Martin Kretschmer: „Niemand hat etwas davon, wenn Werke nicht genutzt werden können“
iRights.info: Herr Kretschmer, Sie sagen, dass immens viele urheberrechtlich geschützte Werke in einem schwarzen Loch verschwinden. Was meinen Sie damit?
Martin Kretschmer: Viele Werke, die nicht länger kommerziell verwertet werden, bleiben aufgrund laufender Schutzfristen oder ungeklärter Urheberrechtslage ungenutzt. Es ist oft nicht möglich, sie neu heraus zu bringen oder zumindest online zugänglich zu machen. Nach 50 Jahren sind über 90 Prozent aller geschützen Werke in dieser Situation.
Das Dilemma ist, dass niemand etwas davon hat, wenn geschützte Werke nicht genutzt werden können – weder die Rechteinhaber noch die Gesellschaft.
iRights.info: Ist dieses schwarze Loch also mehr als ein rechtliches Problem, eine gesellschaftspolitische Frage?
Martin Kretschmer: Ja, und der Gesetzgeber beginnt die Problematik auch zu erkennen, was sich etwa in der europäischen Richtlinie zu verwaisten Werken ausdrückte.
iRights.info: Diese Richtlinie sollte es erleichtern, an ungenutzte Werke rechtlich heranzukommen. Jedoch sind in bestimmtem Maße nach wie vor gründliche Rechteklärungen erforderlich.
Martin Kretschmer: Und daraus ergibt sich die Frage: Wie hoch sind dafür die Kosten – und sind sie am Ende gerechtfertigt?
iRights.info: Welche Kosten meinen Sie?
Martin Kretschmer:
Im CREATE-Forschungsinstitut in Glasgow haben wir dazu gerade eine Studie durchgeführt. Es ging um eine Serie von Collagenbüchern eines wichtigen schottischen Dichters, Edwin Morgan. Sie entstanden zwischen 1931 und 1966 und sollten nun digitalisiert werden. Die 16 Bände enthalten etwa 54.000 verschiedene Ausrisse, Fotos, Bilder, Zeichnungen, Grafiken, Zeitungs- und Magazintexte. Davon gelten etwa 72 Prozent als verwaist, weil die Urheber beziehungsweise Rechteinhaber unbekannt sind.
Verwaiste Werke
Als verwaist gelten Werke, wenn der Urheber oder Rechteinhaber nicht bekannt oder nicht auffindbar ist. Sie bleiben daher häufig ungenutzt. Ist zum Beispiel der Rechteinhaber an einem Buch oder Zeitungsartikel nicht bekannt, können die Inhalte nicht ohne Weiteres in digitalen Bibliotheken angeboten werden. Seit 2014 dürfen Archive, Bibliotheken und Museen verwaiste Werke unter bestimmten Bedingungen online zugänglich machen. Dazu gehört, dass sie sorgfältig nach Rechteinhabern gesucht haben, die Suche dokumentieren und Werke bei einem Register anmelden. Ungenutzt bleiben neben den verwaisten Werken häufig auch vergriffene Werke, etwa Bücher ohne Neuauflage. Mehr zum Thema.
Wir haben dann versucht, die Rechte daran unter verschiedenen rahmenrechtlichen Bedingungen zu klären, zum Beispiel unter der europäischen Richtlinie und dem britischen „Orphan Works Licensing Scheme“, das potenziell auch kommerzielle Nutzungen ermöglicht. Hierbei erfassten wir anhand einer Stichprobe den dafür erforderlichen Zeitaufwand und die daraus resultierenden Kosten.
iRights.info: Und was kam dabei heraus?
Martin Kretschmer: Nach unseren Berechnungen würde eine vollbeschäftigte Kraft 12 Jahre nichts anderes tun, als die Rechte zu klären, die die digitale Veröffentlichung dieser kulturhistorisch wichtigen Bände ermöglichen würden.
Hochgerechnet von unserer Stichprobe wären Kosten in der Höhe von 288.430 britischen Pfund für die Rechteklärung aufgelaufen. Dies ist vielleicht ein extremer Fall, aber untypisch sind solche Kosten für komplexe Digitalisierungsprojekte nicht. Die Frage ist nun: Wer wagt sich unter diesen Umständen daran, verlorene Werke wieder zugänglich zu machen?
iRights.info: Wenn also die Richtlinie für verwaiste Werke oder einzelstaatliche Regelungen nicht helfen, wie ließe sich die von Ihnen festgestellte Misere dennoch überwinden?
Martin Kretschmer: Man könnte eine Regel einführen, wie man sie aus dem internationalen Markenschutzrecht kennt. Wird eine geschützte Marke eine bestimmte Zeit lang nicht genutzt, kann der Rechteinhaber sie verlieren. Etwas ähnliches ließe sich für urheberrechtliche Werke entwickeln. Meiner Ansicht nach wäre das ein pragmatischer Weg, weil es ein solches Rechtsprinzip, das den Schutz einschränkt, bereits gibt.
iRights.info: Wäre eine solche Regelung für Deutschland oder in Europa tatsächlich durchsetzbar und mit den vorhandenen Rechtsrahmen vereinbar?
