US-Musikindustrie 1990-2007
Der Musikmarkt in den USA ist der größte der Welt. Als solcher bildet er Industrietrends deutlich ab. Der wichtigste Industrieverband für Plattenfirmen, die Recording Industry Association of America (RIAA), veröffentlicht regelmäßig Zahlen zum Zustand der Branche. Darunter befinden sich sowohl Absatz- als auch Umsatzzahlen. Ein Blick in diese Zahlen kann helfen, zu verstehen, in welcher Umbruchphase sich die Branche befindet.
Die Grafik zeigt den Absatz von physischen Tonträgern in den Jahren 1990-2007. Berücksichtigt wurden ausschließlich so genannte “Longplayer”. Singles, Musikvideos und neue, exotische Tonträgermedien wie DVD-Audio oder SACD wurden außer acht gelassen. Es wurde unterschieden zwischen traditionellen (analogen) Tonträgern (orange Kurve) und dem digitalen Tonträgermedium CD (blaue Kurve). Zusätzlich wurde das Aggregat dieser beiden Kategorien gebildet (grüne Kurve). Die Phase der von etwa 1995-2001 andauernden so genannten “Internet-Blase” wurde hervorgehoben. Im Zeitverlauf der aggregierten Absatzkurve wurden technologische Schlüsselinnovationen markiert.
Bei der Absatzentwicklung im Markt für physische Tonträger in den USA lassen sich seit 1990 drei große Phasen unterscheiden:
- Wachstumsphase (1991-1994): Nach einem Abschwung in den achtziger Jahren ist es mit der Einführung der CD gelungen, eine Trendwende herbeizuführen. Seit 1991 wächst der Absatz von Tonträgern wieder. Dabei gewinnt die CD gegenüber den traditionellen Tonträgermedien – MC, LP und EP – schnell die Überhand. Im Verlauf des Jahres 1991 wird die CD zum dominierenden Tonträgermedium. Der Gesamtabsatz von physischen Tonträgern steigt bis 1994 im Vergleich zu 1990 um rund 50 Prozent auf über 1 Milliarde verkaufter Tonträger.
- Konsolidierungsphase (1994-2000): Der Absatz physischer Tonträger pendelt sich mit größeren Ausschlägen 1997 nach unten und 1999 nach oben um 1 Milliarde Stück ein. Das große Wachstumspotenzial der vergangenen Jahre ist weitgehend erschöpft. Zum Ende der Konsolidierungsphase hat die CD mit rund 90 Prozent Marktanteil eine unangefochtene Spitzenstellung im Markt erreicht. Wenn Musik verkauft wird, dann wird sie auf CD verkauft. (Der Absatzkorridor für die Konsolidierungsphase wurde extra hervorgehoben.)
- Schrumpfungsphase (seit 2000): Der Absatz physischer Tonträger sinkt kontinuierlich. Da kaum noch traditionelle Tonträger verkauft werden, bedeutet das, dass der CD-Absatz einbricht. Abgesehen von einer kurzen Erholungsphase 2004 hält die Schrumpfungsphase bis heute an. 2005 lag der Gesamtabsatz von physischen Tonträgern etwa wieder auf dem Niveau von 1991.
Interpretation
Wie lassen sich die drei Phasen erklären?
Wachstumsphase
Für die Wachstumsphase könnte die Einführung der CD im Jahr 1983 eine plausible Erklärung liefern. Zu Beginn waren CD-Player vergleichsweise teure Konsumgüter und das Angebot an Musik-CDs eingeschränkt. Im Vergleich zu Schallplatten und Musikkassetten waren CDs zudem teure Tonträger. CDs kosteten ungefähr doppelt soviel wie Langspielplatten mit derselben Musik. Es war also der Kostenfaktor, der die Nachfrage begrenzte. Mit sinkenden Preisen für CD-Player und einem wachsenden Angebot an Musik bekam ein größerer Teil der US-Bevölkerung die Möglichkeit, das neue Tonträgermedium zu nutzen. Die wahrgenommenen Vorteile der CD gegenüber den analogen Tonträgermedien führte nicht nur dazu, dass neue Musik verstärkt auf CD erworben wurde. Viele Musikliebhaber kauften sich auch Musik auf CD nach, die sie bereits auf analogen Tonträgermedien gekauft hatten. Dieser Nachkauf-Effekt dürfte einen wichtigen Wachstumsimpuls beigesteuert haben.
