Die Schlüsselrolle der Kunst für das Urheberrecht
In den letzten Jahren sind die Urheberrechtsgesetze in den Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) und der World Intellectual Property Organization (WIPO) grundlegend umgestaltet worden. Dabei ging es darum, das Urheberrecht den technischen und wirtschaftlichen Bedingungen der global vernetzten Informationsgesellschaft anzupassen und neue Geschäftsmodelle für die Verwertung urheberrechtlich geschützter Inhalte zu ermöglichen. Die Entwicklung läuft auf eine massive Ausweitung der Urheberrechte hinaus: sowohl in Bezug auf die Menge der schutzfähigen Gegenstände als auch in der inhaltlichen Ausgestaltung der geschützten Rechte und nicht zuletzt in der zeitlichen Dimension der Schutzfristen.
Zug um Zug wird das Urheberrecht in einem international koordinierten Prozess ausgebaut zum Marktordnungsrecht der postindustriellen Gesellschaft. Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind erheblich: Die Ausweitung der Urheberrechte führt zu einer beispiellosen Konzentration von Ressourcen bei global agierenden Quasi-Monopolisten in den Medien- und IT-Märkten.
Diesen Rechteinhabern wächst so die Macht zu, darüber zu entscheiden, welche technischen und vertraglichen Voraussetzungen andere erfüllen müssen, um Zugang zu Märkten, Informationen, Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten zu erhalten. Die Kehrseite des lukrativen Geschäfts ist der zunehmend rigider betriebene Ausschluss derer, die nicht an die Kreditkarten- und E-Banking-Systeme angeschlossen sind, aus maßgeblichen Bereichen des öffentlichen Raumes und des kulturellen Lebens. Dies betrifft die große Mehrheit der Weltbevölkerung.
Die Frage, wer den Zugang zu den immateriellen Gütern und Datenströmen kontrollieren kann – und an welche Bedingungen der Zugang jeweils gebunden ist –, wird zu einer der zentralen Machtfragen des 21. Jahrhunderts. Es geht nicht nur um viel Geld; auch elementare bürgerliche Freiheiten stehen auf dem Spiel – wie das Recht, sich im Rahmen des verfügbaren Wissens ungehindert zu informieren, und das Recht, sich anderen mitzuteilen.
Copy Fights
Mit der Ausweitung der Urheberrechte nehmen die Gelegenheiten zu, bewusst oder fahrlässig fremde Urheberrechte zu verletzen, wie auch das Risiko, fälschlich der Verletzung fremder Urheberrechte bezichtigt zu werden. Aufsehen erregten Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe gegen die Anbieter von Filesharing-Technologien, die Nutzern ermöglichen, Musik- oder Filmdateien online anbieten.
Immer häufiger kommt es auch zu Klagen wegen der Produktion von neuen Werken, die die Rechteinhaber eines älteren Werks als unberechtigte Bearbeitung oder abhängige Nachschöpfung des von ihnen kontrollierten Werks ansehen: insbesondere, wo Collage- oder Samplingtechniken eingesetzt werden, oder in der konzeptuellen Kunst. Daher mehren sich die Stimmen, die der Ausweitung des Urheberrechts zunehmend kritisch gegenüberstehen. Die Diskussion ist in den USA bereits weiter fortgeschritten als in Deutschland.
In der anglo-amerikanischen Diskussion wird der Effekt der Ausweitung von Rechten des „geistigen Eigentums“ als „second enclosure“ (‚zweite Einzäunung’) bezeichnet: Wie in der frühen Neuzeit die besitzindividualistische bürgerliche Gesellschaft durch Aufteilung und Einzäunung der ehedem gemeinschaftlich bewirtschafteten Allmenden oder Dorfanger (engl.: ‚the commons’) den mittelalterlichen Formen der Lehens- und Gemeinwirtschaft ein Ende setzte, so werde heute das öffentliche Gut der Bilder, Klänge, Wissensbestände und Ausdrucksformen abgeteilt und eingezäunt, sodass es fortan als exklusives Eigentum der jeweiligen Rechteinhaber den anderen Nutzungsinteressenten nur noch gegen Entgelt zur Verfügung stehe.
