Schattenbibliotheken: Ein Krisensymptom der Wissenschaft
Das Geschäft mit wissenschaftlichen Aufsätzen ist lukrativ. Im Jahr 2016 gaben größere wissenschaftliche Bibliotheken in Deutschland laut Angaben der Deutschen Bibliotheksstatistik mehr als 100 Millionen Euro für Zeitschriftenabonnements aus. Auch als Reaktion auf die seit Jahren steigenden Kosten für den Zugang zu wissenschaftlicher Literatur haben sich verschiedene Lösungsansätze herausgebildet: die Open-Access-Bewegung und sogenannte Schattenbibliotheken.
Schattenbibliotheken sind Internetdienste, die ohne Zustimmung der Rechteinhaber allen Interessierten den Zugriff auf wissenschaftliche Literatur ermöglichen. Die Dienste greifen auf rechtswidrig erstellte Datenbanken mit wissenschaftlichen Volltexten zu. Dazu gehört etwa die Datenbank „Library Genesis“ (LibGen), am weitesten bekannt ist heute der Dienst Sci-Hub. Ist ein Artikel noch nicht in diesen Datenbanken enthalten, wird er von Verlagswebseiten heruntergeladen und in das System eingespeist. Sci-Hub nutzt dabei Zugänge, die etwa von ForscherInnen an Universitäten oder Bibliotheken stammen.
Eine aktuelle Untersuchung der US-Forscher Daniel Himmelstein und seiner Kollegen zeigt, dass die Anfragen bei Sci-Hub nach wissenschaftlichen Aufsätzen auf diese Weise nahezu vollständig erfüllt werden können. Für die Untersuchung, deren Peer-Review noch nicht abgeschlossen ist, werteten sie unter anderem Log-Dateien aus, die Sci-Hub veröffentlicht hat. Die Datenbank von Sci-Hub enthält demnach bereits mehr als zwei Drittel aller wissenschaftlichen Aufsätze, die in der Artikelregistratur „Crossref“ vermerkt sind. Ein illegales Angebot, das einen so umfassenden Zugang bietet, können weder Verlage noch die Wissenschaft ignorieren.
Zeitschriftenkrise und Bibliotheken
Die Entstehung von Schattenbibliotheken lässt sich als Reaktion auf mangelnden Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen verstehen, wie der Piraterieforscher Balázs Bodó ausführt. Klassische Bibliotheken, die ihrem Auftrag nach wissenschaftliche Literatur erwerben und ihren NutzerInnen zur Verfügung stellen, beobachten dagegen seit vielen Jahren einen deutlichen Anstieg der Lizenzgebühren für elektronische Zeitschriften. Da die Preissteigerungen die Budgets vieler Bibliotheken überschreiten und diese sich zur Kündigung von Abonnements gezwungen sehen, wird die Entwicklung als „Zeitschriftenkrise“ bezeichnet.
Jelka Weber von der Staatsbibliothek Berlin berichtete auf einer Veranstaltung zum Thema von Preissteigerungen von bis zu 20 Prozent für einzelne Titel. Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften stiegen die Preise aktuell um 6 bis 7 Prozent pro Jahr. Die Staatsbibliothek kam zu der Entscheidung, fast alle Zeitschriftenabonnements in den Naturwissenschaften zu kündigen. Die Zeitschriftenkrise schränkt damit die Verfügbarkeit von wissenschaftlicher Literatur über Bibliotheken erheblich ein.
Diese Krise wird durch einige Besonderheiten des Marktes für wissenschaftliche Literatur verschärft. Der Markt wird von wenigen Großverlagen dominiert, die regelmäßig Gewinnmargen von bis zu 37 Prozent erwirtschaften – mehr als beispielsweise Google oder Apple. Da WissenschaftlerInnen für ihre Arbeit auf aktuelle Fachliteratur angewiesen sind, sinkt die Nachfrage bei steigenden Preisen nicht zwangsläufig. Auch politische und rechtliche Entscheidungen können den Zugang zu wissenschaftlicher Literatur behindern. Ohne die kürzlich beschlossene Reform des Urheberrechts für Bildung und Wissenschaft wäre die Literaturversorgung über digitale Semesterapparate an Hochschulen in Gefahr geraten.
