ACTA und die möglichen Folgen: Auf dem Weg zu einem „Gold Standard“?
Sieben Verhandlungsrunden haben die ACTA-Partner, das sind neben Europa und den USA noch Japan, Südkorea, Neuseeland, Australien, Kanada, Mexiko, Marokko, Singapur und die Schweiz, bereits absolviert. Zuletzt traf man sich Anfang Februar 2010 in Guadalajara, Mexiko, und diskutierte erstmals ausführlich über die Durchsetzung des Urheberrechts in der digitalen Welt.
Internet-Zugangssperren durch die Hintertür
In das sogenannte „Internetkapitel“, dessen Entwurf aus dem Haus des US-Handelsbeauftragten kommt, fallen die von Nichtregierungsorganisationen, aber auch von Rechtsgelehrten mit besonders viel Skepsis verfolgten Bestimmungen zur Möglichkeit, Internet-Anschlusssperren gegen Filesharing* zu verhängen. Die sogenannten „Three-Strikes-and-You’re-Out“*-Regeln, die zuerst in Frankreich verabschiedet wurden, waren das große Kampfthema im Urheberrecht im Jahr 2009. Sie wurden letztlich in einer Kompromissformel ins Telekom-Paket aufgenommen. Dabei wurden Anschlusssperren unter der Voraussetzung, dass rechtsstaatliche Verfahren eingehalten werden, zugelassen. Die Parlamentarier konnten sich dabei nicht durchringen, den Ausschluss aus dem Kommunikationsnetz grundsätzlich als grundrechtswidrig abzulehnen.
ACTA müsse gar nicht zwingend eine Veränderung für das EU-Recht bringen, selbst wenn eine solche Regelung am Ende Eingang in das Abkommen fände, erläuterten die EU-Verhandlungsführer. Wie schon im Telekom-Paket könnten Staaten diese entsprechende Karte ziehen oder eben nicht. Einer echten Verpflichtung für die Mitgliedsstaaten könnten die EU-Unterhändler dagegen nicht zustimmen. Hintergrund: Änderungen von EU-Gesetzen durch ACTA dürfen Kommission und Rat laut dem Verhandlungsmandat nicht zustimmen.
Die Mahnungen der Kritiker, dass ACTA Verschärfungen nationaler Regelungen von geistigem Eigentum (engl. Intellectual Property, IP) durch die Hintertür mit sich brächten, sind aber bis heute nicht verstummt. Nicht zuletzt rührt diese Skepsis daher, dass weitergehende Regelungen in einem immer wieder als Blaupause bezeichneten Freihandelsabkommen zwischen den USA und Korea (KORUS) zu finden sind. Im KORUS wird die Sperrmöglichkeit als Bedingung für die Haftungsfreistellung für Internet Service Provider aufgeführt. Ein solches Privileg für sperrwillige und -fähige Zugangsprovider könnte allerdings Druck auf die Länder in der EU ausüben, die sich, anders als Frankreich, Großbritannien und auch Spanien, derzeit gegen Zugangssperren stemmen.
Strafrechtliche Sanktionen gedeckt durchs Mandat?
Mit Blick auf strafrechtliche Sanktionen für Fälschungen und Raubkopien müssen die EU-Unterhändler sogar zu einem „Trick“ greifen, denn dazu gibt es bislang keine einheitliche Regelung in der Gemeinschaft. Um dies dennoch mitverhandeln zu können, verweist man in der EU-Kommission auf Mindeststandards im „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum“ (TRIPS) der Welthandelsorganisation (WTO). Auch wenn es keinen „Acquis“, also keine harmonisierte Gesetzgebung zum IP-Strafrecht gäbe, zur Umsetzung von TRIPS sind alle Mitgliedsländer verpflichtet.