Privatisierung von Geistesgütern
Dieser zunehmenden Privatisierung der Geistesgüter tritt eine wachsende Bewegung von selbstbewussten Nutzern entgegen, die auf das schöpferische Potential verweisen, das gerade in den Formen ihrer gemeinwirtschaftlichen Nutzung liegt. So hat die Creative-Commons-Organisation alternative Lizenzmodelle entwickelt, durch die Urheber ihre Werke anderen zur kreativen Weiterverwendung zur Verfügung stellen können, ohne auf entscheidende Rechte wie die Kontrolle über die Integrität ihrer Werke zu verzichten oder sie der Ausbeutung durch Trittbrettfahrer zu überantworten.
Die ökonomische Funktion des Urheberrechts für die Sicherung des Lebensunterhalts der Kreativen könnte auch unter Bedingungen eines uneingeschränkten Zugriffs auf kulturelle Güter als Gemeineigentum im Sinne einer „Wissensallmende“ gesichert werden durch eine „Kulturflatrate“, wie sie etwa in Frankreich als „Globallizenz“ diskutiert wird. Nach einer neueren französischen Studie wäre eine derartige Form der weitgehend gemeinwirtschaftlichen Wahrnehmung der Verwertungsrechte der Urheber durchaus vereinbar mit den Grundsätzen des geltenden Urheberrechts.
Schutzfrist verkürzen
Noch ist unklar, ob sich diese Idee politisch durchsetzen wird. Sie weist aber in die richtige Richtung. Denn unsere Kultur lebt in ganz erheblichem Maß davon, dass man sich auf Werke auch aus der jüngeren Vergangenheit beziehen und an sie anknüpfen kann. Deshalb erscheint es sinnvoll, die Dauer des Urheberrechts auf eine Schutzfrist von 25 Jahren ab Erscheinen des Werks zu verkürzen. Das sollte mehr als hinreichend sein für die Amortisierung der verlegerischen Investitionen; auf Antrag könnte eine Verlängerung um weitere 25 Jahre eingeräumt werden.
Ähnliche Vorschläge hat Lawrence Lessig in seinem Buch Free Culture (2004) ausgearbeitet. Im Interesse der Minimierung von unkalkulierbaren Risiken wäre ferner eine Registrierung von Urheber- und Nutzungsrechten sowie eine Kennzeichnung der urheberrechtlich geschützten Werke wünschenswert, wie sie im US-amerikanischen Copyright bis 1976 für die Entstehung des Schutzrechts erforderlich war.
Die Schlüsselrolle der Kunst
Im Streit um die gewandelte gesellschaftliche Funktion des Urheberrechts nimmt die Kunst eine Schlüsselposition ein. Die Konflikte um das Urheberrecht spitzen sich zu, wo sich das Urheberrecht an bestehenden Werken gegen die Freiheit der Kunst (und der Wissenschaft) wendet und der Produktion neuer Werke im Weg zu stehen droht.
Der Konflikt um die Erfordernisse der Kunstfreiheit betrifft das Urheberrecht im Kern – auch wenn der Anteil der Kunstwerke an den durch das Urheberrecht erfassten Gegenständen im Vergleich zu den Umsätzen der Unterhaltungs- und der Softwareindustrie wirtschaftlich kaum ins Gewicht fällt. Denn die Annahme, dass das Urheberrecht die legitimen Interessen der Künstler an ihren bereits geschaffenen wie an ihren noch zu schaffenden Werken schützen soll, dürfte für die gesellschaftliche Akzeptanz des Urheberrechts nach wie vor unerlässlich sein.
