Bibliotheken müssen weiter Kopien versenden dürfen
Die internationalen Zeitschriftenverlage Elsevier, Georg Thieme und Springer hatten im Dezember 2011 vor dem Handelsgericht in Zürich gegen den Dokumentenlieferdienst der Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) geklagt. Aus ihrer Sicht verstößt die ETH gegen das Urheberrecht, wenn sie digitale Kopien an Empfänger versendet, die nicht Hochschulangehörige sind. Als Aufhänger dienten zwei Artikel aus dem Jahre 2005 und 2006, welche die Bibliothekare elektronisch oder postalisch verschickt hatten.
Die ETH-Bibliothek sieht sich im Recht, weil sie für den Dokumentenlieferdienst – auch als Bibliothekskopie bekannt – jährlich entsprechende Vergütungen an die Pro Litteris zahlt, die Schweizer Verwertungsgesellschaft für Literatur und bildende Kunst. Im Jahre 2010 waren es rund 11.500 Franken, wovon die Verwertungsgesellschaft entsprechende Tantiemen an ihre Mitglieder ausschüttete. Im April 2014 gab das Zürcher Handelsgericht den drei klagenden Verlagen recht. Weil die ETH-Bibliothek dieses Urteil angefochten hat, liegt die Entscheidung derzeit in letzter Instanz beim Schweizer Bundesgericht in Lausanne.
Was der Rechtsstreit bedeutet
Der Streit zwischen der Hochschule und den Verlagen verweist auf mehrere Grundsatzfragen:
- Soll ein Zeitschriftenartikel als ganz gewöhnliche Ware erhältlich sein, besonders für Leser, die keinen Hochschulzugang zu einem Verlagsportal haben? Soll die Dokumentation von Forschungsergebnissen staatlicher Institutionen eine Ware wie etwa ein Musiktitel sein?
- Sollen den Bibliothekaren auch in Zukunft Ausnahmeregeln zugestanden werden?
- Können die Verlage mit ihren Onlineportalen den Zugang zu Zeitschriftenartikeln genauso gut oder gar viel effizienter selbst organisieren?
Wohlgemerkt: In der Welt der Wissenschaften zählen Artikel, die fünf oder sechs Jahre alt sind, meist schon als Altpapier. Der Wissenschaftsforscher Derek de Solla Price hatte 1963 auf Basis von Statistiken die Halbwertszeit von wissenschaftlichen Veröffentlichungen analysiert. Schon damals stellte er fest, dass sich die Zitationsphasen einer Publikation schnell verkürzten und die Zahl an Veröffentlichungen in der Wissenschaften exponenziell wachse, wodurch die Halbwertszeit wissenschaftlicher Publikationen rapide sinke.
Bibliothekskopie schon seit 1930er Jahren umstritten
Seit die Bibliotheken in den 1930er Jahren damit begonnen hatten, Fotokopien und Mikrofilmabzüge an ihre Benutzer zu verschicken, bildet die Bibliothekskopie Anlass für Kontroversen. Besonders die amerikanischen Bibliothekare erblickten in den neuen Kopiertechniken neue Distributionskanäle für wissenschaftliche Publikationen. Sie verbanden mit ihnen die Hoffnung auf eine neue Wissensgemeinschaft von Weltbürgern, die ungehindert von nationalen oder rechtlichen Barrieren Dokumente austauschen.
Bereits 1931 wurde in Deutschland im Börsenblatt des deutschen Buchhandels argumentiert, dass die Bibliothekskopie „an Stelle des Originals“ trete und damit die „Absatzinteressen“ der Verleger gefährde. Gemeint war damit die von der Musikindustrie bei den Schallplatten bereits etablierte Praxis, jegliche Vervielfältigung unter die Kontrolle der Verleger zu bringen. Doch die Bibliothekskopie überlebte als Ausnahmeregelung bis heute. Begründet wurde diese vergütungsfreie „Eigengebrauchsregelung“ mit dem Schutz der allgemeinen Interessen der Öffentlichkeit.
83 Jahre später argumentiert nun das Zürcher Handelsgericht in seinem Urteil (PDF) mit dem technologisch begründeten Wandel vom analogen zum digitalen Zeitalter. Weil die Verlage inzwischen die Zeitschriftenartikel auf ihren Onlineportalen auch einzeln zum Verkauf anbieten, konkurriere der Dokumentenlieferdienst der ETH-Bibliothek mit den Online-Dienstleistungen der Verlage und stelle eine Gefahr für ihre finanziellen Interessen dar. Dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit werde Genüge getan, wenn die wissenschaftlichen Aufsätze in den Räumen der Bibliothek weiterhin kopiert werden könnten. Das Gericht ließ sich dabei zur Aussage verleiten, dass der Dokumentenlieferdienst nicht zu den Kernaufgaben wissenschaftlicher Bibliotheken gehöre, die in der Zugänglichmachung von Literatur bestehe.
