„Tief uneinige Weltgesellschaft“: Forscher untersuchen Ethik des Kopierens

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iRights.info: Sie erforschen die „Ethik des Kopierens“. Was ist darunter zu verstehen?

Eberhard Ortland ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe „Ethik des Kopierens“. Er hat Philosophie, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft studiert, promovierte an der Universität Potsdam, war Mitarbeiter an der Universität Hildesheim und Redakteur der „Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie“.
Eberhard Ortland: In allen Gesellschaften gibt es bestimmte Einschränkungen, wer etwas nachmachen, wer Kopien von bestimmten, knapp gehaltenen Gütern erhalten, nutzen, weiterverbreiten darf. Denken Sie etwa an das Recht, sich mit bestimmten Zeichen in der Öffentlichkeit zu zeigen, seien es Insignien der Herrschaft oder Signale für einen Herrschaftsanspruch, seien es Zeichen der Opposition, des Hasses oder der Verachtung: Keine noch so liberale Gesellschaft kann darauf verzichten, hier bestimmte Grenzen zu errichten und die Freiheit des Kopierens oder des Gebrauchs von Kopien einzuschränken.
Im engeren Sinn bezieht sich die „Ethik des Kopierens“ auf Fragen wie: Wer darf von wem verlangen, bestimmte Zeichen, Bilder, Texte, Melodien, Verhaltensmuster gar nicht oder nur in einer bestimmten Weise zu kopieren oder zu verwenden? Welche Standards der Genauigkeit, der Texttreue, der Buchgestaltung sind zu beachten, wenn ich etwa eine Druckausgabe der Bibel, des Korans oder eines anderen heiligen Textes veranstalten möchte? Dürfte ein Nicht-Muslim überhaupt eine Koranausgabe publizieren und verkaufen? Mit welchem Recht wollte jemand es ihm verbieten?
iRights.info: Es geht also nicht nur um urheberrechtliche, sondern übergreifende, kulturelle Einschränkungen?
Eberhard Ortland: Richtig, es gibt strafrechtliche, zivilrechtliche, öffentlich-rechtliche und standesrechtliche Einschränkungen der Freiheit, sich in Wort, Schrift oder Bild zu äußern. Im Vorfeld solcher positiv-rechtlicher Normen gab und gibt es stets auch moralische, religiöse oder konventionelle Einschränkungen dessen, was als akzeptabel angesehen wird und was nicht. Solche Einschränkungen und Tabus müssen natürlich immer wieder auch kritisch in Frage gestellt werden.
iRights.info: Was verstehen Sie bei Ihren Forschungen alles unter dem Begriff „Kopie“?
Eberhard Ortland: Wir stellen im Kontext des gesellschaftlichen Umgangs mit den Praktiken des Nachahmens und Kopierens die Frage, was für wen unter welchen Umständen als Kopie zählt und was eben gerade nicht. Deshalb versuchen wir in der Anfangsphase, den Begriff „Kopie“ erst einmal zu klären. Wir haben ja diverse Begriffe wie „Replik“, „Faksimile“, „Nachstich“, „Nachdruck“, „Nachguss“, „Klon“, „Multiple“, „Lookalike“, „Remake“, „Imitation“, „Nachahmung“, „Zitat“, „Anspielung“, „Collage“, „Mashup“, „Plagiat“, „Fake“ oder „Fälschung“ und so weiter.
Diese Begriffe werden zumindest teilweise gebraucht, um unterschiedliche Phänomene auseinanderzuhalten; sie beziehen sich teilweise aber auch auf dieselben Phänomene, vielleicht in unterschiedlichem Sinn. Im Sprachgebrauch ist das oft nicht so ganz klar.
Unser Ansatz ist zunächst, das in möglichst einheitliche Begrifflichkeiten zu überführen beziehungsweise klare Unterscheidungen und brauchbare Zuordnungen für die vielfältigen Phänomene und Praktiken des Kopierens zu finden. Das ist gar nicht einfach. Oft gilt eine Kopie als etwas Zweitklassiges gegenüber dem Original, manchmal ist sie gerade so gut und für manche Verwendungszwecke sogar besser geeignet.
iRights.info: Wie meinen Sie das konkret?