Software als „Werke der Literatur“
In diesem Zusammenhang ist es mehr als bloß eine Kuriosität am Rande, dass man keine andere Möglichkeit sah, den urheberrechtlichen Schutz für Computerprogramme zu begründen, als dadurch, dass man im Abkommen der WTO über den Schutz handelsbezogener Aspekte des geistigen Eigentums (TRIPs) 1994 festschrieb, sie seien als „Werke der Literatur“ anzusehen. Das Beispiel zeigt, dass unter den Gegenständen, für die Urheberrechte in Anspruch genommen werden können, auch im „Informationszeitalter“ Kunstwerke einen besonderen Stellenwert einnehmen – nicht etwa nur aufgrund einer überkommenen Tradition, sondern aus systematischen Gründen.
Denn das Urheberrecht steht und fällt mit dem Werkbegriff. Nach geltendem Recht kommt als potenziell schutzfähiges Werk nur ein Produkt der schöpferischen Tätigkeit eines (oder mehrerer) Menschen in Frage. Als ‚schöpferisch’ kann eine zielgerichtet produktive Tätigkeit gelten, insofern durch sie die Menge der Gegenstände, aus denen unsere Welt besteht, um etwas ergänzt wird, das bisher in der Welt nicht vorkam. Die bloße Neuheit allein ist es jedoch noch nicht, die etwas als ein schutzfähiges Werk qualifiziert. Es wird darüber hinaus ein ‚geistiger’ Gehalt gefordert: Interpretierbarkeit (in welchem Sinn auch immer).
Das Paradigma für eine „persönliche geistige Schöpfung“ (UrhG § 2 [2]) ist das Kunstwerk im modernen Verständnis: das Werk eines Künstlers, der sich nicht damit begnügt, etwas herzustellen, das den Anforderungen einer vorgegebenen Aufgabe entspricht oder gemäß den Regeln seiner Kunst als gelungen akzeptiert werden kann, sondern der etwas in die Welt setzt, das sich von allem bisher Bekannten abhebt und durch diese Differenzqualität (nach verbreiteter Auffassung) der Individualität und dem persönlichen Geist seines Urhebers zum Ausdruck verhilft.
Urheberrecht ohne Legitmiation?
Was immer man in kunsttheoretischer Hinsicht von dieser Konzeption des Werkbegriffs und seiner Bindung an die Person des Urhebers halten mag: Entscheidend ist, dass die exklusiven Vermarktungsrechte – wie auch die Möglichkeit, die Genehmigung zur Nutzung eines Werks an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, und die Urheberpersönlichkeitsrechte – abgeleitet sind aus der Annahme eines ursprünglichen Eigentums des Urhebers, die nur auf der Grundlage dieser Vorstellung von der Beziehung zwischen dem Künstler und seinem Werk plausibel erscheinen kann.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die gegenwärtige Umgestaltung dem Urheberrecht seine Legitimationsgrundlage zu entziehen droht. Ein Urheberrecht, das in die Beziehung des Künstlers zu seinem Werk und in die Freiheit zur Produktion neuer Werke so gravierend eingreift, dass es nicht mehr als Schutz der persönlichen geistigen Schöpfung wahrgenommen werden kann, sondern in erster Linie als ein Institut zur Durchsetzung fremder Interessen gegen das Interesse der Künstler am eigenen Werk erscheint, büßt seine Legitimität und damit auch seine Funktionsfähigkeit ein. Die Ausweitung der Verwerteransprüche legt die Axt an die Wurzeln des modernen Urheberrechts.
Eine frühere Version dieses Artikels ist am 14. März 2006 in der Frankfurter Rundschau erschienen.
Die Reihe „Copyright & Art“ in der FR wird am 20. Juni 2006 fortgesetzt mit einem Artikel von Thomas Hoeren.
Einen guten Eindruck davon, was auf dem Spiel steht, bietet der von Adam Thierer und Wayne Crews herausgegebene Band: Copy Fights, Washington, DC: Cato Institute 2002.
Außerdem: Carine Bernault/Audrey Lebois, Peer-to-peer File Sharing and Literary and Artistic Property, Nantes 2006 (bei privatkopie.net als PDF verfügbar).
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