Verlagsangebote schaffen Zugang für einige Privilegierte
Das Urteil des Züricher Handelsgerichts stärkt nicht nur die Online-Verkaufsstrategien der Verlage und schränkt den an die Öffentlichkeit gerichteten Service der Bibliotheken ein. Die Rechtskontroverse um den ETH-Dokumentenlieferdienst hat auch einen Systemwechsel zur Folge: von dem seit Jahrzehnten genutzten Verrechnungssystem der Schweizer Verwertungsgesellschaft Pro Litteris zu einem Digital Rights Management (DRM) unter Eigenregie der Verlage.
Doch es steht noch viel mehr auf dem Spiel: Im Rechtsstreit zwischen Elsevier, Georg Thieme und Springer und der ETH-Bibliothek geht es letztlich um die Regelung der Wissensdistribution im digitalen Zeitalter. Es ist zu fragen, ob es im öffentlichen Interesse liegt, wenn der Zugang zu Wissen nur noch jenen Benutzern der Bibliotheken zur Verfügung steht, die über eine Anbindung an eine Institution verfügen, die Lizenzen erworben hat, etwa eingeschriebene Studierende, Hochschuldozentinnen und Universitätsmitarbeiter – während alle anderen potenziellen Nutzer persönlich in den Bibliotheken erscheinen müssen. Damit wird ein Zweiklassensystem privilegierter und marginalisierter Nutzer geschaffen.
Urheber werden vorgeschoben, Wissensarchive gefährdet
Die klagenden Verlage wiederum argumentieren zum Zweck der rigorosen Durchsetzung von Exklusivlizenzen mit der Figur des Urhebers. Doch so sehr sie im Interesse der wissenschaftlichen Zeitschriftenverlage liegt, so sehr widerspricht sie den Interessen der wissenschaftlichen Autoren, deren Forschungsarbeit meist schon bezahlt ist und die vor allem eines wollen: gelesen werden.
Am gravierendsten ist der Gerichtsentscheid hinsichtlich der Zugänglichkeit zu Wissensarchiven. Die Verlage wollen durch die Einrichtung kommerzieller Online-Archive die Dienstleistungen der öffentlichen Bibliotheken einschränken und die Verbreitung von wissenschaftlichen Publikationen exklusiv betreiben können – wobei sie auf die Bibliothekskopie als dann konkurrierende Dienstleistung verweisen.
Sollte sich diese Regelung durchsetzen, dann ist wohl die langfristige Speicherung und Distribution von Wissen gefährdet. Sind die Online-Dienstleistungen der Verlage erst dem volatilen Marktgeschehen ausgeliefert, besteht die Gefahr, dass sie durch Kostenmanagement, Konkurse oder Fusionen schrumpfen oder gar verschwinden könnten. Das ist keineswegs eine abwegige Annahme und spricht dafür, den öffentlich finanzierten Bibliothekaren weiterhin Ausnahmeregelungen im Urheberrecht zuzugestehen.
Expansion der Verlagswirtschaft in die Aufgaben der Bibliotheken
Die Kläger Elsevier, Georg Thieme und Springer gehören zu den globalen Tycoons in der naturwissenschaftlichen Publikationsindustrie. Dennoch haben sie den Ausbau von Exklusivrechten mitunter auch mit staatlichen Subventionen vorangetrieben. Etwa, indem sie sich an die Open-Access-Strategien der nationalen Wissenschaftsförderungsinstitutionen hefteten und damit eine weitere Einkommensquelle erschlossen haben, wie Caspar Hirschi kürzlich in der NZZ dargelegt hat.
Demnach verlangen die Großverlage für die Open-Access-Option einzelner Beiträge eine Bezahlung von den Urhebern: „Autoren, die das Wachstum des freien Wissens oder der eigenen Zitationen befördern wollen, können ihre Artikel öffentlich zugänglich machen – gegen eine Gebühr von bis zu 5.000 Dollar.“
Es liegt also nahe, die Klagen der drei Zeitschriftenverlage, über die das Bundesgericht derzeit zu entscheiden hat, vor allem im Licht dieser Expansionsstrategie einzuordnen. Die Verlage verfolgen damit offenbar das Ziel, ihre Exklusivrechte für Publikationen auch gegenüber den Tätigkeiten und Aufgaben der Bibliotheken auszuweiten. Es geht den Verlagen nun darum, ihr gesamtes Archiv wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu versilbern, einschließlich der von den Naturwissenschaften kaum noch zitierten, jedoch für die Geisteswissenschaften und insbesondere die Geschichtswissenschaft bedeutsamen Bestände älterer Zeitschriftenartikel.
