Die Verfügbarkeit der Bilder prägt unser Geschichtsbild
Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus Paul Klimpels Aufsatz „Recht und Geschichtsbild“, erschienen in Ausgabe 1/2020 der Fachzeitschrift „Recht und Zugang“ (Nomos Verlag). Der Aufsatz steht wie die Zeitschrift unter einer CC-BY-SA-Lizenz. Wir veröffentlichen den Auszug mit freundlicher Genehmigung des Nomos Verlags. Über den Start der Zeitschrift berichtete iRights.info.
Deutschland hat ein großartiges Netz öffentlich finanzierter Kultureinrichtungen. Doch Museen, Archive und Bibliotheken sind mit enormen Herausforderungen konfrontiert, wenn sie ihre Bestände digital zugänglich machen wollen oder auch nur einen Eindruck ihrer Schätze über Bilder vermitteln wollen.
Das wird von ihnen gesellschaftlich erwartet. Doch wenn sie Bestände online zugänglich machen, sind zunehmend nicht mehr technische Aspekte im Vordergrund, sondern rechtliche. Urheberrecht und Datenschutz erweisen sich häufig als kaum zu überwindende Hindernisse.
Die wichtigsten Fragen betreffen das Urheberrecht: „Wer ist der Rechteinhaber, wem wurden welche urheberrechtlichen Nutzungsrechte übertragen?“ Diese Fragen sind zumeist alles andere als einfach zu beantworten.
Deutschland: Kaum zu überwindende Hindernisse durch urheberrechtliche Regelungen
Oft spielten diese Fragen keine Rolle, als Museen oder Archive Sammlungen übernommen haben. Das lag auch daran, dass es in der analogen Welt meist eine gesetzliche Grundlage gab, wenn Kulturinstitutionen ihre Bestände der Öffentlichkeit präsentieren wollten.
Mit dem Erwerb von Sammlungsobjekten ist dem Urheberrechtsgesetz zufolge das Recht zur öffentlichen Ausstellung verbunden, zudem ermöglichte die „Katalogbildfreiheit“ (Paragraph 58 Absatz 2 des Urheberrechtsgesetzes alte Fassung) Ausstellungskataloge.
Und jenseits von Ausstellungen und Ausstellungskatalogen gab es damals auch wenig Wege, auf denen Bestände der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Zwar gibt es diese Bestimmungen grundsätzlich immer noch, sie helfen jedoch nicht weiter, wenn es um die dauerhafte Online-Präsentation von Beständen geht.
Gesetzliche Erlaubnisse für die digitale Welt nicht ausreichend
In der digitalen Welt sind die gesetzlichen Erlaubnisse für Kulturerbeeinrichtungen nicht weitgehend genug. Sie decken bei Weitem nicht mehr das ab, was solche Institutionen im Rahmen ihres öffentlichen Auftrages tun sollen.
Deshalb sind diese Institutionen mehr als früher darauf angewiesen, dass ihnen Nutzungsrechte übertragen werden. Allerdings war es oft die Digitalisierung, die dazu führte, dass zum ersten Mal die Frage nach urheberrechtlichen Nutzungsrechten von Beständen überhaupt gestellt wurde.
Nun müssen die Institutionen von jedem Objekt in ihren Sammlungen, das sie digitalisieren und zugänglich machen wollen, den urheberrechtlichen Status klären: von jeder Akte, von jedem Foto, von jedem Bild, von jedem Artikel, von jedem Text. Selbst wenn ein Objekt nicht (mehr) urheberrechtlich geschützt ist, muss eben dies festgestellt werden.
Lange Schutzfristen sorgen für Unsicherheit beim kulturellen Erbe
Jede Online-Nutzung eines urheberrechtlich geschützten Werks benötigt eine lückenlose Kette von Rechteübertragungen vom ursprünglichen Urheber zum Nutzer. Das gilt auch für kulturelles Erbe und damit für Werke, deren kommerzieller Verwertungszyklus meist längst abgelaufen ist, deren urheberrechtlicher Schutz aber noch andauert (Klimpel, Urheberrecht, Praxis und Fiktion, 2015, S. 168, 174).
