Archivierung von Elektroakustischer Musik: Neue Technik, neue Versionen – neue Urheber*innen?
Künstlerische musikalische Arbeiten stehen von jeher in enger wechselseitiger Beziehung mit aktuellen technologischen Entwicklungen. Dies ist besonders deutlich bei der Elektroakustischen Musik und der Computermusik zu sehen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie elektroakustische, elektronische oder digitale beziehungsweise auf Codes basierende Klangerzeugung und Klangveränderung beinhalten.
Die schnellen Entwicklungen gerade im Bereich digitaler Technologien hat zur Folge, dass die bei der Erarbeitung eingesetzten Technologien schnell veralten und dann nicht mehr funktionstüchtig oder mit neueren Geräten kompatibel sind, beispielsweise aufgrund rascher Generationenwechsel von Hard- und Software.
Für aktuelle Aufführungen dieser Musik sind daher zumeist neue Versionen des technischen Set-Ups beziehungsweise neue Fassungen des (Programm-)Codes nötig. Hinzu kommt, dass die Dokumentation der Originalstücke oft lückenhaft ist.
Werden die Codes erneuert, ergeben sich zahlreiche technische und rechtliche Fragen, beispielsweise wie diese neuen Codes einzuordnen sind und wie eine angemessene Archivierung der so entstehenden Code-Versionen erfolgen kann.
In diesem Kontext stellt sich auch die Frage nach der Urheberschaft neu: Wer sollte als Urheber*in der neuen Codes gesehen werden, insbesondere, wenn ein Programm nach einer Anpassung an aktuelle Software umgestaltet oder, aus unvollständigen Quellen rekonstruiert, völlig neu erstellt wird? Und was bedeutet das jeweils für die Nutzungsrechte?
Neue Technologien – neue Codes: Herausforderungen am Beispiel der Mixed Music
In der Mixed Music zeigen sich die Herausforderungen, die mit den kontinuierlich wechselnden Technologien einhergehen, gerade mit Blick auf Urheberschaft und Archivierung sehr deutlich.
Mixed Music Kompositionen kombinieren akustisch-instrumentelle und elektronische Klangquellen. Das bedeutet, dass die Kompositionen sowohl Informationen für Musiker*innen, zum Beispiel Notation oder Spielanweisungen, als auch einen elektronischen Teil, beispielsweise Audiodateien (vorgefertigte Tonspuren, oft als „Tape“ bezeichnet), komplexe Synthesizer-Kombinationen oder Programmcodes (mitunter auch „Patches“ genannt) zur Klangerzeugung oder ‑veränderung in Echtzeit beinhalten.
Für die Aufführung der Stücke ist daher der Einsatz von Technologien zwingend notwendig. Damit unterliegen die Werke grundlegenden Herausforderungen, die durch den technologischen Fortschritt entstehen.
Musikalische Kompositionen, die eine technische Realisierung benötigen
Am Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) erarbeiteten Komponist*innen in den 1980er und 1990er Jahren ihre Kompositionen zumeist mit Hilfe eines sogenannten „Assistante Musicale“ beziehungsweise später „Réalisateur en Informatique Musical“ (RIM). Diese kümmerten sich – in Absprache mit den Komponist*innen – um die Programmierung und Realisierung der technischen Aspekte einer Komposition.
Teilweise erarbeiteten die RIMs diese auch komplett eigenständig nach Vorgabe der Komponist*innen. RIMs werden in der Regel nicht bei Angaben zu den Urheber*innen der Stücke, jedoch bei der Premiere und gegebenenfalls bei nachfolgenden Aufführungen als solche genannt (siehe hierzu beispielsweise die Angaben in der IRCAM Datenbank B.R.A.H.M.S. zu Kompositionen in der Kategorie „electroacoustique“).
