Mehr Online-Kurse und E-Books – mehr Open Access? Wie sich die Pandemie auf Unibibliotheken auswirkt
Die Corona-Pandemie betrifft die allermeisten Menschen in Deutschland. Organisationen sind dazu gezwungen, auf Heimarbeit umzustellen und digitale Kooperations- und Kommunikationslösungen zu finden. Auch Studierende und Mitarbeiter*innen von Universitäten müssen sich mit der Situation arrangieren und die Lehre ins Netz verlegen.
Die Pandemie, so der allgemeine Tenor, erzwinge Innovation und befördere die Digitalisierung, auch in Gedächtnisinstitutionen wie Museen, Archiven und Bibliotheken. Doch wie genau transformiert sich die Arbeitswelt während dieser Ausnahmesituation? Welche Probleme zeigen sich, welche Änderungen bleiben nach der Pandemie erhalten?
Jürgen Christof ist Direktor der Universitätsbibliothek der Technischen Universität (TU) Berlin. Im März 2020 musste sich die Bibliothek innerhalb sehr kurzer Zeit und praktisch aus dem Stand auf ein digitales Sommersemester einrichten. Das, so erzählt Christof im Gespräch, sei grundsätzlich sehr gut geglückt, offenbare aber auch strukturelle Probleme.
Online-Bibliothekskurse für tausende Studierende
Derzeit startet an den Berliner Universitäten das Wintersemester: An der TU Berlin bestreiten Lehrende und Lernende die Vorlesungen, Seminare und Übungen größtenteils über digitale Angebote. Sie diskutieren, kooperieren und forschen online, viele Studierende lernen ihre Kommiliton*innen und Dozent*innen zunächst nur in Videokonferenzen kennen.
Auch die Einführungskurse, in denen Mitarbeiter*innen die Erstsemester mit den Angeboten der Bibliothek vertraut machen, finden digital statt. Etwa 7.000 Studienanfänger*innen hat die TU Berlin allein im Wintersemester – alle in Präsenzkursen über die Angebote der Bibliothek zu informieren, sei auch vor der Pandemie nicht möglich gewesen, so Christof.
Die Online-Kurse schafften hier Verbesserung und seien eine sehr gute Ergänzung zum studentischen Alltag. Gemäß dem Motto, „Aus der Not eine Tugend machen“ hält der Bibliotheksleiter die Online-Kurse für ein geeignetes Mittel, um die große Zahl der Studierenden anzusprechen, auch über die Pandemie hinaus. Er ist sicher: „Das wird bleiben.“
Hohe Kosten für E-Book-Lizenzierung akzeptiert
Die Literaturversorgung der Studierenden und der Unimitarbeiter*innen durch digitale Formate wurde, wo immer es möglich war, sichergestellt. Heißt im Klartext: Mehr Lizenzen für E-Books, weniger Anschaffungen von physischen Exemplaren, etwa von Lehrbüchern. Der Printankauf sei während des Lockdowns vollständig zum Erliegen gekommen.
Auch hier also ein Digitalisierungsschub? Ja, wenn auch nicht ungezwungen: „In der Vergangenheit haben wir“, so Christof, „in bestimmten Fällen wegen – das kann man schon so sagen – inakzeptabler Geschäftsmodelle der Verlage und zum Teil unverschämt hoher Kosten ganz bewusst auf die Anschaffung eines E-Books verzichtet.“
Wegen der Unzugänglichkeit der analogen Buchbestände habe die Bibliothek die hohen Anschaffungskosten und problematische Nutzungsmodalitäten zähneknirschend akzeptiert: „In dieser speziellen Situation (der Pandemie, Anm. d. Red.) haben wir die Zurückhaltung diesbezüglich aufgegeben und auch ein paar solcher Lehrbücher von Verlagen lizenziert, bei denen man schon in die Tischkante beißen muss, weil die Lizenzierungsbedingungen schlecht beziehungsweise die Beschaffungskosten inakzeptabel hoch waren.“
Hinweis in eigener Sache:
Die Lage der Gedächtnisinstitutionen im Zusammenhang mit dem Urheberrecht – während der Corona-Krise und generell – wird auch bei der diesjährigen Konferenz „Zugang gestalten“ diskutiert.