Aufgrund der sehr langen Schutzdauer sind die meisten Werke des 20. Jahrhunderts noch urheberrechtlich geschützt. Bei unbekanntem Todesdatum des Urhebers wird zwar gemeinhin davon ausgegangen, dass Werke, die vor 1870 entstanden sind, heute gemeinfrei sind.
Dies ist jedoch nur ein pragmatischer Näherungswert. Theoretisch können auch noch früher entstandene Werke geschützt sein. Der älteste Mensch der Welt, die Französin Jeanne Calment, wurde 122 Jahre alt.
Legt man dieses – ja immerhin mögliche – hohe Alter zugrunde und geht davon aus, dass ein Urheber bereits im Alter von 15 Jahren ein Werk geschaffen hat, dann können auch 1845 geschaffene Werke noch geschützt sein.
Dies ist zwar sehr unwahrscheinlich. Doch die Unsicherheit, ob ein Werk überhaupt noch geschützt ist, wenn der Todeszeitpunkt des Urhebers unklar ist, ist eine erste große Unsicherheit – aber nicht die einzige.
Bei wem liegen die Nutzungsrechte?
Auch sonst ist bei älteren Werken meist unklar, wer welche urheberrechtlichen Nutzungsrechte daran hält – insbesondere in Bezug auf die digitalen Nutzungen, die es bei der Schaffung des Werkes ja noch gar nicht gab.
Nutzungsrechte können übertragen werden, ausschließlich oder nicht ausschließlich, übertragbar oder nicht übertragbar, zeitlich begrenzt oder unbegrenzt, für eine bestimmte Nutzungsart oder für jede Nutzung.
Wann auch immer Nutzungsrechte übertragen wurden, gilt es, genau darauf zu achten, welche Rechte für wen übertragen wurden, für welche Nutzung, für welche Zeit, an wen und so weiter. Dazu muss man alle Verträge von allen Urhebern bis zum Nutzer analysieren.
Dabei sind auch die unterschiedlichen rechtlichen Regelungen in Europa zu beachten. Das ist nicht nur kompliziert, das ist vielfach auch unmöglich – selbst wenn man eine aufwändige Suche nach den Rechteinhabern betreibt.
Die deutschen Regelungen im Vergleich mit den USA
Wie sehr das Recht in Europa den Blick auf unsere Geschichte prägt – und auch verfremdet – zeigt ein Vergleich mit den USA. Zwar haben dort Gedächtnisinstitutionen ebenfalls gelegentlich Probleme mit dem Urheberrecht, doch sind die rechtlichen Rahmenbedingungen erheblich besser.
Es gibt zahlreiche Unterschiede in den Rechtsordnungen, doch im Ergebnis ist es in den USA sehr viel einfacher, kulturelles Erbe zu digitalisieren und online zugänglich zu machen.
Die Auswirkungen der einstigen Registrierungspflicht
Die USA sind erst 1989 der Berner Konvention beigetreten, der bindenden internationalen Übereinkunft zum Urheberrecht. Vorher gab es in den USA eine Pflicht zur Registrierung eines Werkes bei der Library of Congress, sollte dies urheberrechtlich geschützt werden.
Auch heute noch ist die Registrierung üblich, wenn auch nicht mehr konstitutiv für den urheberrechtlichen Schutz. Infolge dessen ist die Rechteklärung für ältere Werke in den USA sehr viel einfacher.
Entweder das Werk wurde registriert – dann ist es leicht oder zumindest sehr viel leichter, den Rechteinhaber zu finden. Oder aber es ist nicht registriert – dann ist es nicht wirksam geschützt.
Angesichts der Registrierungspflicht gibt es in den USA auch nicht das Problem, dass unklar ist, ob bei älteren Werken überhaupt (noch) urheberrechtlicher Schutz besteht.
