Wann ist ein Meme ein Meme? Schottische Bahn entfacht Remix-Challenge mit 2500 Ansagen
Es ist eine Quelle, wie sie sich nicht alle Tage auftut: Die schottische Bahngesellschaft ScotRail stellte eine Aufnahme ihrer fast 2500 Ansagen ins Netz. Daraufhin beschäftigten sich zahlreiche Internet-Nutzer*innen mit dem Material, analysierten, sortierten und katalogisierten – und remixten es in neuen Versionen. Die Sache entwickelte eine eigene Remix-Dynamik, wie sie typischerweise im Internet auftritt.
Die ungewöhnliche Veröffentlichung von ScotRail steht in Zusammenhang mit dem schottischen Informations-Freiheits-Gesetz. Es ermöglicht der schottischen Bevölkerung Abfrage und Zugriff sämtlicher von den Behörden gespeicherten Informationen.
Im Falle von ScotRail gehören dazu Dokumente, die bei einer Bahngesellschaften üblicherweise so anfallen: Unfallstatistiken, Beschwerdesammlungen, Verträge oder Baustellenpläne.
Das veröffentlichte Material besteht aus einer gut zwei Stunden langen MP3-Datei mit einem ganzen Blumenstrauß an ScotRail-Ansagen: Ortsnamen der angefahrenen Orte, Ankündigungen, auf welchem Gleis der Zug einfährt oder Passagierinformationen über das Wetter. Sogar mehr als 400 Gründe für Zugverspätungen und -ausfälle sind aufgeführt, darunter etwa Kabeldiebstahl, Bombenfund, Rugbyspiel, Pferde auf den Schienen oder höhere Gewalt (wie Überschwemmungen oder Feuer).
Organisierte Kreativität: Nicht nur Remixen, sondern auch Sortieren
Der Grad der Organisation ist bemerkenswert: Nicht nur auf Seite des Bahnunternehmens, das für jede denkbare (oder undenkbare) Situation eine Ansage einsprechen ließ – sondern auch auf Seite der Nutzer*innen, die in die Rolle der Hobby-Archivar*innen schlüpften, die MP3-Datei zergliederten und alle Ansagen fein säuberlich in einer Excel-Liste einem Google-Sheet aufschlüsselten. Dieser Datensatz kann nun von allen offen eingesehen, kommentiert und weiterverarbeitet werden.
Nutzer*innen schlachteten das Material für eigene Remixes aus, die Ansagen wurden so zur Sample-Quelle (einige Beispiele sind etwa hier, hier oder hier zu finden). Ein Programmierer machte den verschlagworteten Audio-Datensatz zur Grundlage für eine Seite, auf der man sich eigene Bahnansagen kreieren lassen kann. So entsteht beispielsweise eine zufällige Entschuldigung aus den vorgefertigten Ansprachen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt diese Seite.
Datenschatz beflügelt die Remix-Dynamik
Die in die Songs eingestreuten Samples klingen etwas rudimentär und auch die Web-Anwendungen sind vielleicht nicht state of the art. Aber das ist gar nicht der Punkt. Entscheidend ist, dass sich Leute in ihrer Freizeit mit der Ansagen-Sammlung auseinandersetzen, digital vernetzt zusammen daran arbeiten und innerhalb weniger Stunden und Tage dem Material neue Seiten entlocken. Für die Nutzer*innen ist die zur Verfügung gestellte Aufnahme ein Datenschatz: Er beflügelt ihre Kreativität, animiert sie dazu, mit dem Material zu spielen – auf die eine oder andere Weise: ästhetisch, investigativ, archivarisch.
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Kostenlose PR für ScotRail
Die Remixes um die ScotRail-Ansagen sind Ausdruck einer alltäglichen Internet-Kreativität, wie sie sich im Netz beobachten lässt. Manchmal ist es Zufall oder unbeabsichtigt, dass eine bestimmte Quelle ins Netz gelangt. In anderen Fällen machen Organisationen Material gezielt im Netz verfügbar und stellen es unter eine offene Lizenz, beispielsweise spektakuläre Weltraum-Bilder der NASA oder bestimmte Sendungen aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Für Organisationen können die offenen Material-Sammlungen ein Vorteil sein. Sie setzen auf die Remix-Kreativität aus dem Netz und profitieren von der Multiplikation durch die Nutzer*innen in den Sozialen Medien und durch Memes.
Auch im Falle von ScotRail dürften die positiven Effekte überwiegen: Es gab Zeitungsberichte, Radiosendungen und natürlich ein gewisses Brummen in den Sozialen Medien, nachdem die Aktivitäten um die Bahn-Ansagen bekannt wurden. Für ScotRail, das wie alle Bahn-Unternehmen vermutlich eher wegen Verspätungen oder Zugausfällen im Medienfokus steht, sicherlich ein positiver PR-Effekt und eine willkommene Abwechslung in der Berichterstattung.