Zum Beispiel im Beitrag „Open Access zum Kulturerbe“ von Dr. Antje Schmidt oder in der Fokusrunde zu Gedächtnisinstitutionen im Lockdown mit Prof. Dr. Linda Kuschel, Dr. Till Kreutzer und Prof. Dr. Anne Lauber-Rönsberg.
Die Konferenz steht dieses Jahr unter dem Titel „Innovationsschub“ findet am 29. und 30. Oktober 2020 als reine Online-Veranstaltung statt. Weitere Informationen und Anmeldemöglichkeit unter zugang-gestalten.org.
Kurzfristige Verlagsaktionen: „Unglückliche Gemengelage“
Zwar hatten zu Beginn der Pandemie einige große Verlage den Zugang zu ihren Kollektionen freigegeben, darunter JSTOR, Springer, Elsevier und DeGruyter, aber auch viele andere Verlage – allerdings nur teilweise und oft nur zeitlich beschränkt. Und manche der temporär geöffneten Zugänge sind inzwischen wieder geschlossen.
Diese Aktionen seien kurzfristig hilfreich gewesen, um die Auswirkungen des Lockdowns in der ersten Zeit abzufedern. Jürgen Christof sieht sie dennoch kritisch. Prinzipiell seien solche Verlagsinitiativen zur Öffnung ihrer Bestände zwar begrüßenswert, so der Bibliotheksdirektor. Doch die zeitliche Befristung erzeuge viel Unsicherheiten, daher könne er sie nur „mit einem lachenden und einem weinenden Auge“ sehen.
„Studierende und Lehrende haben für einen bestimmten Zeitraum Zugang, zum Beispiel zu einem von ihnen geschätzten E-Book – und wenige Monate später wird Ihnen dieser verwehrt und das E-Book hinter der Paywall versteckt.“ Für die Bibliothek bedeute dies eine unglückliche Gemengelage, so Christof.
Trotz – oder gerade wegen – der Pandemie nimmt Christof Open Access als gestärkt wahr. Er sieht den Trend zu mehr Offenheit in der Literaturbereitstellung weiter zunehmen: „Sowohl Studierende wie auch das Forschungs- und Lehrpersonal haben festgestellt, wie wichtig der uneingeschränkte Zugang zu wissenschaftlicher Literatur ist.“
Verlage und Bibliotheken verfolgen eigene Interessen – und sind doch aufeinander angewiesen
Der Übergang vom Sommer- zum Wintersemester ist ein guter Zeitpunkt für ein Zwischenfazit. Die Pandemie macht strukturelle Konflikte und widerstreitende Interessen gut sichtbar.
Verlage wollen Geld verdienen, sie haben ein kommerzielles Interesse am Verkauf von Lehr- und Forschungsliteratur – Bibliotheken dagegen verfolgen den Auftrag, den langfristigen Zugang zu Informationen, Daten und Wissen für eine möglichst große Öffentlichkeit herzustellen. Diesen Reibungspunkt hob auch der Bibliothekswissenschaftler Harald Müller kürzlich im Interview mit iRights.info hervor.
Insofern treten während der Pandemie grundsätzliche Schwierigkeiten von Bibliotheken deutlich zutage. Die Erkenntnis, dass Bibliotheken zentrale Akteurinnen in der Bereitstellung von Wissen sind, dürfte vielen während der Pandemie vor Augen geführt werden.
Diese Erkenntnis könnte ein indirektes Verdienst der außergewöhnlichen Situation sein. Noch ist die Pandemie in vollem Gange. Doch womöglich entwickelt sich gerade eine neue Normalität, auch im Verhältnis von Studierenden, Forschenden, Bibliotheken und Verlagen bezüglich digitaler Lehre und Lehrmedien.
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