Eberhard Ortland: Mit der Druckvorlage des 50-Euro-Scheins könnten Sie nicht einkaufen gehen, mit einer autorisierten Kopie, also einem „echten“ Schein, geht das, und mit einer selbstgemachten Kopie wird es riskant. Jedes Exemplar eines gedruckten Buches ist eine Kopie, die zum Zweck des Lesens in der Regel besser geeignet ist als das Originalmanuskript. Mit digitalen Kopien von Texten, Bildern oder Audioaufnahmen kann man einiges machen, was man mit analogen Kopien oder Originalen niemals tun könnte, etwa sie maschinell auf bestimmte Stellen durchsuchen, sampeln, remixen.
iRights.info: Wie erforschen Sie die Einstellungen der Menschen zum Kopieren?
Eberhard Ortland: Wir greifen unter anderem auf empirische Sozialforschung zurück, die zum Beispiel Aram Sinnreich schon länger in den USA betreibt. Dort geht es um wertende, normative Einstellungen zu und Bewertungen von bestimmten Kopierpraktiken in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, Ländern und Wissenskulturen.
Bereits der jetzige Stand dieser Forschung zeigt: In europäischen oder amerikanischen weißen Mittelschichtskulturen herrschen andere Vorstellungen und Wertungen von Kreativität, Originalität oder Kopierpraktiken als bei den Befragten mit afroamerikanischem oder auch asiatischem – chinesischem, indischem, japanischem – Hintergrund. Aufgrund ihrer unterschiedlichen kulturellen Traditionen beurteilen die Menschen scheinbar gleiche Verhaltensweisen und Phänomene sehr kontrovers.
iRights.info: Und Sie wollen für diese unterschiedlichen Auffassungen des Kopierens einen gemeinsamen globalen Nenner finden, zumindest in der Beschreibung?
Eberhard Ortland: In der tief uneinigen „Weltgesellschaft“ werden offenbar sehr unterschiedliche Ethiken des Kopierens vertreten und gelebt. Diese Ethiken wollen wir sozialwissenschaftlich, kulturwissenschaftlich und philosophisch erforschen, sie erst einmal beschreiben, um dann in eine kritische Diskussion ihrer Legitimität und Relevanz eintreten zu können.
Doch der Streit um die Legitimität oder Illegitimität von Kopiervorgängen wird sich nicht im Rahmen internationaler Abkommen und dadurch angeglichener nationaler Gesetzgebungen regeln lassen. Wir müssen grundsätzlicher ansetzen und uns international, kulturübergreifend über unseren jeweiligen Umgang mit Zeichenverwendungen austauschen.
Wenn es so etwas wie eine weltumspannend und allseits als akzeptabel angesehene Ethik des Kopierens einmal geben sollte, wird sie sich nur als Resultat intensiver und langwieriger Auseinandersetzungen herausbilden. Mit der Forschungsgruppe wollen wir zunächst das Bewusstsein für die Notwendigkeit dieser Auseinandersetzung vertiefen und uns als eine Stimme unter anderen an dem Gespräch beteiligen.
iRights.info: Sie schrieben vor einigen Jahren, dass die Kunstfreiheit und das Urheberrecht zunehmend in Konflikt geraten. Hat sich dieser Konflikt in den vergangenen Jahren verschärft?
Eberhard Ortland: Ja, und das hat zum einen mit den Entwicklungen in der Kunst zu tun, zum anderen mit den rechtlichen Entwicklungen. Das Urheberrecht wird in einer Weise ausgebaut, die zunehmend in die künstlerische Handlungsfreiheit eingreift, während zugleich die grundgesetzlich garantierte „Freiheit der Kunst“ auch kein statisches Recht ist, sondern durch die Rechtsprechung konkretisiert wird. Was heute alles unter dem Begriff der „Kunst“ betrieben wird, das hätten sich ja die, die einst die „Freiheit der Kunst“ gefordert hatten und ins Grundgesetz geschrieben haben, gar nicht träumen lassen.
iRights.info: Zum Beispiel?