Werden neue Aufführungen einer Mixed Music Komposition erarbeitet oder drohen Codes oder Bänder aufgrund des technischen Fortschritts oder der physischen Vergänglichkeit ihres Trägermaterials verloren zu gehen, erarbeiten RIMs, heute bezeichnet als „Computer Music Designer*innen“ oder „Electronic Musicians“, neue, aktuelle Versionen des elektronischen Kompositionsteils – zumeist in digitaler Form und teilweise auch als reine Transfer-Versionen, die nur zum Sichern der Daten gedacht sind und nicht auf ihre Funktionalität getestet werden.
Alte und neue Versionen
Grundsätzlich gibt es verschiedene Ansätze, um aktuelle Versionen des elektronischen Kompositionsteils zu erstellen, die unterschiedlich stark voneinander beziehungsweise vom Original(-code) abweichen.
Grund dafür sind nicht nur technische Gegebenheiten oder der Zeitpunkt der Erstellung, sondern auch die Interessen der Erstellenden. So haben manche Versionen das Ziel eines möglichst Original-nahen Klangergebnisses, wofür auch ein weit abweichender Code akzeptiert wird. Oder aber es soll ein möglichst Code-getreues Update verwendet werden, was mitunter jedoch ein sehr differierendes Klangergebnis verursachen kann.
Wird die originale Programmiersprache beibehalten, so ist zumeist ein Update auf einen sehr ähnlichen Code bei sehr ähnlichem Klangergebnis möglich. Auch die Quelle, auf der eine neue Version fußt, kann Einfluss auf das Ergebnis haben; wird beispielsweise auf reinen Transfer-Codes aufgebaut, können ungewollte „Übersetzungsfehler“ mangels Vergleichbarkeit mit dem Original weitergetragen werden.
In einigen Fällen werden die programmierten Teile auch komplett neu erstellt, insbesondere dann, wenn es dazu strukturelle Beschreibungen in der Partitur oder der beigelegten Dokumentation gibt. Die Motive dafür sind unterschiedlich und reichen von Lehrformaten (Programmierübungen) über einen Wechsel der Programmiersprache bis hin zur Ermangelung anderer Programmcodes (veröffentlichte Partitur, jedoch kein Zugang zu den Patches).
Für die Mixed Music stellt sich hierbei die Frage, ob Code als eigenständiges Element einer Komposition zu sehen ist, oder ob er einem anderen Teil, beispielsweise der Instrumentierung, zugerechnet wird, und welche Kulturtechniken nötig sind, um einen solchen Inhalt entsprechend zu dokumentieren.
Dabei geht es um weit mehr als die reine Konservierung der Inhalte. Mit der Art der Archivierung wird auch bestimmt, was einer späteren Präsentation beziehungsweise Aufführung einer Komposition zugrunde liegt.
Urheberschaft und Nutzungsrechte: Schöpfungshöhe hier nicht zielführend
In diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Urheberschaft – insbesondere mit Blick auf die konstant zu aktualisierenden Patches – neu.
Die Frage nach der „Schöpfungshöhe“ ist hierbei wenig zielführend. Die Komponist*innen sind mit ihrer künstlerischen Arbeit zweifelsfrei Urheber*innen der originalen Komposition, auch wenn sie unter Umständen nicht alle Teile der Komposition selbst erarbeitet haben oder neue Aufführungen vom Original beziehungsweise der Premiere abweichen.
Die Annahme, dass sich Informationen im Laufe der Zeit ändern, je nachdem wie diese dokumentiert oder archiviert werden, ist aus vielen Musikgattungen und Epochen bekannt. In den meisten der „klassischen Musik” zugeordneten Bereiche fallen solche Abweichungen innerhalb eines genretypischen Akzeptanzbereichs unter Fragen der Interpretation einer Komposition.
In der Popularmusik hingegen werden diesbezüglich umfangreiche Debatten geführt, wie sich am Beispiel von ‚Cover‘ und ‚Sampling‘ sowie den damit einhergehenden rechtlichen Fragestellungen zeigt.