Martin Kretschmer: Man könnte innerhalb der internationalen Rahmenbedingungen beispielsweise einen Rechterückfall an Urheber vorsehen. Und zwar in der Form, dass ungenutzte Rechte standardmäßig kollektiv verwertet werden. Das heißt, das Verbotsrecht wird damit in der Praxis zu einem Vergütungsrecht.
Wohlgemerkt wären das immer noch Autorenrechte im Sinne der Berner Übereinkunft, nur verschwänden die Werke nicht mehr im schwarzen Loch. Vielmehr ließen sie sich über die kollektive Verwertung, abgewickelt durch Verwertungsgesellschaften, wieder aktivieren.
iRights.info: Was ist, wenn sich der Rechteinhaber nach diesem Rückfall doch wieder meldet?
Martin Kretschmer: Es muss dem Rechteinhaber im Prinzip möglich sein, die betreffenden Werke wieder aus dem Pool der Verwertungsgesellschaft herauszunehmen.
iRights.info: Somit würde aus dem schwarzen Loch eine Art Depot, in dem ungenutzte Werke grundsätzlich zugänglich sind. Das klingt vernünftig. Was spräche dagegen, so eine Regelung einzuführen?
Martin Kretschmer: In erster Linie die Reflexe der Beteiligten. Die politische Debatte um das Urheberrecht ist so eingefahren, dass jeder Versuch, eine progressivere Perspektive einzubringen, sofort von den alten ideologischen Argumenten erstickt wird. Daher müssten wir als erstes einen gesellschaftlichen Konsens schaffen: Ungenutzte Werke sollen nicht verschwinden, sondern zugänglich bleiben.
Ist dieser Konsens erreicht, überlegt man, welche Möglichkeiten es gäbe, ihn rechtlich umzusetzen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass wieder die gleichen politischen Gefechte ausgetragen werden, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten bei jeder neuen Ausnahmeregelung erlebten. Selbst der WIPO-Blindenvertrag von Marrakesch, eine vergleichsweise kleine Schranke, gegen die eigentlich niemand etwas haben sollte, benötigte 50 Jahre, bis sie verabschiedet wurde. Das ist doch absurd.
Es gibt so eine reflexartige Rhetorik, die viele bei jedem Reformversuch immer wieder aufs Neue strapazieren. In einem Zeitalter, das von technologischen Umbrüchen geprägt ist, sollten wir solche Reflexe vermeiden.
Werbeblock in eigener Sache: Mit dem Zugang zum Kulturgut aus Museen, Bibliotheken und Archiven befasst sich auch die von iRights.info mitveranstaltete Konferenz „Zugang gestalten!“ am 17. und 18. November 2016 in Berlin. Mehr Informationen zum Programm und die Anmeldung finden Sie unter zugang-gestalten.de.
4 Kommentare
1 Matthias Ulmer am 6. September, 2016 um 10:31
Inwiefern unterscheidet sich denn der Vorschlag gegenüber der seit zwei oder drei Jahre umgesetzten Lizenzierung von verwaisten Werken über die VG Wort als gemeinsam erarbeitete Lösung von Autoren, Verlagen und Bibliotheken? Oder ist Herrn Kretschmer diese Lösung seines Problems nicht bekannt?
2 Brigitte Ecker BA am 7. September, 2016 um 08:42
Ich hatte das Problem mit einem ungarischen Buch. Der Autor ist irgendwann zwischen 1944 und 1948 verstorben, laut russischer Akten 1947/8 im GULAG. Die Bibliothek besteht aber auf einer genauen Bestätigung seines Todes, so lange ist nur eine teilweise Digitalisierung möglich. Nachfahren hat er anscheinend keine, bestenfalls Neffen oder Urgroßneffen. Das Buch ist übrigens vor mehr als 50 Jahren erschienen und nicht mehr lieferbar.
3 Jürgen Schulze am 7. September, 2016 um 08:49
Als Verleger digitaler Werke weiß ich auch um dieses Problem.
Eine Menge alter, für mich interessanter Werke, kann einfach nicht veröffentlicht werden, da sich für meinen kleinen Ein-Mann-Verlag die Kosten der Recherche einfach nicht rechnen.
Vor zwei Jahren habe ich versucht die Rechtsnachfolger des Autors einer sehr bekannten deutschen Krimireihe zu ermitteln. Irgendwann bin ich bei einer süddeutschen Kanzlei gelandet, die sich schlicht geweigert hat, mir Auskunft zu erteilen.
Die Autoren wären mit Sicherheit hocherfreut, ihre Werke wieder veröffentlicht zu sehen – würden sie denn noch leben.
Leider ist eine vernünftige Diskussion darüber in Deutschland nicht zu erwarten, da die parteipolitischen und ideologischen Beißreflexe schneller sind als der Verstand.
Also muss man wohl warten, bis die 70 Jahre ‘rum sind.
4 Brigitte Ecker BA am 8. September, 2016 um 08:23
Und dann gibts in Deutschland und vielleicht auch schon in Österreich die berühmten Abmahnanwälte. Die treten zum Teil schon auf den Plan, wenn man einen Link legt oder ein gängiges Lied als Hintergrundmusik für seine Website verwendet
Was sagen Sie dazu?