Reaktionen auf die Krise
Als Reaktion auf diese Entwicklungen haben sich verschiedene Ansätze herausgebildet:
- Open Access
Open Access steht für den Versuch, das gängige Abonnement-Modell für wissenschaftliche Fachliteratur mithilfe neuer Geschäfts- und Lizenzierungsmodelle umzuwälzen. Über verschiedene Ansätze, etwa den „grünen“ oder „goldenen“ Weg des Open Access, soll ein freier Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen eröffnet werden. Beim grünen Weg machen Autoren ihre Beiträge – Vorabversionen oder bereits erschienene Aufsätze – erneut online verfügbar. Der goldene Weg bezeichnet eine Publikation über eigene Open-Access-Zeitschriften.
Auch Forschungsförderer sprechen sich zunehmend für Open Access aus und machen den freien Zugang bei den von ihnen finanzierten Projekten zur Bedingung. Obwohl die Bewegung seit ihrem Entstehen viel erreicht hat, sind bisher nur etwa 28 Prozent aller wissenschaftlichen Aufsätze im Weg des Open Access verfügbar, wie die kanadische Forscherin Heather Piwowar und ihre Kollegen errechnet haben.
- Guerilla Open Access
Für die Guerilla-Open-Access-Bewegung geht Open Access auf herkömmlichem, legalem Weg nicht weit genug. Der Aktivist und Programmierer Aaron Swartz argumentierte 2008 im Guerilla Open Access Manifesto, der Zugang zu wissenschaftlichen Ressourcen sei ein Privileg, aus dem ein „moralischer Imperativ“ zum Teilen erwachse. In seinem Manifest rief er zum zivilen Ungehorsam gegen die Geschäftspraktiken von Wissenschaftsverlagen auf, zum Beispiel zum Austausch von Passwörtern.
- Schattenbibliotheken
Diesem Grundsatz folgen auch Schattenbibliotheken, die sich über geltendes Recht hinwegsetzen, um den Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbessern. Sci-Hub-Gründerin Alexandra Elbakyan beruft sich unter anderem auf Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der auch die Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt enthält. Die Startseite von Sci-Hub nennt mittlerweile die Zahl von 64,5 Millionen Dokumenten, die in der Datenbank enthalten sind. Genutzt wird Sci-Hub nicht nur von Wissenschaftlern an Einrichtungen, die ansonsten gar keinen Zugang hätten, sondern weltweit.
Sci-Hub scheint sich somit zunehmend zur ersten Anlaufstelle für die Literaturbeschaffung zu entwickeln, wie beispielsweise eine Untersuchung der aus Utrecht über den Dienst heruntergeladenen Dokumente zeigt. Die Bibliothekarin Bianca Kramer berechnete, dass drei Viertel der Aufsätze legal über die dortige Bibliothek verfügbar gewesen wären; entweder über Lizenzen der Verlage oder als Open-Access-Publikation. Für ForscherInnen, die eigentlich einen Bibliothekszugang zur Verfügung hätten, könnte der besonders einfache und bequeme Zugriff über Sci-Hub entscheidend sein, so ihre Vermutung.
Schattenbibliotheken: Die juristische Seite
In der öffentlichen Debatte haben Schattenbibliotheken durch Klagen von Verlagen besondere Aufmerksamkeit erhalten. Ein New Yorker Bezirksgericht entschied im Juni 2017, dass Sci-Hub und LibGen Urheberrechte verletzen. Dem Verlag Elsevier sprach das Gericht 15 Millionen US-Dollar Schadensersatz für die nicht genehmigte Verbreitung von 100 wissenschaftlichen Artikeln zu, an denen der Verlag die Rechte inne hat. Offen ist, ob der Verlag seinen Anspruch auch praktisch durchsetzen kann. Eine weitere Klage reichte die American Chemical Society im Juni dieses Jahres ein.
Während man mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass die Betreiber einer Schattenbibliothek Urheberrechte verletzen, muss das nicht automatisch auch für alle Handlungen der Nutzer gelten. Der Bibliotheksrechtler Eric Steinhauer kam 2016 zu dem Schluss, dass zwar das Ausdrucken und Abspeichern von Artikeln aus Sci-Hub in der Regel nicht erlaubt sei, das bloße Lesen am Bildschirm dagegen in einer Grauzone stattfinde. Einerseits lasse sich das Lesen als „Werkgenuss“ ansehen, der vom Grundsatz her keiner Erlaubnis bedürfe. Andererseits sei auch der bloße Lesezugriff am Bildschirm ein Szenario, für das kommerzielle Dienstleister Lizenzen anbieten. So betrachtet, könnten auch die „flüchtigen“ Kopien, die beim Lesen über den Browser anfallen, wirtschaftlich bedeutend sein und den Rechteinhabern schaden. Sci-Hub-NutzerInnen würden somit auch dann Urheberrechte verletzen, wenn sie lediglich Artikel am Bildschirm lesen.