Massendigitalisierung der Alltagskultur problematisch
Die in Deutschland geltenden Regelungen unterscheiden sich von den US-amerikanischen, und das hat ganz konkrete Auswirkungen. In Europa gibt es zahlreiche Zeugnisse der Alltagskultur, aber auch von politischen Ereignissen, die nicht ohne Weiteres online zugänglich gemacht werden können.
Man denke an Flugblätter und Broschüren der Studentenbewegung, der Frauenbewegung oder anderer sozialer Bewegungen. Hierbei handelt es sich häufig um Material am Rande dessen, was überhaupt urheberrechtlich geschützt ist.
Doch angesichts des sehr weitgehenden Schutzes auch der „kleinen Münze“ ist bei den meisten Materialien eine Rechteklärung notwendig. Hier beginnen die Probleme. Häufig wurden Texte von Kollektiven und nicht von einzelnen Autoren verfasst. Häufig sind die Autoren unbekannt.
Registrierung verwaister Werke bei Massendigitalisierung in Deutschland untauglich
Das sehr aufwendige Verfahren der Registrierung als verwaistes Werk ist bei Massendigitalisierungen gänzlich untauglich und wird auch kaum angewandt. Fotografien fallen ohnehin nicht darunter (vergleiche die Auflistung der von der Regelung umfassten Werke in Paragraph 61 Absatz 2 des Urheberrechts).
Im Ergebnis werden diese Zeugnisse deshalb nicht online präsentiert, sondern allenfalls an Terminals in den jeweiligen Archiven und anderen Einrichtungen.
Es ist zu hoffen, dass die europäische DSM-Richtlinie mit den dort vorgesehenen Verfahren für die Nutzung vergriffener Werke die Situation verbessert. Denn ausweislich der Begründung der Richtlinie sollen diese Regeln nicht nur für vergriffene Werke gelten, sondern auch für solche, die nie für die kommerzielle Verwertung gedacht waren.
Doch es ist noch nicht klar, ob und welche Verfahren sich dabei entwickeln und welche Rolle die Verwertungsgesellschaften dabei spielen werden.
Wie ist die Lage bei Flugblättern, Broschüren, Filmen?
Gänzlich anders ist es bei Flugblättern und Broschüren der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, der Hippiebewegung oder der Proteste gegen den Vietnam-Krieg. Diese wurden in der Regel nicht als urheberrechtlich geschützte Werke registriert, so dass sie auch online genutzt werden können.
Dies hat zur Folge, dass es leichter ist, die Studentenproteste und die Hippiebewegung mit Materialien aus den USA zu illustrieren als mit denen aus Europa. Es sind Bilder aus den USA, die unsere Erinnerung an diese Zeit stark prägen.
Ähnliches gilt auch für Filme, die für das kulturelle Gedächtnis ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Bei Filmproduktionen kommen die Beiträge unterschiedlicher Urheber zusammen, insbesondere die des Regisseurs, die des Kameramanns, die des Cutters, außerdem die Rechte der ausübenden Künstler wie der Schauspieler, Musiker und zahlreicher anderer.
Works made for hire-Prinzip in den USA erleichtert Rechteklärung
In den USA erhalten die Filmproduktionsfirmen die Rechte aller beteiligten Urheber automatisch aufgrund des works made for hire-Prinzips. Denn im Copyright Act ist klar festgelegt, dass ein Auftraggeber direkt ein originäres (und übertragbares) Urheberrecht an allen bei der jeweiligen Produktion angestellten Personen bekommt (siehe Section 201(b) im Copyright Act).
Insoweit stellt sich dort nicht die Frage, ob und in welchem Umfang einzelne mitwirkende Urheber bestimmte, für die digitale Auswertung notwendige Rechte an eine Filmproduktionsfirma übertragen haben.
In Europa ist es hingegen äußerst kompliziert, den urheberrechtlichen Status eines Werkes zu bestimmen, an dem mehrere Urheber beteiligt sind. Dies gilt gerade für Filme. Doch spielen Filme eine große Rolle für unser Bild von der Vergangenheit.
