Interview mit Cory Doctorow: „Kopieren zu verteufeln ist Heuchelei”
Sie bezeichnen sich als „Copyfighter”. Was ist damit gemeint?
Cory Doctorow: Lassen Sie mich das am Beispiel des Mediengeschäfts erklären. Schließlich bin ich Schriftsteller, also interessiert mich dieses Feld am meisten. Viele im kreativen Bereich tätige Leute, vor allem in den großen Medienkonzernen, beklagen sich darüber, dass die Nutzer im Internet kostenlos Sachen kopieren können, dass die Leute alles auf ihre Festplatte laden können, was sie wollen, ohne auch nur einen Cent Lizenzgebühren dafür zu bezahlen. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Festplatten werden immer kleiner und billiger, und sie werden immer mehr Platz für Daten bieten.
Sollte das Kopieren in Zukunft schwieriger werden, würde das bedeuten, dass in unserer Gesellschaft wirklich etwas Schlimmes passiert ist. Das würde bedeuten, dass wir plötzlich keinen Strom mehr erzeugen könnten oder dass wir gerade einen Atomkrieg hinter uns hätten! Der universale Zugang zum gesamten Wissen der Menschheit ist die Erfüllung eines unserer größten Träume. Sich über so etwas zu beklagen, ist meiner Ansicht nach moralisch nicht vertretbar.
Es gibt noch einen Grund, das Kopieren zu befürworten und einen maximalen Copyright-Schutz zu bekämpfen: die Auswirkungen auf unsere Zivilgesellschaft. Durch Kopierverbote kriminalisiert man die Mehrzahl der Internetnutzer; denn wir alle kopieren doch ständig irgendwelche Sachen. Ich halte weltweit Vorträge in großen Unternehmen der Unterhaltungsindustrie und frage meine Zuhörer bei dieser Gelegenheit immer: „Wer von Ihnen ist kein Copyright-Verletzer?” Keiner hebt die Hand, nicht einmal die Anwälte, weil sie wissen, dass sie hundertmal am Tag gegen Schutzrechte verstoßen, indem sie Texte illegalerweise aus dem Internet downloaden. Kopieren als illegal zu verteufeln, ist einfach nur Heuchelei und untergräbt unsere Moral.
Und was ist mit dem armen Künstler, dem dadurch seine Tantiemen entgehen?
Cory Doctorow: Kunst ist eine in ökonomischer Hinsicht irrationale Aktivität. Das gilt heute im 21. Jahrhundert ebenso wie früher. Die meisten Künstler konnten mit ihrer Kunst noch nie ihren Lebensunterhalt verdienen. Aber sie schaffen ihre Werke schließlich nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch, um gehört zu werden. Und im Internet können sich Menschen besser als in jedem anderen System Gehör verschaffen. Der Beweis dafür liegt auf der Hand. Schauen Sie sich z. B. YouTube an: Inzwischen machen immer mehr Leute Videos, die von mehr Menschen angeschaut werden als je zuvor in der Weltgeschichte.
Das wirft eine in unseren Augen sehr interessante Frage auf: Was ist eigentlich zeitgenössische Kunst?
Cory Doctorow: Aus der Perspektive des Künstlers muss die heutige Kunst das Kopieren als Voraussetzung akzeptieren. Wer Kunst macht, die nicht von anderen Menschen kopiert werden soll, der macht keine zeitgenössische Kunst. Ich hatte mal einen Mitbewohner, der Maler war und gelernt hatte, Werke im Stil von Michelangelo zu schaffen. Er stellte seine Grundierungen selbst her – aus enthäuteten Kaninchen. Das ist zwar schon ziemlich bizarr, aber es hat nichts mit zeitgenössischer Kunst zu tun. Ich bin Science-Fiction-Autor, und die Romane, die ich schreibe – das ist zeitgenössische Kunst. Es ist für mich als Künstler eine Befriedigung, Werke zu schaffen, die kopiert werden sollen.
Außerdem kann es auch kommerziell einträglich sein, sich moralisch richtig zu verhalten – also nicht heuchlerisch Fans für die Art Kopieren zu verdammen, die wir alle immer wieder praktizieren. Ich stelle alle meine Bücher kostenlos ins Internet, und die Leute können damit machen, was sie wollen – sie remixen, übersetzen oder an Freunde weitergeben –, solange sie das nicht zu kommerziellen Zwecken tun.
Dieses Modell funktioniert, weil ein kostenloses elektronisches Buch (E-Book) für die meisten Menschen kein Ersatz für ein gedrucktes Buch ist, sondern eher ein Anreiz, sich das Buch in gedruckter Form zu kaufen. Ich verkaufe jede Menge gedruckter Bücher, indem ich meine Romane in elektronischer Form kostenfrei ins Internet stelle. Vielleicht wird sich das eines Tages ändern. Es könnte ein Meteor in die Erde einschlagen, oder womöglich verlieren wir Menschen auch irgendwann völlig den Spaß an Romanen. Doch vorläufig verdiene ich gutes Geld damit, meine Bücher ins Internet zu stellen. Und wenn sich das jemals ändern sollte, dann wahrscheinlich auf eine Art und Weise, die für einen Künstler wie mich, der sich bereits intensiv mit dem Kopieren beschäftigt, leichter zu begreifen ist als für jemanden, der noch nie versucht hat, Verständnis für dieses Phänomen aufzubringen.
Sie sind also der gleichen Ansicht wie der Internetexperte Tim O‘Reilly, der meint, heutzutage sei das Problem des Künstlers nicht das Raubkopieren, sondern vielmehr mangelnde Bekanntheit?