Konsolidierungsphase
Für die Erklärung der Konsolidierungsphase dürfte eine wichtige Eigenschaft der CD eine große Rolle spielen, die sie von den traditionellen Tonträgermedien unterscheidet. Schallplatten und Musikkassetten sind Tonträgermedien, die bei der Benutzung einer vergleichsweise hohen Verschleiß aufweisen. Demgegenüber ist die CD bei bestimmungsgemäßem Gebrauch praktisch verschleißfrei. Innerhalb des betrachteten Zeitraums von 1990-2007 akkumulieren sich die verkauften CDs, ohne dass eine zusätzliche Nachfrage nach Ersatz für verschlissene CDs generiert wird. Je mehr CDs verkauft werden, desto mehr CDs sind in den Haushalten vorhanden, die sich im praktischen Neuwertigenzustand befinden. Eine Schallplatte, die mit einem durchschnittlichen Schallplattenspieler vielleicht 100 mal abgespielt wurde, weist deutliche Zeichen von Verschleiß auf. Eine CD, die mit einem durchschnittlichen CD-Player 100 mal abgespielt wurde, weiß dagegen sehr wahrscheinlich nur marginale Zeichen von Verschleiß auf, die sich zudem nicht auf die Qualität der Musik beim Abspielen auswirken. Zu der fehlenden Ersatznachfrage kommt noch die hervorragende Eignung von CDs für den Wiederverkauf im Gebrauchtmarkt hinzu. Die dortigen Absatzzahlen werden von der RIAA-Statistik nicht erfasst.
Schrumpfungsphase
Die folgende Grafik zeigt, wie viele CDs pro Kopf der Bevölkerung in den USA von 1990-2007 verkauft worden sind.
Man erkennt eine S-Kurve, wie sie typisch für die Marktdurchdringung so genannter dauerhafter Güter ist. Das S kommt dadurch zu Stande, dass die Nachfrage kurz nach der Produkteinführung nur langsam wächst, mit zunehmender Popularität des Produkts schneller wächst, und schließlich wieder nachlässt, nachdem die Haushalte ausreichend mit dem Produkt versorgt sind. Seit 1990 hat jeder US Bürger mehr als 40 CDs neu gekauft. In einem vierköpfigen Haushalt haben sich also seit 1990 rund 160 CDs angesammelt. Selbst, wenn man 10 oder 20 Prozent davon als Verschleiß abziehen würde, verbliebe noch eine stattliche Zahl an CDs. Es ist also keineswegs verwunderlich, dass die Nachfrage nach neuen CDs in den vergangenen Jahren gesunken ist. Die Marktsättigung scheint schon eine Weile erreicht zu sein.
Diese Annahme erscheint umso plausibler, wenn man die folgende Grafik betrachtet. Dargestellt ist die Menge der in den USA seit 1990 verkauften, neuen CDs.
Bis einschließlich 2007 wurden mehr als 12 Milliarden neue CDs verkauft. Selbst unter Berücksichtigung eines gewissen Verschleißes darf man wohl guten Gewissens annehmen, dass mindestens 10 Milliarden dieser CDs noch existieren. Ein nennenswerter Anteil von ihnen – genaue Zahlen existieren nicht – werden im Gebrauchtmarkt gehandelt werden. Die dort angebotenen CDs machen zwangsläufig in gewissem Umfang dem Handel mit neuen CDs Konkurrenz. Selbst, wenn nur 5 Prozent der gebrauchten CDs gehandelt werden, wären das immer noch rund 500 Millionen Stück. Das entspräche circa 50 Prozent der während der Konsolidierungsphase jährlich neu verkauften CDs.