In Deutschland hat der Bundesgerichtshof in einer Grundsatzentscheidung klargestellt, dass für neuere digitale Nutzungsformen wie DVD-Auswertung oder Streaming von alten Filmen vor 1966 die Zustimmung aller beteiligter Urheber benötigt wird, sofern nicht klar schriftlich dokumentiert ist, dass diese Rechte für damals unbekannte Nutzungsarten schon zum Zeitpunkt der Produktion übertragen wurden und dies auch in der Honorierung berücksichtigt wurde (BGH 2010, Der Frosch mit der Maske; BGH 2010, Polizeirevier Davidswache).
Entschädigungen im Nachhinein nur unter Risiko
Wendet man diese Grundsätze an, so ist es fast unmöglich, beispielsweise deutsche Stummfilme ohne Rechtsverletzung zu streamen. Glücklicherweise werden viele ältere Filme gleichwohl vertrieben, doch geschieht dies meist ohne klare rechtliche Befugnis.
In der Praxis begnügen sich Verwerter häufig damit, Rechteinhaber zu entschädigen, wenn sie sich denn tatsächlich melden. Zu einem solch risikofreudigen Verhalten können sich öffentliche Institutionen jedoch häufig nicht durchringen.
Werke öffentlicher Stellen: Section 105 im US Copyright Act
Neben der US-amerikanischen Fair Use-Doktrin, die eine liberale Nutzung von geschützten Werken zum Zwecke der öffentlichen Bildung erlaubt, erlaubt Abschnitt 105 im US Copyright Act eine weitere Ausnahme vom Urheberrechtsschutz. Dieser ist zugeschnitten auf offizielle Dokumente öffentlicher Stellen.
So werden Werke von Regierungsstellen der USA, welche definiert sind als „a work prepared by an officer or employee“ der Bundesregierung „as part of that person’s official duties“ dort nicht urheberrechtlich geschützt und daher wie gemeinfrei behandelt.
Auch in Europa gibt es Ausnahmen vom urheberrechtlichen Schutz für offizielle Dokumente, beispielsweise für Gesetze. In Deutschland gilt dies für alle „amtlichen Werke“, wobei es eine ausgefeilte Kasuistik gibt, was alles darunter zu verstehen ist.
In jedem Fall sind diese Ausnahmen vom urheberrechtlichen Schutz längst nicht so weitgehend wie in den USA. Und das hat Folgen.
Die Verfügbarkeit der Bilder prägt unser Geschichtsbild
Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen in Niedersachsen. Befreit wurde es am 15. April 1945 von der britischen Armee, die amerikanischen Soldaten kamen später.
Die britischen Einheiten kamen in das Lager Bergen-Belsen, nachdem sie mit der Wehrmacht ein Abkommen geschlossen hatten. Sie wurden mit dramatischen Zuständen konfrontiert. In zwei benachbarten Geländebereichen waren etwa 55.000 Menschen zusammengepfercht, die in verschiedenen Stadien des Hungerns und Verhungerns waren. Auf dem gesamten Gelände des Hauptlagers befanden sich außerdem mehrere tausend unbestattete Leichname.
Die Angehörigen der British Army Film and Photographic Unit begannen unmittelbar zu dokumentieren, was um sie herum geschah, und bis ca. Ende Mai 1945 entstand so mit etwa 500 Fotografien und mehreren Stunden Filmmaterial ein signifikanter Korpus zu dieser Phase der Befreiung. Diese Bilder geben einen sehr authentischen Eindruck von den Zuständen, wie sie unmittelbar nach der Befreiung herrschten.
Die britische vs. die US-amerikanische Perspektive auf historische Ereignisse
Doch die Briten waren nicht die einzigen, die Bilder machten. 13 Tage nach Ankunft der Briten machte Charles Curtis Mitchell, Angehöriger der US Armee, bei einem Besuch des befreiten Lagers Fotos.
