Was bringt der WIPO-Blindenvertrag?
Viele Jahre wurde bei der Welturheberrechtsorganisation WIPO über einen internationalen Vertrag diskutiert und verhandelt, der eine neue urheberrechtliche Schranke für Blinde, Sehbehinderte und Menschen mit Leseschwäche ermöglichen sollte. Lange Zeit sah es aus, als würde eine Einigung scheitern: Zum einen an den teils diametralen Auffassungen darüber, ob der Vertrag erforderlich ist. Zum anderen an den Auffassungen über den Umfang einer solchen Schranke – einer Bereichsausnahme vom urheberrechtlichen Normalfall.
Selbst eine im April dieses Jahres kurzfristig einberufene Sondersitzung des zuständigen Forums innerhalb der WIPO – des Standing Committee on Copyright and Related Rights – brachte für die damals bereits angesetzte diplomatische Konferenz in Marrakesch keinen Durchbruch. Zu viele wesentliche Punkte standen noch zur Diskussion, ohne dass ein Konsens in Sicht schien.
Wende in Marrakesch
Dennoch fand die Diplomatische Konferenz wie geplant vom 17. bis 28. Juni 2013 in Marrakesch statt. Die ersten Tage der Verhandlungen verliefen ausgesprochen zäh, was im Grunde auch nicht anders zu erwarten war. Doch mit fortschreitender Zeit wurde spürbar, dass keine Delegation die Konferenz ergebnislos und damit ohne Vertrag verlassen wollte.
In der Nacht des 25. Juni 2013 wurde dann euphorisch eine Einigung über einen Vertragstext verkündet, den (nahezu) alle Seiten als gutes und praktikables Ergebnis feiern. Selbst Stevie Wonder löste sein Versprechen ein und reiste kurzfristig nach Marrakesch, um den Delegierten am letzten Abend als kleines „Dankeschön“ ein unvergessliches Privatkonzert zu geben.
Der Vertrag im Detail
Der vereinbarte Vertragstext (PDF) enthält einige bemerkenswerte Eckpunkte, die darauf hoffen lassen, dass sich nicht nur rechtlich, sondern auch in der Praxis einiges bewegen wird:
Wer wird begünstigt?
Der Vertrag verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, eine zwingende urheberrechtliche Schranke zugunsten von Menschen einzuführen, die aufgrund einer Behinderung nicht in der Lage sind, gedruckte Texte zu lesen (Artikel 4). Die Definition der begünstigten Personen ist erfreulich weit, so dass nicht nur Blinde und Sehbehinderte umfasst sind, sondern auch Menschen mit Leseschwäche oder körperlicher Behinderung, die einen gedruckten Text daher nicht lesen können (Artikel 3).
Diesen Menschen soll ein möglichst barrierefreier Zugang zu urheberrechtlich geschützten Texten, Notationen und dazugehörigen Illustrationen ermöglicht werden. Um dieses Ziel zu ermöglichen, sieht der Vertrag vor, die ausschließlichen Rechte auf Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung – die Veröffentlichung im Internet – zwingend zu beschränken (Artikel 4).
Wer darf Blindenversionen erstellen?
Die im Vertrag genannten Einrichtungen (sogenannte authorized entities), sind berechtigt, von der Schranke Gebrauch zu machen. Zu ihnen zählen nicht nur staatliche Stellen oder anerkannte Blindenorganisationen, sondern insbesondere auch Bibliotheken (Artikel 2c).
Diesen Einrichtungen wird unter anderem das Recht zugestanden, diejenigen Änderungen an urheberrechtlich geschützten Werken vorzunehmen, die erforderlich sind, um sie den Blinden und Sehbehinderten in einem barrierefreien Format zugänglich zu machen (Artikel 4a).
Vorrang der Schranke bei Kopierschutz
Bemerkenswert ist, dass der Vertrag ausdrücklich – wenn auch sprachlich etwas umständlich – vorsieht, dass technische Schutzmaßnahmen eines Rechteinhabers privilegierte Handlungen im Rahmen der neuen Schranke rechtlich nicht einschränken dürfen (Artikel 7). Das bedeutet: Den im Vertrag genannten Einrichtungen wird das Recht eingeräumt, einen etwaigen Kopierschutz zu umgehen oder zumindest die Herausgabe einer barrierefreien Version des Werkes zu fordern.
Einfuhr auch durch private Nutzer erlaubt
Von weiterer erheblicher Bedeutung sind die Regelungen, die den Export und den Import von barrierefreien Werken erlauben (Artikel 5 und 6). Ein besonderes Anliegen der Blindenorganisationen war hierbei, dass nicht nur die privilegierten Einrichtungen, sondern auch Individualpersonen ein barrierefreies Werk importieren dürfen – jedenfalls, sofern Sie unter den Kreis der Berechtigten (Artikel 3) fallen.
Dies ist vor allem vor dem Hintergrund bedeutsam, dass in vielen Staaten Blinde und Sehbehinderte nicht über Blindenvereinigungen organisiert sind. Von Beginn an klar war, dass auch diese Menschen von dem Repertoire internationaler Anbieter barrierefreier Werke (wie Bookshare.org oder Tiflolibros.com.ar) profitieren sollen.
