Der unerkannte Welthit: Zum 65. Geburtstag des Samples „Amen Break“
Atlanta, 1969: Normalerweise tingelt die Soul-Band The Winstons mit Cover-Versionen aktueller Chart-Hits durch die Clubs. Man lebt von Gig zu Gig. Diesmal trifft sich die sechsköpfige Truppe aber in einem Tonstudio. Sie sollen zwei Stücke einspielen, so wie es viele andere Bands zu dieser Zeit tun: engagiert von der Musikindustrie, gebucht für ein paar Stunden im Studio, anschließend werden alle bar ausgezahlt. Die Rechte an den Aufnahmen sichert sich in der Regel die Plattenfirma. Das US-amerikanische Copyright Law macht solche „Buy-outs“ möglich.
Im Studio spielen The Winstons „Color him Father“ ein. Die Single schafft es im gleichen Jahr in die Top Ten der US-Charts und erhält später sogar einen Grammy als bester R’n’B-Song. Auf der B-Seite: das spontan eingespielte „Amen, Brother“, eine instrumentale Variante des Gospel-Standards „Amen“. Am Schlagzeug: Gregory Coleman. Wie so viele andere B-Seiten steht „Amen, Brother“ im Schatten der bekannten A-Seite und schlummert vor sich hin, ohne nennenswerte Bekanntheit zu erreichen. Gedacht war sie ohnehin nur als Füllmaterial.
„Amen, Brother“ wird zum Amen Break
Die Geschichte könnte hier bereits vorbei sein. Doch der Erfolg von HipHop hatte ab den 1980er Jahren einen gewaltigen Bedarf an Samples erzeugt. DJs klapperten Flohmärkte und Plattenläden ab, um neues Material für ihre Tracks zu finden. Um Lizenzkosten zu umgehen, richtete sich das Augenmerk schnell auf die obskuren, vergessenen, in der Versenkung verschwundenen Bands und Labels. Denn bei diesen konnte man sich einigermaßen sicher sein, nicht verklagt zu werden, wenn man sie sampelte.
1986 landete „Amen, Brother“ auf der Compilation „Ultimate Breaks and Beats“. Das war eine Zusammenstellung dutzender Funk- und Soul-Stücke, um den sampelwütigen DJs eine Auswahl an interessanten Rhythmus-Passagen, beiläufigen Streicher-Momenten oder groovigen Baselines zu bieten. Natürlich ohne vorher die Rechte zu klären.Die ersten Tracks, die „Amen, Brother“ sampelten, kamen im gleichen Jahr von den drei Rapperinnen von Salt’n’Pepa, später dann auch von der 2Live Crew oder Mantronix.
1988 waren dann plötzlich Dr. Dre und Ice Cube mit ihrer Truppe N.W.A. am Start. Sie schufen mit „Straight Outta Compton“ einen riesigen Hit. Darin: die prägnante Schlagzeug-Passage aus „Amen, Brother“, die dem Track das rhythmische Grundgerüst verleiht.
Sieben Sekunden Schlagzeug-Solo
Im Originalsong tritt der Amen Break etwa zur Mitte als knapp sieben Sekunden langes Schlagzeug-Solo („break“) auf, hier etwa ab 1:26 Min:
Für die damaligen Verhältnisse ist die Aufnahme von „Amen, Brother“ sensationell gut. Die hohe Qualität machte das Sample zusätzlich attraktiv. Die einzelnen Elemente sind glasklar zu hören.
Mit 136 BPM (beats per minute, also Schlägen pro Minute) ist „Amen, Brother“ ein relativ flotter Funk-Song. In den meisten HipHop-Tracks wird der Amen Break daher verlangsamt abgespielt. Doch auch beschleunigt eignet er sich für die Tanzfläche: Das erkannten Techno-DJs, die ab den 1990er Jahren in Großbritannien und Festland-Europa den Amen Break für ihre Produktionen verwendeten. Genres wie Jungle oder Drum’n’Bass beschleunigten das Geschehen auf der Tanzfläche: Geschwindigkeiten von 170 BPM wurden üblich, teilweise sogar jenseits der 200 BPM.
Rhythmische Verschiebung definiert ganzes Genres
Die Schnelligkeit verkraftete der Amen Break erstaunlich gut. Mehr noch: das Schlagzeug-Solo verhalf Jungle und später auch Drum’n’Bass sogar zum Durchbruch. Das lag unter anderem an der rhythmischen Verschiebung, musikwissenschaftlich „Synkope“ genannt, die im vierten Takt des Samples vorkommt. Dieses kurze Stolpern trug entscheidend zur klanglichen Ästhetik der beiden Genres bei. Dazu der flirrende Klang der Becken, die Dumpfheit der Kickdrum und das charakteristische Scheppern der Snare – all das war in unzähligen Jungle- und Techno-Varianten zu hören.