Wirft man jedoch einen Blick auf den durch die Grundproblematik der elektronischen Teile angelegten, möglichen Freiraum, innerhalb dessen in der Mixed Music Codes neu erstellt werden können, lohnt sich zum einen eine Diskussion darüber, inwieweit RIMs (retrospektiv) zumindest als Urheber*innen einzelner Teile einer Komposition gewertet werden könnten.
Zum anderen stellt sich die Frage, ob heutige Computer Music Designer*innen und Computer Musicians nicht ebenso viel Schöpfungsanteil an den resultierenden Aufführungen haben wie die Person, die ursprünglich als Komponist*in anerkannt wurde – Fragen, die sich in ähnlicher Art und Weise auch in anderen künstlerischen Bereichen wie beispielsweise der Medien- oder Netzkunst stellen, bei denen (digitale) Technologien einen substantiellen Bestandteil der Arbeit darstellen.
Diese Diskussionen stehen in engem Zusammenhang mit der Frage nach der angemessenen Archivierung und Dokumentation der künstlerischen Arbeiten.
Archivierung: Versionen als Teil des Originals oder als eigenständige neue Fassungen?
Die Erarbeitung einer musikalischen Aufführung ist stark von den zugänglichen Informationen, darunter den archivierten Inhalten und der Art der Dokumentation, aber auch von Wissen um den (historischen) Kontext abhängig.
In der am IRCAM beheimateten internen Datenbank Sidney werden die zu einer am IRCAM produzierten Komposition und deren Aufführungen bekannten (technischen) Informationen gesammelt.
Hierzu zählen auch die bei jeder weiteren Aufführung neu erstellten elektronischen Kompositionsteile. Dies führt zu einem kontinuierlichen Zuwachs an Codes/Patches, die von unterschiedlichen Personen mit verschiedenen Zielen erstellt werden und die in der Datenbank als neue Versionen der Kompositionen erscheinen.
Es werden jedoch nicht alle neu entstehenden Versionen oder neuen Set-Up-Beschreibungen dieser Sammlung in Sidney zugeführt. So fehlen zum Beispiel die nicht benennbare Anzahl an weiteren, oft in Privatbesitz befindlichen Versionen, die im Rahmen von Aufführungen oder Tests außerhalb des IRCAM entstehen.
Die verschiedenen Versionen eines Werkes werden in Sidney so organisiert, dass alle zu einer Komposition verfügbaren Quellen einer Komposition miteinander vernetzt zu finden sind. Die hierzu erarbeitete Struktur basiert auf der grundlegenden Annahme, dass die Versionen als Teil des Originals im Sinne einer Versionengeschichte anzuerkennen sind. Die neuen Versionen des Codes werden also nicht als eigenständige, neue Fassungen gewertet, unabhängig von deren technischer Ausgestaltung.
Die Ersteller*innen der Codes sind nicht immer in der Dokumentation vermerkt, aber in der Regel in den Patches gespeichert. Entscheidungen bezüglich Anpassung, Umspeicherung oder Klangveränderung werden damit zwar nicht notwendigerweise dokumentiert, die nachhaltige Sicherung der Informationen aus den Codes/Patches ist mit diesem Ansatz jedoch für die archivierten Stücke zu einem gewissen Maß gegeben.
Aus pragmatischer Sicht eines Archives, das Möglichkeiten zukünftiger Aufführungen bereithalten möchte, ist dies ein nachvollziehbarer Ansatz, insbesondere, da die rechtliche Lage für die (Original-)Daten damit geklärt ist: Zwar bleiben die Urheberrechte bei den Komponist*innen, das Institut behält sich aber die Nutzungsrechte vor und kann somit über neue Aufführungen entscheiden. Auch die Entscheidung, Codes neu zu erstellen und/oder weiterzugeben liegt damit bei der Institution.