Auf den Punkt gebracht, kann man folgende These formulieren:
Das Verhalten des Marktes für physische Tonträger in der Phase von 1990-2007 wurde maßgeblich durch die spezifischen Produkteigenschaften der CD geprägt.
Damit ist nicht gesagt, dass die Einführung von CD-Brennern, die Verbreitung der Musikkompression im MP3-Format oder das Aufkommen von Peer-to-Peer-Tauschbörsen gänzlich ohne Einfluss gewesen ist. Wahrscheinlich haben sie aber das Erreichen der Konsolidierungs- und Schrumpfungsphase lediglich beschleunigt. Auch ohne diese neuen Technologien hätte der Markt für neue Musik-CDs nicht ewig weiterwachsen können. Auch die Konsolidierungsphase musste irgendwann zu Ende gehen, da sich die gekauften CDs bei den Käufern langsam aber sicher stapelten.
9 Kommentare
1 Till Kreutzer am 16. März, 2009 um 09:32
Sehr gute Analyse. Vor allem der Gebrauchtmarktfaktor wird – wie ja auch in der o.g. Studie – viel zu sehr unterschätzt. Diesbezüglich wäre interessant zu untersuchen, wie sich das Aufkommen und die Durchsetzung von Internet-Gebrauchtmärkten, vor allem von eBay, auf die Absatzentwicklung ausgewirkt hat.
2 Patrick Kontschak am 7. April, 2009 um 23:51
Ich finde, dass gerade die neuen Technologien die Schrumpfungsphase immens beschleunigt hat. Das ist keines Falls etwas Verwerfliches. Die CD hat die LP ja auch von ihrem Thron gezogen – und das mit dem Segen der Musikindustrie. An der LP kann man am besten sehen, dass jedes Medium einen Nachfolger haben wird.
Ansonsten wie mein Vorredner bereits erwähnt hat: Sehr gute Analyse.
3 Tobias Knapp am 8. April, 2009 um 10:51
Wird auch gerne vergessen, dass dies ja nicht die erste Krise ist, in der die Tonträgerindustrie steckt. Zwar kann man die Früheren vom Volumen her längst nicht mit der Heutigen vergleichen, das Prinzip war aber immer das gleiche. Neue Technologie verdrängt altes Übertragungsmittel. Neues Übertragungsmittel birgt also Eigenschaften in sich, die der Konsument dann bevorzugt. Beispiel: Beim Aufkommen von Radiosendern ging der Verkauf von Schellack Platten massgeblich zurück. Kann dem also nur zustimmen. Die CD ist ein überaltertes Medium.
4 Hannes am 8. April, 2009 um 12:59
Ein fantastischer Artikel. Ich wollte immer schon mal diese Daten durchforsten, aber das hat sich hiermit erledigt. Vielen Dank!
5 DrNI am 14. Mai, 2009 um 17:10
Es wäre interessant zu wissen, in wie weit die Käufer zunächst auch einfach ihre LP-Sammlung “nochmal gekauft” haben, als nämlich CD-Ausgabe. Die alte Hendrix-LP ist sowieso verkratzt, wieso nicht einfach das gleiche nochmal als CD kaufen… nur: irgendwann hat man eben die alten Platten alle wieder, die Vergangenheit ändert sich ja nicht, und schwupps ist ebenfalls eine Sättigung erreicht.
Das ist natürlich nur eine Hypothese, die jemand mal belegen müsste.
Zur hier vorgestellten These: 1998 habe ich das erste mal unter Linux auf der Kommandozeile ein MP3 erstellt. Das ging damals etwa in halber Echtzeit, es dauerte also doppelt so lange, wie der Song lang war. Mit den Jahren ging das immer schneller und schneller. Dann kamen die mobilen Player… wer eine neue CD kauft, der kopiert die doch vernünftigerweise heutzutage erst mal auf den Rechner und stellt sie dann sorgfältig ins Regal, wo ihr definitiv nichts mehr zustößt. Dies würde den hier postulierten Effekt sogar noch verstärken.
Was sagen Sie dazu?