Im Frühjahr 2017 befasste sich der Europäische Gerichtshof mit einer ähnlich gelagerten Frage: Er entschied, dass auch flüchtige Kopien, wie sie beim Streaming von Filmen aus illegaler Quelle entstehen, Urheberrechte verletzen können. Nicht nur die Anbieter, auch die Nutzer solcher Angebote können sich demnach prinzipiell haftbar machen. Seit diesem Urteil liegt es nahe, diese Bewertung auf Schattenbibliotheken zu übertragen. Dann wäre bereits der Aufruf von Artikeln, die unrechtmäßig über Sci-Hub verfügbar sind, eine Urheberrechtsverletzung – wenngleich es eher unwahrscheinlich ist, dass einfache NutzerInnen mit einer Verfolgung rechnen müssen. Klarheit gibt es jedoch letztlich erst, wenn Gerichte in Europa sich mit dieser Frage befasst haben.
Schattenbibliotheken und Open Access
Auch WissenschaftlerInnen und Bibliotheken haben auf die Zeitschriftenkrise reagiert. So haben Forscher zum Publikationsboykott gegen einige Großverlage aufgerufen, darunter Elsevier. Bibliotheken wiederum wollen ihre Kräfte bündeln: Sie haben Abonnements gekündigt oder nicht verlängert und hoffen auf eine stärkere Verhandlungsposition bei einer deutschlandweiten Lizenzierung von Zeitschriften im Projekt „DEAL“. Unterdessen helfen Forschern auch legale Werkzeuge wie der Open Access Button oder Unpaywall, um weiterhin auf Fachliteratur zuzugreifen.
Darüber hinaus droht Verlagen durch Sci-Hub hoher finanziellen Schaden, wie das Urteil vom Juni dieses Jahres zeigte. Vielleicht bewegt das Großverlage zu einer Veränderung ihrer Geschäftspraxis. Da aber zumindest Elsevier für ein hartes Auftreten gegenüber geschäftsschädigenden Praktiken bekannt ist, scheint dieser Effekt fürs Erste eher unwahrscheinlich.
Weit wichtiger scheint allerdings, dass Schattenbibliotheken zwar kostenlosen Zugang bieten, nicht aber das tiefer liegende Problem des Monopols auf wissenschaftliche Reputation lösen. Die Leistung von WissenschaftlerInnen wird hauptsächlich daran gemessen, ob sie ihre Forschungsergebnisse in angesehenen Zeitschriften mit hohen Impact-Faktoren veröffentlichen können. Viele der bestangesehenen Zeitschriften gehören Verlagsoligopolisten, was zu einer strukturellen Abhängigkeit der publizierenden ForscherInnen von diesen Verlagen führt. Schattenbibliotheken lösen also nicht das Problem fehlender Anreize, Ergebnisse direkt im Wege des Open Access frei verfügbar zu veröffentlichen.
Fazit
Open Access und Schattenbibliotheken lassen sich als verschiedene Antworten auf dasselbe Problem verstehen, den hohen Hürden beim Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Obwohl sie ähnliche Ziele verfolgen, können Schattenbibliotheken aber nur kurzfristig den Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen verbessern. Die mittel- und langfristigen Bemühungen um einen Kulturwandel zu mehr Offenheit in den Wissenschaften und um Reformen des Urheberrechts, die auf einen legalen Zugang zielen, können sie nicht ersetzen. Dennoch zeigt Sci-Hub, wie effizient die Literaturbeschaffung gestaltet werden kann, wenn aus der Wissenschaft heraus eine Abkehr vom Subskriptionsmodell organisiert wird. Und es zeigt, dass sich WissenschaftlerInnen offenbar genau das wünschen.