Die Fotos der Briten sind urheberrechtlich geschützt. Sie dürfen nicht ohne Zustimmung des Imperial War Museum in London als Rechteinhaber genutzt werden. Die Zustimmung zu einer Nutzung ist an verschiedene Bedingungen geknüpft und (in der Regel) kostenpflichtig.
Die Fotos der amerikanischen Soldaten befinden sich in der US National Archives and Records Administration und können frei genutzt werden. Denn die Aufnahmen von Angehörigen der Armee fallen ebenfalls unter 105 Copyright Act.
Während sich größere Museen, wie auch das Dokumentationscenter in Bergen-Belsen, um die Erlaubnis beim Imperial War Museum für die Nutzung von Fotos bemühen, wird dies in vielen anderen Fällen nicht geschehen. Man denke an die Nutzung von Fotos in Schulen oder bei anderen Bildungseinrichtungen.
US-amerikanische Bilder entstanden später, sind aber leichter nutzbar
Vor die Entscheidung gestellt, kostenlose und online zur Verfügung stehende Bilder aus den USA zu nutzen oder sich um eine Lizenz beim Imperial War Museum zu bemühen, werden viele den amerikanischen Fotos den Vorzug geben.
Doch das hat direkte Folgen auf das Geschichtsbild. Die Fotos der Briten entstanden unmittelbar nach der Befreiung des Lagers, sie zeigen nicht nur das Grauen, sondern auch das Chaos dieser Zeit.
Im Vergleich dazu sieht man auf den später entstandenen Bildern der Amerikaner einen immer noch grauenhaften, aber doch bereits geordneteren Zustand. Da der Zugang zu den Fotos der Amerikaner einfacher ist, wird im Zweifel auf diese auch öfter zugegriffen werden.
Langfristig wird es der amerikanische Blick sein, der auch hier unsere Erinnerung prägen wird. Der ist zwar nicht falsch. Es ist aber eben nur eine Perspektive, bei der bestimmte Aspekte außen vor bleiben, die in auf anderen Bildern zu sehen sind.
Reformen für „vergriffene Werke“ in Sicht
Die bevorstehende Urheberrechtsrichtlinie der Europäischen Union könnte zu einer Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen führen. Die Möglichkeiten dazu sind eröffnet.
Zum einen soll für Kulturinstitutionen die Möglichkeit geschaffen werden, „vergriffene Werke“ online zugänglich zu machen (Artikel 8 DSM-Richtlinie). Zum anderen könnten auch erweiterte Kollektivlizenzen etabliert werden, mit Hilfe derer man die Onlinestellung ganzer Bestände von Kulturinstitutionen regeln könnte (Artikel 12 DSM-Richtlinie).
Zunächst zu den vergriffenen Werken. Für vor 1966 veröffentlichte gedruckte Werke ist schon heute die Lizenzierung möglich. Gemeinsam mit der VG Wort hat die Deutsche Nationalbibliothek für einen kleinen Bereich des kulturellen Erbes, nämlich für die vor 1966 erschienenen Monografien, einen Lizenzierungsservice eingerichtet.
Doch die neuen europäischen Vorgaben gehen über das hinaus, was bisher in Deutschland auf der Grundlage des VVG möglich war und unterscheiden sich auch im Prozedere.
Welches Werk als „vergriffen“ gilt
Laut der DSM-Richtlinie sollen als „vergriffene Werke“ auch solche gelten, die „ursprünglich nicht für gewerbliche Zwecke gedacht waren oder niemals gewerblich genutzt wurden“. Auf dieser Grundlage könnten die Gedächtnisinstitutionen endlich auch die oben beschriebenen Zeugnisse der sozialen Bewegungen online zugänglich machen.
Doch wie so häufig, steckt der Teufel auch hier im Detail. Die Richtlinie sieht vor, dass bei vergriffenen Werken eine Lizenzierung durch Verwertungsgesellschaften erfolgen soll, sofern „die Verwertungsgesellschaft aufgrund ihrer Mandate ausreichend repräsentativ für die Rechteinhaber der einschlägigen Art von Werken oder sonstigen Schutzgegenständen…“ ist.