Bibliothekare schweigen bislang
Demgegenüber befolgen die Bibliothekare in Erwartung des Bundesgerichtsurteils anscheinend weitgehend brav die Regel, dass Schweigen Gold sei. Dies könnte sich als fatal erweisen. Wenn die Vervielfältigungstätigkeit wissenschaftlicher Bibliotheken von den Klägerinnen als Eingriff in die normale Werkwertung bezeichnet wird, sollten wissenschaftliche Autorinnen langsam aus ihrem behaglichen Tiefschlaf aufwachen.
Die Rechtsvertreter der drei Großverlage haben das wissenschaftliche Zeitschriftengeschäft mit der Musikindustrie verglichen und eine Analogie zwischen der Verlagerung von der Langspielplatte zum Download einzelner Songs und der Entstehung des Einzelartikelverkaufs neben dem Zeitschriftenabonnement gezogen. Hier aber müsste die Frage gestellt werden, ob der Vertrieb von wissenschaftlichen Zeitschriftenartikeln exklusiv den Onlineportalen der Verlage überlassen bleiben soll.
Die Produktion von Wissen findet nicht allein innerhalb der wohlausgestatteten Institutionen statt, sondern manchmal an unerwarteten Orten, wie die Geschichte des Computers eindrücklich gezeigt hat. Im Silicon Valley verdichtete sich die Forschung aus losen Verbindungen innnerhalb und außerhalb des Hochschulsystems. Daraus gingen Innovationen und neue Geschäftsfelder hervor, die heute an der Börse hoch gehandelt werden. Die Urheberrechtsregeln sollten deshalb nicht zu eng gefasst werden.
Kein Grund, Ausnahmeregelungen fallen zu lassen
Aus Sicht der Allgemeinheit gibt es keinen Grund, den Forderungen der Tycoons des journal business nach einer Exklusivlizenz für ihre Onlineportale stattzugeben und die Ausnahmeregelungen für Bibliotheksdienste fallen zu lassen. Das Bundesgericht sollte deshalb die Rechtsprechung des Zürcher Handelsgerichts dringend überprüfen. Forscherinnen und Forscher sind dazu aufgerufen, ihre Publikationsgewohnheiten im Verbund mit den großen Zeitschriftenverlagen zu überdenken.
Der Historiker Robert Darnton hat einige wichtige Fakten und Gedanken hierzu im Mai 2014 in der New York Review of Books formuliert. Ob es dann letztlich wieder die dort neu aufgebrachte Vision einer Weltbibliothek sein muss, die bereits in den 1930er Jahren skizziert wurde – oder ob dezentrale, von Forscherinnen, den Bibliotheken und neuen Verlagen mit neuen Geschäftsmodellen betriebenen Plattformen den Bedürfnissen der lokal und global denkenden Wissenschaft und der Öffentlichkeit nicht besser entsprechen, sei vorerst noch offen gelassen.
1 Kommentar
1 Christian Gutknecht am 19. Oktober, 2014 um 22:01
Es ist richtig und wichtig, dass sich die ETH-Bibliothek gegen den Angriff der Verlage auf den Dokumentlieferdienst verteidigt.
Wichtiger wäre allerdings mehr Engagement bezüglich Open Access, gerade von der ETH-Bibliothek. Denn Open Access bietet eine reale Lösung auf so viele Probleme. Die meisten Schweizer Universitäten haben die Berliner Erklärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen von 2003 unterschreiben. Trotzdem bezahlen sie seither Jahr für Jahr trotz Alternativen immer mehr Geld in Millionenhöhe an die Closed-Access Verlage, so dass man das Gefühl hat sie stecken mit diesen Verlagen unter einer Decke.
Als ich kürzlich in Erfahrung bringen wollte, wieviel die Bibliotheken in der Schweiz heute an die Verlage Elsevier, Springer und Wiley bezahlen, wollten mir die Bibliotheken keine Zahlen nennen, um den Verlagen nicht zu schaden: http://wisspub.net/2014/10/13/intransparenz-bei-den-bibliotheksausgaben-von-schweizer-hochschulen/
Ich habe mir inzwischen aus Verzweiflung sogar Aktien von Elsevier gekauft (http://bit.ly/1ClVdv6), da offenbar die Bibliotheken unfähig sind, sich zu koordinieren und etwas gegen die Tycoons des Journal Business zu unternehmen. Wenn meine Steuergelder schon so verschwendet werden, dann bekomme ich nun zumindest auf privater Ebene etwas zurück.
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