Eberhard Ortland: Denken Sie an Konzeptkünstler wie Hans Haacke, der 1971 in einer legendär gewordenen Arbeit Immobilienspekulationen in New York dokumentierte. Oder an ein Musikstück wie Variations II von John Cage (1961), das erklärtermaßen offen lässt, wie lang eine Aufführung dieses Stücks dauern soll, wie viele Leute mitwirken können und was für Klänge oder Geräusche sie machen, wenn sie denn überhaupt Geräusche machen. Die Folgen einer derartigen Entgrenzung des Werkbegriffs sind unermesslich.
Oder denken Sie an die sogenannte Appropriation Art, bei der die Kunst darin besteht, sich eine bereits als Werk eines früheren Künstlers eingeführte Form anzueignen – ein heikles Manöver, das gründlich schiefgehen kann und offenbar bewusst auf Kollisionskurs mit den Urheberrechten an der Vorlage fährt.
iRights.info: Sie meinen, die Künstler haben regelrecht zum Kopieren, Aneignen und Remixen ihrer Werke aufgefordert? Das klingt in den Ohren von Rechteverwertern vermutlich nicht so lukrativ.
Eberhard Ortland: In den vergangenen dreißig bis fünfzig Jahren, in denen sich diese Entgrenzung der künstlerischen Werkkonzepte ausbreitete, entwickelten sich ja auch die technischen Möglichkeiten des Kopierens und Weiterbearbeitens von kopiertem Material, Stichwort „Digitalisierung“. Zugleich – und als Reaktion auf die neuen technischen Möglichkeiten – kam es in dieser Zeit auch zu gravierenden Einschränkungen, die sowohl die Bedingungen für die Produktion als auch für die Distribution von Bildern, Zeichen, Texten und Klängen betreffen.
Das begann mit der Ausdehnung der urheberrechtlichen Schutzfristen. Problematisch wird es durch den gleichzeitig wachsenden Umfang der Urheberrechte, die das Handlungsspektrum und die Kontrollmöglichkeiten der Rechteinhaber immer mehr erweitern.
Nach der Berner Übereinkunft sollen es mindestens die Lebenszeit des Urhebers und weitere fünfzig Jahre nach seinem Tod sein; in Deutschland gilt seit 1965 die Frist bis siebzig Jahre nach dem Tod des Urhebers. In der Regel werden Urheberrechte also nicht nur einmal, sondern mehrfach vererbt. Und die Rechteinhaber werden nicht müde, stets weitere Verlängerungen der Schutzfristen zu verlangen.
iRights.info: Was folgt daraus?
Eberhard Ortland: Denken Sie an den Disney-Konzern. Der hat sich in den 1940er- und 50er-Jahren konsolidiert, als noch ganz andere rechtliche Bedingungen existierten, die USA ausländische Urheberrechte teilweise auch gar nicht anerkannten. Disney hat seinerzeit Bilder- und Geschichten-Repertoires wie Grimms Märchen oder auch die „Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson aus dem 19. Jahrhundert aufgesogen – wie ein Staubsauger. Das war bei den damaligen Schutzfristen und rechtlichen Bestimmungen überhaupt kein Problem.
Das Unternehmen Disney hat daraus dann etwas Eigenes gemacht und dafür Copyright reklamiert. Genau dieser Disney-Konzern war es dann, der in Amerika auf erheblich längere Schutzfristen drängte und damit den internationalen Vertrieb seiner Werke, die ja zu einem ganz erheblichen Teil Adaptionen von Gemeingut oder von Werken anderer sind, über Jahrzehnte monopolisieren konnte. Und nun soll es kriminell sein, daran anzuknüpfen, was sie hergestellt haben?
iRights.info: Und das behindert die Kunst über die Maße ihrer Freiheit?