4 Kommentare
1 Schmunzelkunst am 12. August, 2017 um 21:00
Was die Betrachtung der illegal ins Netz gestellten Texte durch den Endnutzer anbetrifft, würde ich mich nicht so sehr am Streaming-Urteil, sondern mehr Caching-Urteil des EuGH orientieren: http://lexetius.com/2014,1730
“… 55 Zunächst werden die Bildschirm- und die Cachekopien nur zum Zweck der Betrachtung der Internetseiten erstellt und stellen daher einen Sonderfall dar … 56 Sodann verletzen diese Kopien die berechtigten Interessen der Urheberrechtsinhaber nicht ungebührlich, obwohl sie den Internetnutzern den Zugang zu den auf den Internetseiten dargestellten Werken grundsätzlich ohne die Zustimmung dieser Inhaber erlauben … 63 Unter diesen Umständen ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 5 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen ist, dass die von einem Endnutzer bei der Betrachtung einer Internetseite erstellten Bildschirm- und Cachekopien den Voraussetzungen, wonach diese Kopien vorübergehend, flüchtig oder begleitend und ein integraler und wesentlicher Teil eines technischen Verfahrens sein müssen, sowie den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 5 dieser Richtlinie genügen und daher ohne die Zustimmung der Urheberrechtsinhaber erstellt werden können.”
Das passt besser als das Streaming-Urteil, bei dem es um das Betrachtung von Filmen mit Hilfe einer holländischen Teufelsmaschine (;-)) ging.
2 David Pachali am 14. August, 2017 um 11:59
Bis zum Streaming-Urteil des EuGH hätte ich das auch so gesagt. Aber auch die holländische Teufelsmaschine „Filmspeler“ ist nur ein Computer mit einem Arbeitsspeicher. Der Pferdefuß daran ist m.E. die zitierte Bedingung, dass die Cache-Kopien
müssen, also „die normale Verwertung des Werks“ nicht beeinträchtigen bzw. „die berechtigten Interessen des Rechtsinhabers“ nicht ungebührlich verletzen dürfen. Tun sie das, hilft auch die Schranke für flüchtige Kopien samt ihren Kriterien nicht. Der EuGH kommt im Streaming-Urteil aber zum Schluss, dass die Cache-Kopien Urheberrechte verletzen, weil
* die Nutzer „freiwillig und in Kenntnis der Sachlage“ ein illegales kostenloses Angebot nutzen (Rn. 69)
* der Aufruf von Streams aus unautorisierter Quelle der normalen Verwertung solcher Werke schadet (Rn. 70)
Nach Ansicht des EuGH scheint es bei Cache-Kopien neben deren wirtschaftlicher Bedeutung nun auch auf die Kenntnis des Nutzers anzukommen. Ob man das systematisch überzeugend findet, sei dahingestellt, aber nun ist das Urteil in der Welt.
3 Schmunzelkunst am 16. August, 2017 um 18:18
Besten Dank für die Klarstellung. Auch ich hatte befürchtet, dass da der Hase im Pfeffer liegt und aus diesem Grund die Rn. 56 aus den Caching-Urteil mitzitiert. Die Bedeutung des Kriteriums, nach dem „die normale Verwertung des Werks“ nicht beeinträchtigt bzw. „die berechtigten Interessen des Rechtsinhabers“ nicht ungebührlich verletzt werden dürfen konnte ich bisher kaum abschätzen. Das Cachen, mit dem z. B. ein einzelner Beitrag (Bild, Text oder Film) kurzfristig von einem einzelnen Endnutzer zwischengespeichert wird und das ausschließlich der urheberrechtsfreien Betrachtung am Bildschirm dient, tangiert die berechtigten Interessen des Rechtsinhabers so gut wie gar nicht, selbst wenn in einem Einzelfall „freiwillig und in Kenntnis der Sachlage“ ein illegales Angebot genutzt wird. Das Cachen ist nur ein vorgeschobenes Argument, mit dem die urheberrechtsfreie Betrachtung, die zugegebenermaßen den Interessen der Urheber entgegenlaufen kann, kriminalisiert wird. Das ist der Fluch der Digitalisierung. An den analogen Musikübertragungen früherer Piratensender hätte sich der EuGH die Zähne ausgebissen ;-).
4 David Pachali am 16. August, 2017 um 18:28
„Fluch der Digitalisierung“ bringt das ganze UrhR-Schlamassel gut auf den Punkt…
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