Kritik, dass über ACTA die vom EU-Parlament in den Verhandlungen zur ersten IP-Durchsetzungsrichtlinie (IPRED, 2004/48/EC) abgelehnten strafrechtlichen Maßnahmen gegen private Filesharer durchgedrückt werden könnten, weisen die EU-Verhandlungsführer ebenfalls zurück. Ziel der Regelungen sollen grundsätzlich nur Verletzungen im „kommerziellen Ausmaß“ sein. Ob „kommerziell “ dabei bedeutet, dass ein Gewinn erwirtschaftet werden soll oder ob es genügt, dass jemand finanziell davon profitiert, dass er ein Musikstück nicht kaufen muss, ist allerdings ein ungelöster Streit.
Fehlende Transparenz bemängelt das EU-Parlament
Der Teufel liegt allerdings im Detail des Urheberrechts. Dieses ist über die Jahre so kompliziert geworden, dass es für Laien kaum noch zu verstehen ist, und auch mancher Experte tut sich schwer. Doch die Details des vorliegenden und in Guadalajara diskutierten ACTA-Entwurfs sind bis heute nach wie vor nur den Verhandlungspartnern selbst bekannt. Eine Reihe großer US-Unternehmen und Verbände durfte schon mal ins „Internet-Kapitel“ hineinsehen. EU-Unternehmen, aber auch das EU-Parlament wurden bislang nur kursorisch informiert.
In zwei öffentlichen Gesprächen mit Verbänden und Interessengruppen (2008 und 2009) taten diese sich daher auch schwer mit konkreten Einwänden: Wie soll man ein Abkommen kommentieren, dessen Inhalt man noch nicht kennt? Bevor ein dritter Dialog mit Interessengruppen in der EU anberaumt wird, will man eine neue „Zusammenfassung“ der bislang für ACTA verhandelten Punkte vorlegen. In welcher Form – und ob überhaupt – der tatsächlich ausgehandelte Text der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll, lassen die Verhandlungspartner nach wie vor offen.
Der neue EU-Handelskommissar Karel De Gucht stellte dem EU-Parlament eine gute Zusammenarbeit und kontinuierliche Informationen zum Verhandlungsfortschritt in Aussicht. Die Vertraulichkeit, auf die sich die elf Partner verpflichtet hätten, könne er aber nicht unterlaufen, betonte er. Konservative, grüne und liberale Abgeordnete im EU-Parlament wandten sich mittlerweile mit mündlichen und schriftlichen Anfragen an die Kommission. Sie wollen wissen, wann sie den Abgeordneten Zugang zu allen Dokumenten gewährt. Ähnlich kritische Nachfragen kommen mittlerweile übrigens auch aus den Parlamenten vieler Verhandlungsstaaten, darunter nicht zuletzt aus dem Vereinigten Königreich, Kanada und aus Neuseeland, wo die achte ACTA-Verhandlungsrunde im April stattfindet.
Symptomatisch für „IP-Maximalismus“?
Symptomatisch ist ACTA, aus Sicht von kritischen Fachleuten, in verschiedener Hinsicht. Erstens wird die Notwendigkeit harmonisierter Durchsetzungsmaßnahmen häufig mit wachsenden Gefahren durch gefälschte Medikamente, minderwertige Kopien von Ersatz- oder Bauteilen etwa in der Luftfahrtoder Automobilindustrie begründet. Auch Verbindungen der kommerziellen „Piraterie“ mit organisierter Kriminalität oder gar Terrorismus werden häufig angeführt. Nachweise für die Verbindung zu organisierter Kriminalität und Terrorismus bezeichnete inzwischen allerdings selbst der heutige Chefökonom der World Intellectual Property Organization (WIPO), Carsten Fink, in einer Studie als „anekdotenhaft“.