Ausnahmen für kommerziell erhältliche Titel möglich
Erkennbar ein Ergebnis eines Kompromisses ist die Regelung, nach der es Unterzeichnerstaaten erlaubt ist, die urheberrechtliche Schranke durch ein zusätzlich erforderliches Anwendungskriterium einzugrenzen (Artikel 4 Absatz 4). Es handelt sich hierbei um die Möglichkeit, die Schranke nur auf diejenigen Werke zu anzuwenden, die nicht bereits zu wirtschaftlich angemessenen Bedingungen in einem barrierefreien Format auf dem jeweiligen Markt erhältlich sind.
Demzufolge müssen also privilegierte Einrichtungen zunächst prüfen, ob das Werk im jeweiligen Heimatmarkt nicht bereits kommerziell in einem für Blinde und Sehbehinderte zugänglichen Format angeboten wird, bevor sie Blindenversionen erstellen. Diese Regel kann einen erheblichen administrativen, aber auch finanziellen Aufwand für Blindenorganisationen bedeuten.
Immerhin wurde aber bewusst darauf verzichtet, dieses Kriterium auch auf den grenzüberschreitenden Verkehr (Artikel 5) anzuwenden. Damit brauchen privilegierte Einrichtungen zumindest nicht zu prüfen, ob das Werk auch in dem ausländischen Zielland bereits barrierefrei auf dem Markt zugänglich ist. Wie viele Staaten letztlich von dieser Einschränkung Gebrauch machen wollen, ist derzeit noch nicht abzusehen. Die Regelungen sehen jedenfalls vor, dass diejenigen Staaten eine Erklärung bei der WIPO zu hinterlegen haben (Artikel 4 Absatz 4).
Staaten entscheiden, ob Nutzungen vergütet werden müssen
Im Übrigen bleibt noch zu erwähnen, dass es den Unterzeichnerstaaten freigestellt ist, ob sie die Nutzung im Rahmen des Blindenvertrags vergütungspflichtig ausgestalten (Artikel 4 Absatz 5 ). Dies wird insbesondere für diejenigen Staaten eine Option darstellen, die bereits über ein funktionierendes System von Verwertungsgesellschaften oder über eine steuerfinanzierte Vergütung für vergleichbare Nutzungen verfügen.
Was ändert sich in der Praxis?
Bewertet man die oben genannten Eckpunkte des Marrakesch-Vertrages auf ihre Praktikabilität, kann man feststellen: Den beteiligten Delegationen ist es weitgehend gelungen, sich auf einen Vertragstext zu einigen, der das Leben von Millionen von Sehbehinderten in dieser Welt merklich verbessern kann. Der Vertrag wird – sobald er von den Einzelstaaten ratifiziert ist – privilegierten Einrichtungen ermöglichen, Werke in einem barrierefreien Format über Landesgrenzen hinweg Sehbehinderten zu Verfügung zu stellen.
Nationale Umsetzung entscheidend
Mit diesem Meilenstein wird es gelingen, den leider noch bestehenden Büchernotstand für Sehbehinderte (book famine) zu lindern und das zugängliche Repertoire an Werken in barrierefreien Formaten kontinuierlich auszubauen. Bis Sehbehinderte ihren sehenden Mitmenschen bezüglich der Zugangsmöglichkeiten zu urheberrechtlich geschützten Werken gleichgestellt sind, werden aber sicher noch viele Jahre vergehen. Allerdings ist mit dem multilateralen Konsens im Marrakesch-Vertrag ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung getan.
Es bleibt daher zu hoffen, dass möglichst viele Staaten den Vertrag kurzfristig ratifizieren und in nationales Recht umsetzen. Blindenvereinigungen arbeiten bereits intensiv an Mustervorschriften, die den einzelnen Staaten bei der Umsetzung als Vorlage dienen könnten.
Die Folgen für Deutschland
Deutschland wird mit einer Ratifizierung des Marrakesch-Vertrages sein Urheberrechtsgesetz anpassen müssen. Als Ausgangspunkt bieten sich hierfür die Regelungen für behinderte Menschen in Paragraf 45a Urheberrechtsgesetz an, auch wenn die Vorschrift derzeit noch nicht zwischen verschiedenen Arten der Behinderung unterscheidet. Zu erweitern wäre die Vorschrift in jedem Fall um das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.
Darüber hinaus werden wohl neue Regelungen zur Zulässigkeit des grenzüberschreitenden Verkehrs erforderlich. Es ist zu erwarten, dass bei der Umsetzung drei bereits bestehende Regelungen beibehalten werden: Erstens das Kriterium der Erforderlichkeit – die Ausnahme greift nur, wenn nicht bereits eine angepasste Ausgabe verfügbar ist (Paragraf 45a Absatz 1). Zweitens die Vergütungspflicht für entsprechende Nutzungen über eine Verwertungsgesellschaft (Paragraf 45a Absatz 2). Und drittens die Durchsetzung der Schranke gegenüber technischen Schutzmaßnahmen (Paragraf 95b Absatz 1 Nr. 2).
Verzögerungen bei der Umsetzung zu befürchten
Bei einem Treffen der EU-Mitgliedstaaten am 8. Juli 2013 in Brüssel wurde deutlich, dass mit einer schnellen Ratifizierung des Marrakesch-Vertrages kaum zu rechnen ist. Das ist bedauerlich, da jede Verzögerung bei der Ratifizierung die Ungleichbehandlung von Sehenden und Sehbehinderten unnötig aufrechterhält – obschon eigentlich jedem bewusst sein müsste, wie dringend ein barrierefreier Zugang zu Wissen und Kultur gebraucht wird.
Dr. Kaya Köklü ist wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht in München. Für das Max-Planck-Institut nahm er als Beobachter an der WIPO-Konferenz teil.
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