Colemans Schlagzeug-Solo lebt in tausenden Musikstücken weiter. Ein Blick in die Sample-Datenbank whosampled.com listet aktuell mehr als 6.000 Songs auf, die das Sample in sich tragen. Und das sind nur die in der Datenbank dokumentierten Nutzungen. Die Dunkelziffer dürfte nochmal doppelt so hoch sein, da viele Tracks nur in inoffiziellen Kleinstauflagen ohne richtiges Label erschienen.
Der Abstand zwischen Original und Remixes wird größer
Weil die DJs den Amen Break einfach weiterreichten und nicht mehr hinterfragten, woher das Sample ursprünglich stammte, ging auch das Wissen darüber verloren. Der Amen Break war damals nicht nur ein, sondern das Sample für Jungle und Drum’n’Bass schlechthin. Es wurde behandelt, als wäre es gemeinfrei.
Es gibt auf YouTube diverse Interviews mit damaligen DJs, in denen sie freudig erzählen, wie sie jede Facette des Samples filetierten, es drehten und wendeten, schnitten und zerhackten, und dann die Einzelteile in neuen Kombinationen zusammenschichteten.
Das Meme hebt ab – ohne Beteiligung der Urheber
Mit Jungle und Drum’n’Bass wurde der Amen Break endgültig zu einem musikalischen Meme. Und das lange vor Social Media, dem Streit um „Metall auf Metall“ oder der 2021 eingeführten Remix-freundlichen Pastiche-Regelung.
An eine finanzielle Entschädigung, gar an Lizenz-Zahlungen, hatte in den Neunzigern niemand gedacht. Ähnliches passierte 2016 mit Daft Punks Megahit „Get Lucky“. Auch dieser Song wurde, hier vor allem wegen des Internets, zu einem musikalischen Meme. Im Unterschied zu „Amen, Brother“ konnten Daft Punk aber von der Memefizierung erheblich profitieren.
The Winstons hatten sich bereits kurz nach Veröffentlichung ihrer einzigen Platte wieder aufgelöst. Der Grammy hatte der Band zwar einen kurzen Erfolg beschert, aber auch zu Spannungen in der Band geführt. Und der Rassismus in den USA machte dem Bandgefüge schwer zu schaffen. Es wurde zunehmend schwieriger für die Band, Auftritte zu bekommen. 1970 trennten sich The Winstons. Schnell gerieten die Band und mit ihr der Schlagzeuger Gregory Coleman in Vergessenheit.
Obsession Amen Break
Das, obwohl manche DJs ganze Alben produzierten , in denen sie in jedem Track den Amen Break verwendeten – teilweise bis zur Unkenntlichkeit verändert, teilweise als glasklare Referenz erkennbar. Die Beschäftigung mit dem Amen Break und seiner einzelnen Elemente hatte in der Jungle-Szene teils obsessive Züge angenommen.
Das Sample ist inzwischen Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. 2008 widmete der Künstler Nate Harrison der Geschichte sogar einen Audio-Essay, um die zahlreichen Verwendungen aufzuarbeiten und zu systematisieren (iRights.info berichtete). Natürlich gibt es auch popkulturelles Merchandise: die Wellenform des Amen Break als Schal, T-Shirt oder als Kunstobjekt. Und so weiter, und so fort.
Der unerkannte Welthit
In den späten Neunzigern rief ein britischer DJ den früheren Winstons-Saxofonisten Richard L. Spencer an. Er erzählte ihm von der heimlichen Karriere des Amen Break und fragte nach den Rechten der Master-Aufnahme. Spencer muss damals vollkommen baff gewesen sein. Die ursprüngliche Plattenfirma, die die Rechte an dem Stück der Band damals abgekauft hatte, war bereits seit Jahrzehnten aufgelöst. Der Kontakt zu den ehemaligen Bandkollegen abgebrochen. Eine Situation ähnlich wie bei „verwaisten Werken“ war eingetreten.
Schlagzeuger Gregory Coleman verstarb im Jahre 2006. Er war verarmt, hatte Drogenprobleme und lebte obdachlos auf der Straße. Sehr wahrscheinlich wusste er nichts vom heimlichen Ruhm seines Solos, das tausendfach in anderen Tracks gesampelt wurde. Zwei Spendenkampagnen brachten 2015 für The Winstons und für die Nachkommen von Coleman insgesamt etwa 30.000 britische Pfund zusammen. Eine nette Geste, wenn man so will, aber in Anbetracht der schwer zu überschätzenden Relevanz für die moderne Popmusik leider kaum mehr.
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