Dies gilt in der Regel auch für die in der internen Datenbank des IRCAM abgelegten Stücke, da diese entweder am IRCAM erarbeitet oder unter dessen Verantwortung aufgeführt wurden. Die Nutzung der Quellen wird über einen limitierten Zugriff gesteuert, Außenstehende können nur bedingt darauf zugreifen und die Inhalte werden nicht zwangsläufig an andere Aufführende weitergereicht. Ebenso ist eine Zuführung extern erstellter neuer Codes oder Informationen möglich, dies wird aber (bisher) nicht aktiv forciert.
Kontextualisierung als Schlüssel
Dies entspricht auch den Erkenntnissen von Joshua Sternfeld, der mit Blick auf Archivierung in seiner Erklärung zur „Digital Historiography“ herausstellt, dass alle Systeme digitaler Bewahrung digitale Technologien nutzen, um Geschichte darstellen zu können.
Für Sternfeld sind die Archivierungsprozesse der Schlüssel zur Kontextualisierung der konservierten Objekte, die er als „Einheiten historischer Information“ bezeichnet, da sie bereits einen Auswahlprozess durchlaufen haben.
Mit anderen Worten: Die archivierten Informationen spiegeln das Verständnis der Geschichtsschreibung sowie die archivarische Perspektive der Archivverantwortlichen wider. Sternfeld konzentriert sich dabei in seinen Ausführungen nicht nur auf die ursprünglich digitalen Inhalte, sondern auf alle Informationen, die unter Verwendung aktueller digitaler Technologien archiviert werden. Dies impliziert, dass die für die Archivierung verwendete Technologie auch die ursprüngliche Information verändern kann und dass unter Umständen zusätzliche Schritte notwendig sind, um die gesamte archivierte Information auszulesen.
Fazit: Tipping Points
Viele der Fragen um die Urheberschaft und die Archivierung digitaler Inhalte sind erst im letzten Jahrzehnt durch die fortschreitende Digitalisierung aufgetreten. Im Rahmen Elektroakustischer Musik stellt sich der Moment der notwendigen Erneuerung eines vorhandenen Codes als ein Tipping Point, ein Wendepunkt in der Entwicklung dar, der grundlegende Fragen der Urheberschaft und Archivierung neuer Codes und Versionen aufwirft – Fragen, die derzeit verstärkt diskutiert werden.
Die größte Herausforderung für die Elektroakustische Musik ist der Erhalt der Kompatibilität: Archive sind aufgrund des technischen Fortschritts gezwungen, ihre Inhalte konstant zu updaten und damit immer neue und zum Teil stark vom Original abweichende digitale Versionen zu erstellen, um die Inhalte (unter anderem die Codes) überhaupt erhalten zu können.
Im Zuge dessen macht es Sinn zu diskutieren, wer Veränderung (an den Codes) vornehmen sollte und wie die daraus folgenden Versionen behandelt und gekennzeichnet werden. Dies beinhaltet auch die Frage nach der Urheberschaft. Ein Blick in benachbarte Disziplinen und deren Umgang mit ähnlichen Fragen ist hierbei sicherlich hilfreich.
Auch dieser Text ist eine Version: Miriam Akkermann hat ihn ursprünglich unter dem Titel „Neue Technologien, neue Versionen – neue Urheber? Fragen und Perspektiven zur Archivierung digitaler Inhalte am Beispiel der Elektroakustischen Musik“ verfasst.
In der Originalfassung erschienen ist der Text im Buch „Tipping Points. Interdisziplinäre Zugänge zu neuen Fragen des Urheberrechts“ (iRights.info berichtete über die Veröffentlichung).
Für iRights.info wurde ein Auszug aus dem Originaltext übernommen und redaktionell überarbeit (gekürzt und stellenweise zusammengefasst, Quellen verlinkt, Abkürzungen ausgeschrieben). Der Auszug steht wie das gesamte Werk unter einer CC BY-SA-3.0-Lizenz.
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