aber – so die Deutsche Forschungsgemeinschaft – „die Sicherheit von Hochschulnetzen“ aushebeln und „die Hochschulen potenziell Angriffen aller Art“ aussetzen.
Seit Anfang des Jahres werden auf Sci-Hub keine neuen Texte mehr in das Archiv hochgeladen. Hintergrund ist eine Klage der Großverlage Elsevier und Wiley sowie einer US-amerikanischen Wissenschaftsvereinigung für Chemie vor einem indischen Gericht.
Mitte Mai gab die Sci-Hub-Gründerin Alexandra Elbakyan außerdem bekannt, dass sie offenbar vom FBI ins Visier genommen wird. Daraufhin organisierten Nutzer*innen des Internet-Forums Reddit eine Rettungsaktion des Archivs von Sci-Hub, um per Torrent knapp 80 Terrabyte an wissenschaftlichen Aufsätzen langfristig zur Verfügung zu stellen.
Ist die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr?
Die Freiheit wissenschaftlicher Publikationen und Forschungsergebnisse ist eine essenzielle Voraussetzung, um sich über wissenschaftliche Erkenntnisse austauschen und diese weiterentwickeln zu können. Nicht umsonst wird die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre gemäß Artikel 5 des Grundgesetzes als Grundrecht geschützt.
Die Anonymität von Forscher*innen und Forschungseinrichtungen spielt für die Freiheit der Wissenschaft aus verschiedenen Gründen eine grundlegende Rolle: Sie sichert nicht nur die persönliche Freiheit von Wissenschaftler*innen, ihre Forschung ohne Einfluss von Dritten zu betreiben, sondern kann auch verhindern, dass die Informationsversorgung und der Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen unvoreingenommen und unabhängig von kommerziellen Interessen gewährleistet wird.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt nicht zuletzt auch davor, dass Informationen in die falschen Hände geraten – etwa in die von autoritären Regierungen und monopolisierten Unternehmen.
In der EU gibt es mit dem Plattformgrundgesetz – oder „Digital Service Act“, wie das Gesetz auf Englisch heißt – bereits Pläne im großen Stil, die Macht von Konzernen wie Google und Facebook zu regulieren und zu beschränken.
Der Ausschuss für Wissenschaftliche Bibliotheken und Informationssysteme der Deutschen Forschungsgemeinschaft sieht aber auch die Wissenschaftsorganisationen in der Verantwortung: Sie müssten „die rechtlichen wie technischen und ethischen Rahmenbedingungen ihrer Informationsversorgung klären“, auch, um „ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu informieren und zu schützen“.
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