Cory Doctorow: Ja, genau. Bei den meisten Leuten, die heute keines meiner Bücher gekauft haben, liegt das daran, dass sie noch nie von mir gehört haben, und nicht daran, dass ihnen irgendjemand eine kostenlose Kopie davon in die Hand gedrückt hat.
Nur wenige Menschen benutzen ein elektronisches Buch als Ersatz für ein gedrucktes, und zwar aus verschiedenen Gründen. Der Hauptgrund liegt darin, dass Computer eine ungeheure Ablenkung sind. Es ist sehr schwierig, lange erzählende Texte geistig aufzunehmen, wenn man vor einem Monitor sitzt. Die Leute sagen zwar immer wieder: „Das liegt an der Bildschirmqualität – sie ist einfach nicht gut genug für längeres Lesen.” Aber dieselben Leute, die das sagen, sitzen oft 18 Stunden am Tag vor ihrem PC und starren auf den Bildschirm. Das ist einfach kein glaubwürdiger Einwand, denn offensichtlich ist die Darstellungsqualität letztendlich immer noch gut genug, um stundenlang darauf zu starren. Das Problem der Computer liegt in der Art, wie wir sie benutzen.
Wenn ich z. B. am Rechner sitze und eine Geschichte verfasse, schreibe ich vielleicht einen Absatz; dann beantworte ich eine E-Mail, lösche ein paar Spams, schaue bei einer Foto-Tauschbörse vorbei, lade mir einen YouTube-Clip herunter, lösche Feeds aus meinem RSS-Reader – und kehre dann alle zehn Minuten wieder zu meinem Absatz zurück. Ich leide zwar zugegebenermaßen auch ein bisschen am Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom; aber andere Leute machen es genauso wie ich. Deshalb werden die wenigen Menschen auf der Welt, die Bücher ausschließlich zum Vergnügen lesen, sich wahrscheinlich nach wie vor gedruckte Bücher kaufen. Computer lenken einfach zu sehr ab.
Und was ist mit dem elektronischen Lesegerät Kindle? Stellt es Ihr Modell nicht infrage?
Cory Doctorow: Ich glaube nicht. Erstens wird jemand, der bereit ist, 350 Dollar für einen Kindle auszugeben, nicht an zehn Dollar für ein Buch sparen. Der Kindle wird im Preis vielleicht noch ein bisschen weiter heruntergehen, aber ich denke, er wird diese Preisreduktion durch eine Reihe zusätzlicher Funktionen erreichen, die ihn für die Nutzer attraktiver machen und die produzierte Stückzahl erhöhen. Doch sobald der Kindle überfrachtet wird, werden wir damit das gleiche Problem haben wie mit dem Computer – er wird uns zu sehr ablenken. Deshalb mache ich mir wegen des Kindle überhaupt keine Sorgen. Aber vielleicht täusche ich mich ja auch. Dann muss ich mir eben eine andere Methode überlegen, um mit meinen Büchern Geld zu verdienen. Und da ich zehn Jahre lang intensiv mit dem elektronischen Publizieren zu tun hatte, gibt mir das natürlich die besten Werkzeuge in die Hand, um auf dieser Basis ein neues Einkommensmodell für mich zu entwickeln.
In Ihren Sachbüchern scheinen Sie den Standpunkt zu vertreten, dass die Zeit der Originalität längst vorbei sei. Stimmt das?
Cory Doctorow: Ich glaube, dass wir unsere Vorstellung von Originalität erweitern müssen. Wir müssen akzeptieren, dass ein Remix – wenn auch nichts absolut Originelles – per se schon eine originelle Ausdrucksform ist. Die Vorstellung, dass man etwas völlig Neues entwickelt haben muss, damit es als Erfindung zählt, ist Unsinn. Denken Sie doch nur an den iPod. Er hat eigentlich nicht viel mehr getan, als eine ganze Menge Inhalte von den früheren MP3-Playern zu übernehmen. Ist es also originell, X und Y zu machen, während die Leute davor X, Y und Z gemacht haben? Ich glaube schon. Ich halte den iPod für ein sehr originelles Produkt. Aber er ist nicht originell im traditionellen Sinn, denn er ist etwas, das bereits jemand erfunden hat – ohne die üblichen Extras.
Cory Doctorow ist ein kanadischer Science-Fiction-Autor, Journalist und Blogger. Er arbeitete als European Affairs Coordinator für die Electronic Frontier Foundation (EFF) und wurde 2007 mit dem EFF Pioneer Award ausgezeichnet. Doctorow ist einer der Mitgründer der Open Rights Group in England, die sich, ähnlich wie die EFF, unter anderem für eine Liberalisierung des Urheber- rechts, gegen Digitale Rechteverwaltung und für den Datenschutz engagiert. Wie auch zahlreiche andere Bücher veröffentlichte er den BestsellerLittle Brother unter einer Creative-Commons-Lizenz. Er ist seit 2001 Co-Autor bei dem vielbe- achteten Blog Boing Boing. Als Gastprofessor lehrt er am Fulbright Chair in Public Diplomacy der University of Southern California. Nachdruck des Interviewausschnitts mit freundlicher Genehmigung des Autors und der manager magazin Verlagsgesellschaft. Das Interview erschien erstmalig im Harvard Business Manager 10/2009.
Dieser Beitrag gehört zur Reihe „Copy.Right.Now! – Plädoyers für ein zukunftstaugliches Urheberrecht”, die auch als gedruckter Reader erschienen ist. Er steht unter der Creative-Commons-Lizenz BY-NC-ND.
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