TikTok: So schnell kann es gehen
Digitale Plattformen wissen um die potentielle Remix-Dynamik, die sich innerhalb von Minuten entzünden und wie ein Lauffeuer verbreiten kann. Je mehr Leute dabei mitmachen, desto mehr Sog, desto mehr Aufmerksamkeit entsteht wiederum. Das nutzen die Plattformen für sich, indem sie das dabei anfallende Nutzungsverhalten analysieren, die Daten aufbereiten und entsprechende Werbemöglichkeiten verkaufen – maßgeschneidert auf die gewünschten Zielgruppen.
Technisch und kulturell besonders interessant ist die chinesische Social-Media-Plattform TikTok mit ihren „Challenges“. Das sind Remix-Wettwerbe, an denen Nutzer*innen durch eigene Beiträge teilnehmen, etwa durch Remixes, Lipsyncs (Lippen-Synchronisation) oder Nachsingen, Nachtanzen oder anderweitiges Nachstellen von Vorlagen. Auf jeden Fall muss es schnell gehen, meist sind die Clips nur wenige Sekunden lang (der Name „TikTok“ bezieht sich auf das Ticken einer Uhr).
Vorlagen sind zufällig oder gezielt ins Spiel gebracht
Die Ursprünge der Vorlagen sind unterschiedlich. Manchmal entstehen Challenges organisch, manchmal lancieren sie Unternehmen, indem sie Vorlagen gezielt in den TikTok-Diskurs einschleusen. Die Musikindustrie etwa hat das Potential der Remixes auf TikTok erkannt und führt der Plattform laufend neue (beziehungsweise alte) Vorlagen zu. Darunter viele ältere Hits, deren Veröffentlichung oftmals 10, 20 oder 50 Jahren her ist und die dem jungen TikTok-Publikum idealerweise unbekannt sind.
Zündet ein Stück, weil es viele Nutzer*innen zu Karaoke, Witzen oder Tänzen animiert, schieben die Labels gerne eilig nachproduzierte Instrumentalversionen nach, um das Feuer weiter zu anzufachen.
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Viralität lässt sich bedingen, aber nicht erzwingen
Die Viralität bleibt – zu gewissen Teilen – trotzdem eine Sache des Zufalls. Der lässt sich bekanntlich nicht erzwingen. Aber an den Bedingungen lässt sich schrauben: Manche Labels haben Übereinkünfte mit TikTok, um gezielt Challenges zu starten. Und auch die Künstler*innen selbst rufen gerne dazu auf.
Der Algorithmus bevorzugt bestimmte Parameter (und unterdrückt andere), Nutzer*innen probieren permanent neue Vorlagen aus. Und natürlich gilt auch auf TikTok: Ein bisschen unbekannt, seltsam oder fremd sollte die Vorlage schon klingen, aber auch nicht zu sehr, denn die Nutzer*innen sollten sich damit identifizieren können. Auch hier ist die richtige Dosis aus alt und neu entscheidend.
Wann ist ein Meme ein Meme?
Ganz TikTok ist auf Challenges zugeschnitten und die Challenges auf TikTok. Doch wann wird einer Vorlage ein Meme? Wann geht ein Musikstück tatsächlich so viral, dass es auf andere Plattformen wie Spotify oder YouTube hinüberschwappt und in die wichtigen Charts einsteigt? Die meisten Challenges dürften einfach so versickern, ohne dass sich signifikante Viralität einstellt.
Die Challenges bleiben meist auf TikTok, verlagern sich also nicht auf andere Plattformen. Das hat mit der App zu tun, die das Remixen sehr leicht macht. Damit sorgt die Plattform dafür, dass sie selbst möglichst viel von den Aktivitäten abbekommt, die die Plattform durch Datenanalyse verwerten kann.
Plattformen machen Remixes bequem, halten sie aber auch dort fest
Insofern ist das Remix-Geschehen auf TikTok gar nicht so offen, wie es auf den ersten Blick erscheint. Algorithmen, Metriken und Plattformzwänge verringern die Wahrscheinlichkeiten, dass die Dynamik aus TikTok ausbricht und sich in weitere Umgebungen einfügt.
Bei ScotRail schien die Dynamik dagegen relativ offen und weniger vorherbestimmt zu sein. Klar, auch hier war Twitter maßgeblich als Plattform, aber die Nutzer*innen hosteten ihre Arbeiten auf verschiedenen Seiten, teils auch auf eigenem Webspace. Das macht die ganze Aktion etwas nerdiger und unbequemer. Andererseits kann jede*r das Original-MP3 auch auf den heimischen Rechner herunterladen und lokal remixen, ohne dass direkt eine Plattform davon profitiert.
iRights.info informiert und erklärt rund um das Thema „Urheberrecht und Kreativität in der digitalen Welt“.
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