Gleichzeitig erstrecken sich die vorgeschlagenen Regelungen regelmäßig auf alle Arten von Verletzungen von IP-Ansprüchen, also nicht nur auf Produktfälschungen oder gar das Panschen von Medikamenten. Vielmehr sind auch Markenrechtsverletzungen oder Urheberrechtsverletzungen davon umfasst, selbst wenn das Gefährdungspotenzial gefälschter T-Shirts oder raubkopierter Musik sicher anders einzuschätzen ist. Auch die sprachliche Vermischung minderwertiger Medikamente und Generika als „Fälschungen“ halten Experten im Immaterialgüterrecht für bedenklich.
Negative Effekte des von Experten wie Annette Kur vom Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht in München kritisierten „IP-Maximalismus“ zeigen sich etwa bei der Beschlagnahme von Generika- Medikamenten im Transit, auch wenn weder im Herstellungs- noch im Bestimmungsland der entsprechende Marken- und Patentschutz greift.
Karel De Gucht sagte bei seiner Anhörung zu, dass der dafür einschlägige Ratsbeschluss geändert werden soll. WTO-Experten in Deutschland wie Holger Hestermeyer vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg sehen in den Ankündigungen Indiens und Brasiliens, die Transitbeschlagnahme mit der EU zu diskutieren, einen ersten Schritt zu einem neuen Streitfall vor der WTO.
ACTA ist auch noch symptomatisch in einem weiteren Aspekt. Es zeigt, dass die wachsende Kritik am „IP-Maximalismus“ und eine von Nichtregierungsorganisationen, von mehr und mehr Akademikern sowie einer Reihe von Entwicklungsländern vorangetriebene Anti-IP-Bewegung, die Befürworter strengerer Schutzregime zu Ausweichmanövern zwingt. Weder bei der WIPO noch bei der WTO, die bereits als Ausweichforum für das TRIPS-Abkommen gewählt wurde, versprachen sich die ACTA-Initiatoren erfolgversprechende Verhandlungen. Ganz offen haben verschiedene EU-Vertreter inzwischen eingeräumt, dass man für die angestrebten und über TRIPS hinausgehenden neuen Regelungen („TRIPS Plus“) auf eine „Koalition der Willigen“ setze. Anschließend, so das Kalkül, sollen die Unwilligen in bilateralen oder weiteren multilateralen Verhandlungen zur Übernahme der ACTA-Bestimmungen gedrängt werden – im Paket mit Handelserleichterungen.
Zugleich haben sich etwa bei der traditionellen UN-Organisation für geistiges Eigentum, der WIPO, Entwicklungs- und Schwellenländer hinter a2k (access-toknowledge)- Projekte wie die sogenannte entwicklungspolitische Agenda gestellt, die im Kern eine neue Balance des IP-Schutzes vorschlägt. Während zahlreiche Vorstöße für neue Schutzrechte beziehungsweise weitere Harmonisierungen in den letzten Jahren in der WIPO nicht vorangekommen sind, steht in diesem Jahr eine neue Schrankenregelung für Sehbehinderte und Blinde auf der Agenda. Die World Blind Union (WBU) klagt über einen wahre „Bücher-Hungersnot“ aufgrund der fehlenden Flexibilität des Urheberrechts und der Verlage. Letztere haben laut dem Chef der Organisation Knowledge Ecology International (KEI), James Love, noch nicht auf ihre Lobbyarbeit zugunsten freiwilliger Übereinkünfte mit Blindenverbänden verzichtet.
Neue Schranken, verwaiste Werke, Binnenmarkt für Inhalte?
Tatsächlich waren Vertreter der EU von einer Erklärung seitens des US Copyright Office bei der WIPO im Dezember 2009 überrascht worden. In dieser äußerten die USA, sie hielten die Zeit für eine internationale Übereinkunft über eine Schrankenregelung für Menschen mit Sehbehinderungen für gekommen. EU-Vertreter setzen bislang – das lässt sich in einer Mitteilung der Kommission vom vergangenen Oktober zur Zukunft des „Urheberrechts in der Wissensgesellschaft “ nachlesen – eher auf die Fortführung von Gesprächen mit den Verlagen im Rahmen eines kürzlich geschaffenen Forums der Interessenvertreter. Wie sich die US-Unterstützung für eine durch die WIPO verabschiedete deutlichere Schrankenregelung auswirken wird, muss sich aber erst noch zeigen.
