Was macht eigentlich … der Marrakesch-Vertrag?

Marrakesh, Martin Furtschegger, via Wikimedia Commons unter CC-BY-3.0
Es war im Juni 2013 im marokkanischen Marrakesch: Nach langen Verhandlungen konnten sich die Konferenzdelegierten auf einen tragfähigen Kompromiss einigen (iRights.info berichtete): Mit dem seither als „Marrakesch-Vertrag“ titulierten Abkommen verpflichten sich die der WIPO angeschlossenen Staaten, in ihren nationalen Urheberrechtsgesetzen bestimmte Ausnahmebestimmungen für Blinde, Sehbehinderte und sonst lesebehinderte Menschen vorzusehen. Diese sollen geschützte Werke in für Blinde und Sehbehinderte lesbare, barrierefreie Varianten überführen und sie umfänglich nutzen können.
Das Akronym WIPO steht für World Intellectual Property Organization (Weltweite Organisation für geistiges Eigentum). Die Organisation verwaltet internationale Verträge zu geistigem Eigentum, also zu Urheberrechten, Patent- und Markenrechten. Die WIPO wurde 1967 gegründet und ist seit 1974 eine Teilorganisation der Vereinten Nationen.
Anders ausgedrückt: Blinde, Sehbehinderte und sonst lesebehinderte Menschen dürfen von urheberrechtlich geschützten Werken eine Fassung zum eigenen Gebrauch herstellen oder von privilegierten Stellen herstellen lassen und nutzen, ohne dafür bei Urheber*innen oder Rechteinhaber*innen Erlaubnisse einholen oder Lizenzen erwerben zu müssen.
Das heißt, sie können beispielsweise ein Sachbuch, einen Zeitschriftenartikel oder einen Lyrikband unmittelbar in eine Version in Brailleschrift oder als gesprochene Hörfassung umsetzen beziehungsweise produzieren lassen. Zudem dürfen die barrierefreien Neufassungen zugänglich gemacht und weitergegeben werden, über die Grenzen der (WIPO-)Staaten hinweg.
Kopierschutz darf umgangen werden, Verfügbarkeit kommerzieller Versionen ist zu prüfen
Der Marrakesch-Vertrag bezieht sich jedoch nicht auf jegliche urheberrechtlichen Werke, sondern fokussiert den barrierefreien Zugang zu urheberrechtlich geschützten Texten, Notationen und dazugehörigen Illustrationen. Für diese Werkarten sieht er vor, die ausschließlichen Rechte auf Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung – die Veröffentlichung im Internet – durch gesetzliche Ausnahmen zu ermöglichen.
Das Vertragswerk legt weitere Spezifikationen fest, die in den nationalen Urheberrechtsregelungen zu verankern sind: Beispielsweise, dass für die Herstellung barrierefreier Versionen auch ein etwaiger Kopierschutz umgangen oder zumindest die Herausgabe einer barrierefreien Version des Werkes gefordert werden darf. Auch sollen Export und Import barrierefreier Werke möglich sein, und dies nicht nur durch privilegierte Einrichtungen, sondern auch durch Individualpersonen, sofern Sie unter den Kreis der Berechtigten fallen.
Eine der Kompromisslösungen im WIPO-Vertrag ist, dass es den Staaten für ihr nationales Urheberrecht möglich sein soll, die Ausnahmen in bestimmten Fällen einzuschränken, beispielsweise, die Schranke nur auf diejenigen Werke anzuwenden, die nicht bereits zu wirtschaftlich angemessenen Bedingungen in einem barrierefreien Format erhältlich sind.
Demnach ist es erforderlich, vorab zu prüfen, ob ein Werk im jeweiligen Heimatmarkt bereits in einem für Blinde und Sehbehinderte zugänglichen Format kommerziell angeboten wird, bevor solche Versionen erstellt werden. Dies wiederum erfordert organisatorische und finanzielle Aufwände für Blindenorganisationen.
Die Marrakesch-Vorgaben im Recht der EU und Deutschlands
Um den Marrakesch-Vertrag in Kraft zu setzen, mussten ihn – so wollte es die völkerrechtliche Vorgabe innerhalb des Vertrages – mindestens 20 Staaten unterzeichnen. Indien war der erste Unterzeichnerstaat, danach dauerte es immerhin drei Jahre, bis Kanada als 20. Staat 2016 beitrat. Wie die fortlaufend aktualisierte Liste der Unterzeichnerstaaten zeigt, sind aber längst noch nicht alle der WIPO angehörigen Staaten beigetreten – aus welchen Gründen auch immer.
Gleichwohl zeigte sich die WIPO mit der bisherigen Bilanz zufrieden, als sie in einer Pressemitteilung im April 2020 erklärte „ … dem Vertrag von Marrakesch … traten mehr Länder bei als jedem anderen von der WIPO verwalteten Vertrag.“
Zu den Beitrittsstaaten zählen die Europäische Union (EU) und somit auch Deutschland. Die EU ging dabei schrittweise vor und erarbeitete eine zweiteilige Regelung: Die Marrakesch-Verordnung (2017/1563), die für alle Mitgliedsstaaten seit 2017 verpflichtend ist und daher nicht extra national umgesetzt werden muss, regelt den Rechtsverkehr mit Drittstaaten außerhalb der EU. Die Marrakesch-Richtlinie (2017/1564) modifiziert die urheberrechtlichen Maßgaben im Recht der Europäischen Union, wobei die Staaten hier gewisse Spielräume für die Umsetzung in nationales Recht erhielten. Die Frist hierfür war Oktober 2018.