Ist dies nicht der Fall, sollen vergriffene Werke gleichwohl online gestellt werden dürfen – dann aber nicht aufgrund einer Lizenz, sondern aufgrund einer vergütungsfreien gesetzlichen Erlaubnis.
Wie repräsentativ können Verwertungsgesellschaften sein?
Nun hat Deutschland ein recht ausdifferenziertes System von 13 Verwertungsgesellschaften, die beispielsweise für Werke der Musik, der bildenden Künste, Text- und Sprachwerke und Weiteres zuständig sind. Trotzdem erscheint fraglich, ob von diesen 13 tatsächlich alles abgedeckt ist, was an urheberrechtlich geschützten Werken entsteht.
Ohne Frage wird die große Mehrzahl der Autoren, die Bücher veröffentlichen, der VG Wort beitreten. Aber wird dies auch ein schwuler Aktivist tun, der 1981 einen Text gegen die damalige Strafbarkeit der Homosexualität verfasst hat?
Oder die Feministin, die ein Flugblatt gegen die Strafbarkeit der Abtreibung verfasst hat? Oder die Umweltschützerin, die einen aufrüttelnden Appell an die Politik wegen des Waldsterbens verfasst hat? Es erscheint abwegig, die VG Wort auch für solche Texte für repräsentativ zu halten.
Fragliche Wirkung der Umsetzung der EU-Richtlinie fürs kulturelle Erbe
Es muss also darum gehen, bei der Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Urheberrecht eine Abgrenzung zu finden und ins Gesetz zu schreiben. Das Gesetz muss unterscheiden zwischen vergriffenen Werken, die durch Verwertungsgesellschaften lizenziert werden – also jenen, die kommerziell verwertet wurden und für die die Verwertungsgesellschaften ausreichend repräsentativ sind – und solchen Werken, die sich auf der Grundlage einer gesetzlichen Erlaubnis vergütungsfrei nutzen lassen.
Sinnvoller Anknüpfungspunkt wäre, ob die Werke überhaupt bei einer Verwertungsgesellschaft gemeldet wurden. Nur dann ist eine Lizenzierung durch sie möglich und auch notwendig, andernfalls greift bei vergriffenen Werken die vergütungsfreie gesetzliche Erlaubnis.
Nüchtern muss allerdings festgehalten werden, dass selbst bei einer gelungenen Umsetzung der europäischen Urheberrechtsrichtlinie die Voraussetzungen für die Online-Stellung von kulturellem Erbe in den USA immer noch günstiger sind. Es werden die Bilder und Dokumente sein, die dort verfügbar gemacht werden, die einen großen Einfluss auf unsere Vorstellung von Geschichte haben.
Der oben stehende Text ist eine gekürzte Fassung aus „Recht und Geschichtsbild” von Paul Klimpel, ursprünglich erschienen in Ausgabe 01/2020 der Fachzeitschrift „Recht und Zugang“ beim Nomos Verlag.
Der Text wurde für iRights.info geringfügig bearbeitet: Fußnoten wurden, wo möglich, an den betreffenden Stellen als Hinweise in Klammern ergänzt oder verlinkt, Abkürzungen wurden ausgeschrieben; Überschriften stammen von iRights.info.
Sowohl der Originaltext wie auch die redaktionell bearbeitete Fassung von iRights.info stehen unter einer CC-BY-SA-Lizenz.
Der Autor Paul Klimpel ist Rechtsanwalt bei iRights.Law und leitet die Konferenzreihe „Zugang gestalten! Mehr Verantwortung für das kulturelle Erbe“, die sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf den Zugang zum kulturellen Erbe beschäftigt.
Pandemiebedingt findet die diesjährige Ausgabe als Online-Konferenz vom 28. bis zum 30. Oktober 2020 statt und fragt nach den digitalen Innovationsschüben für das kulturelle Erbe.
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