Auch eine Reihe weiterer Projekte auf der EU-Agenda zum Urheberrecht in der Wissensgesellschaft listet die Oktober-Mitteilung der alten Kommission auf. Prominent genannt wird dabei immer wieder die Verbesserung des Zugriffs auf sogenannte „verwaiste Werke“. Das sind Werke, deren Autoren nicht mehr auffindbar sind und für die daher keine Vereinbarung über die weitere Nutzung, etwa die Digitalisierung durch Bibliotheken, getroffen werden kann. Der Chef-Urheberrechtler der British Library, Benjamin White, wies beim Internet Governance Forum darauf hin, dass rund 40 Prozent der geschützten Werke der British Library verwaiste Werke seien.
Bibliotheksexperten wie White warnen auch davor, privaten Firmen wie etwa Google die Digitalisierung und vor allem Ausnutzung der digitalisierten Werke zu überlassen. Es müsse in Europa dringend darüber entschieden werden, wie der künftige Zugang zu Büchern – einschließlich kommerziell wenig attraktiver historischer Werke – organisiert werden soll. White warnte zugleich davor, dass zunehmend privatrechtliche Verträge das Urheberrecht ersetzten und damit jede Möglichkeit untergraben werde, Schrankenbestimmungen* einzufordern. Die Kommission hat inzwischen weitere Überlegungen für eine gesetzliche Ausnahmeregelung für die Digitalisierung von Bibliotheksbeständen angekündigt. Europas neue Kommissarin für die Digitale Agenda, Neelie Kroes, kündigte an, sie freue sich auf den Wettbewerb mit Google. Im Rahmen des Google-Books-Programmes wurden bislang bereits über 10 Millionen Bücher gescannt.
Kroes ließ vorsichtig durchblicken, dass ein einheitlicher Binnenmarkt für Inhalte das Ziel europäischer Politik sein müsse. Ihre Vorgängerin Viviane Reding hatte folgende Ziele im Rahmen des noch laufenden Konsultationsprozesses zum Thema „Creative Content Online“ ausgegeben: ein gedeihliches Umfeld für Autoren und Rechteinhaber, einfache Zugangsmöglichkeiten für Verbraucher zu transparenten Preisen, einheitliche Rahmenbedingungen für Geschäftsmodelle sowie innovative Lösungen zur Verbreitung digitaler Inhalte.
Bis Anfang 2010 konnten Interessensgruppen Stellungnahmen einsenden. Die frischgebackene Kommissarin für die Digitale Agenda, Kroes, muss nun über die nächsten Schritte entscheiden. Ohne bessere, verbraucherfreundlichere Zugriffsrechte verspreche auch die Hatz auf kleine Raubkopierer wenig Erfolg, sagen Beobachter wie Joe McNamee, politischer Berater der Dachorganisation europäischer Nutzerverbände, EDRI. Wenn also nur ACTA vorangetrieben wird, nicht aber die Frage nach dem Urheberrecht in der Informationsgesellschaft von Grund auf bearbeitet und über notwendige Anpassungen nachgedacht wird, nutzt das den Kreativen vermutlich wenig.
Monika Ermert arbeitet von München aus als freie Fachjournalistin für heise online sowie verschiedene andere Medien im In- und Ausland. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Rechtsfragen, aber auch die Standardisierungs- und Selbstregulierungspolitik im Internet. Ihre Artikel in der ZeitschriftIntellectual Property Watch wurden bereits ins Französische, Spanische und Chinesische übersetzt.
Dieser Beitrag gehört zur Reihe „Copy.Right.Now! – Plädoyers für ein zukunftstaugliches Urheberrecht”, die auch als gedruckter Reader erschienen ist. Er steht unter der Creative-Commons-Lizenz BY-NC-ND.
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