Eberhard Ortland: „Kunst und Wissenschaft sind frei“ steht seit 1949 im deutschen Grundgesetz, das wurde aber erst seit den 1960er-Jahren von Künstlern und Schriftstellern tatsächlich auch im Streitfall in Anspruch genommen und sukzessive als gelebtes Recht auch gesellschaftlich etabliert. Ab den Siebzigern bis in die Neunzigerjahre sind im Zusammenhang mit der Entwicklung der Künste eine Reihe von Entscheidungen ergangen, bei denen das Verfassungsgericht die Gelegenheit hatte, grundsätzlich zu klären, wie weit die Kunstfreiheit eigentlich reicht und inwiefern es bei der Beurteilung andere rechtliche Ansprüche berücksichtigt.
iRights.info: Worin bestand die Auseinandersetzung bei diesen Verfahren?
Eberhard Ortland: Es ging beispielsweise um die Möglichkeit, Texte oder auch Bilder, die als pornografisch beurteilt wurden, öffentlich anzubieten. Es ging immer wieder um den Konflikt zwischen der Freiheit der Kunst und den Persönlichkeitsrechten von Leuten, die meinten, sich selbst oder verstorbene nahe Angehörige in einem Kunstwerk wiederzuerkennen, und zwar in wenig erfreulichem Licht. Es ging um die Freiheit der Satire und der öffentlichen politischen Auseinandersetzung, auch in anderen Medien als Rede oder Schrift. Es ging um den Schutz des Eigentums gegen Sachbeschädigung etwa durch Graffitikünstler, oder um den Religionsfrieden und die Freiheit, sich künstlerisch mit dem, was anderen heilig ist, auseinanderzusetzen.
iRights.info: Man hört ja oft, dass es bei den Nutzern heute keinen Respekt mehr vor den Urhebern gebe. Sollte man diejenige Moral akzeptieren, die weit verbreitet ist?
Eberhard Ortland: Moment, das gilt es erst einmal zu erforschen: Ist die Kopiermoral tatsächlich so lax geworden? Gab es tatsächlich mal eine Zeit, in der das Kopieren in einem anderen Maß als Tabu angesehen wurde? Man könnte ja auch den gegenteiligen Eindruck haben und sagen, dass früher mit größerer Selbstverständlichkeit kopiert wurde. Wenn man das historisch erforscht, wird man zu differenzierten Ergebnissen kommen. Tatsächlich ändert sich die Sichtweise, was als problematisches oder unproblematisches Kopieren angesehen wird.
iRights.info: In digitalen Medien sind Mashups und Remixe längst Alltag, und die Konzepte für ein „Recht auf Remix“ und Modelle wie „Fair use“ scheinen an Zuspruch zu gewinnen. Erkennen Sie hierin eine moderne Ethik des Kopierens?
Eberhard Ortland: Materialien und Formen, die bereits Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, wiederzuverwenden und in einen neuen Kontext zu stellen – das ist eine ganz elementare kulturelle Technik, die sich in der einen oder anderen Form bis in die Steinzeit zurückverfolgen lässt. Wir müssen dabei nicht nur an Kreativität und Schöpfung denken sondern auch an den Begriff der kulturellen Tradition. Diese meint, etwas Eingeführtes aufzunehmen und lebendig zu erhalten, also etwas mit ihm anzustellen, womit man selbst etwas anfangen kann. Tradition ist nicht einfach nur museale Konservierung sondern ein lebendiges Weiterarbeiten mit überkommenen Formen.
Das Forschungsprojekt Ethik des Kopierens befindet sich noch in der Anfangsphase, für die Forschergruppe um Reinold Schmücker (Münster), Thomas Dreier (Karlsruhe) und Pavel Zahrádka (Olomouc) und weitere Mitwirkende beginnt die Haupt-Arbeitsphase im Oktober.
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