Deutschland hat die Vorgaben des Marrakesch-Vertrags im Rahmen einer Reform 2018 in das deutsche Urheberrechtsgesetz (UrhG) überführt, die neu eingefügten Paragrafen 45a bis 45d sind seit 1. Januar 2019 in Kraft. Danach dürfen Berechtigte etwa nach Paragraf 45b Absatz 1 des Urheberrechts
veröffentlichte Sprachwerke, die als Text oder im Audioformat vorliegen, sowie grafische Aufzeichnungen von Werken der Musik zum eigenen Gebrauch vervielfältigen oder vervielfältigen lassen, um sie in ein barrierefreies Format umzuwandeln. Diese Befugnis umfasst auch Illustrationen jeder Art, die in Sprach- oder Musikwerken enthalten sind.
Für diese Ausnahmeregelungen sieht das deutsche Urheberrecht eine Kompensationspflicht vor, wonach die Urheber*innen der genutzten Werke einen Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Vergütung haben. Dieser Anspruch kann laut Gesetz nur durch eine Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden.
„Befugte Stellen“ unter Aufsicht des Patent- und Markenamts
Wie im Marrakesch-Vertrag vorgesehen, kommt für den Weg zu barrierefreien Werke den „privilegierten Einrichtungen“ eine zentrale Rolle zu. In Deutschland heißen sie „befugte Stellen“. Davon gibt es derzeit 16 in mehreren Bundesländern, etwa bei Hörbüchereien und Medienanstalten sowie (Blinden- und Sehbehinderten-)Verbänden.
Diese befugten Stellen sind zulassungspflichtig. Das heißt, eine entsprechende Einrichtung muss diese staatliche Zulassung beantragen und begründen, und zwar beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA). Das in München ansässige Bundesamt ist auch für die Aufsicht über die befugten Stellen zuständig.
Das Gesetz sieht die befugten Stellen als Ansprechpartner*innen und Gewährleister*innen für die barrierefreien Werke. Sie ermöglichen und organisieren es unter anderem, die speziellen Fassungen herzustellen und zu distribuieren, sie pflegen Verzeichnisse für Produktions- und Vertriebspartner sowie Bezugsquellen.
Aber: Die befugten Stellen sind auch verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die für die Berechtigten frei verfügbaren Werke tatsächlich nur an Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung oder an andere befugte Stellen übermittelt werden, also nicht darüber hinaus vertrieben und zugänglich gemacht werden.
Hoffnung auf weitere Entschärfungen des Urheberrechts
Seit Inkrafttreten sind insgesamt 79 Staaten dem Marrakesch-Vertrag beigetreten (Stand: Januar 2021). 112 Staaten fehlen also noch. Für viele Beobachter*innen und Verbandsvertreter*innen ist der Marrakesch-Vertrag eine längst überfällige Regelung, um den alltäglichen Benachteiligungen für Blinde und Sehbehinderte etwas Linderung zu verschaffen, zumal Zugang zu Wissen und Bildung ein Menschenrecht ist.
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband begrüßte die Urheberrechtsanpassung 2018 ausdrücklich, erklärte jedoch zugleich, dass Änderungen im Urheberrecht allein nicht automatisch zu einer Verbesserung der Literaturversorgung und damit zu spürbar mehr Teilhabe an Bildung, Beruf, Politik und Kultur führen würden. Weiter hieß es beim DBSV: „Wir brauchen eine dauerhaft verlässliche Finanzierungsgrundlage, damit Blindenbibliotheken die aufwendige Übertragung von Literatur in barrierefreie Formate bewerkstelligen können.“
Andere bedauern, dass die für den Marrakesch-Vertrag gelungenen Einigungen – so wichtig und begrüßenswert sie sind – bisher nicht dazu führten, weitere Entschärfungen und verbraucher*innenfreundliche Reformen des Urheberrechts auf den Weg gebracht zu haben. Das läge vor allem an der Stärke der Reformgegner in der WIPO, so Wikimedia-Mitarbeiter Justus Dreyling in einer ausführlichen Analyse der WIPO. Allerdings könnten sich seiner Beobachtung nach die Kräfteverhältnisse auch ändern. Das sei nicht nur, aber auch vom 2020 neu gewählten Generaldirektor, dem Singapurer Daren Tang abhängig.
Weitere iRights.info-Beiträge zum Thema WIPO-Blindenvertrag finden sich hier unter dem entsprechenden Schlagwort.
In eigener Sache: Mit diesem Artikel verabschiede ich mich aus der Redaktion von iRights.info. Als ich im Juni 2013 als fester Redakteur begann, war meine allererste Aufgabe, eine Meldung zu den laufenden Verhandlungen in Marrakesch zu schreiben. Den Ansporn eines Kollegen, ein Exklusiv-Interview mit Stevie Wonder zu ergattern, konnte ich leider nicht umsetzen. (Hey, Stevie, es ist immer noch nicht zu spät!) Es folgten siebendreiviertel überaus erfüllende Jahre in einem ganz tollen Team, in einer stets wachen, stets diskussionsbereiten und stets qualitätsbewussten Redaktion. Ich habe extrem viel gelernt und bin allen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern bei iRights sehr dankbar für die großartige Zusammenarbeit. Nun widme ich mich voll und ganz meiner Arbeit beim iRights.Lab. Die Redaktion iRights.info ist bei Georg Fischer und der neuen Kollegin Maya El-Auwad in den allerbesten Händen. Ich bleibe iRights.info „ehrenamtlich“ beratend erhalten – und weiter treu. So long, Henry Steinhau.
Was sagen Sie dazu?