Robert Staats (VG Wort): Erweiterte Lizenzen können eine sinnvolle Lösung sein
iRights.info: Die Urheberrechtsrichtlinie der EU zum Digital Single Market, kurz DSM-Richtlinie, betrifft auch die vergriffenen Werke. Worauf kommt es aus Sicht der Verwertungsgesellschaft Wort bei der Umsetzung in deutsches Recht an?
Robert Staats: Es gibt im geltenden deutschen Recht bereits Regelungen, auf deren Grundlage die VG Wort und die VG Bild-Kunst seit geraumer Zeit die Nutzungen von vergriffenen Büchern lizenzieren. Auf EU-Ebene warf allerdings die „Soulier“-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Nutzung vergriffener Werke in Frankreich einige rechtliche Fragen auf. Mit der DSM-Richtlinie ist klargestellt, dass das deutsche Modell – verankert im Verwertungsgesellschaftengesetz – europarechtlich zulässig ist. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Regelungen der DSM-Richtlinie deutlich weiter gehen als das bisherige deutsche Recht.
iRights.info: Inwiefern?
Robert Staats: Von der Richtlinie werden nicht nur Schriftwerke, sondern alle Werkkategorien und sonstigen Schutzgegenstände erfasst. Sie löst deshalb einigen Umsetzungsbedarf aus. Außerdem werden vermutlich jetzt alle Verwertungsgesellschaften prüfen, inwieweit sie in Zukunft Lizenzen für vergriffene Werke anbieten können.
Aus unserer Erfahrung wäre es dabei gut, frühzeitig das Gespräch mit den Bibliotheken zu suchen, um praktikable Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. VG WORT und VG Bild-Kunst gehen davon aus, dass das bisherige und aus unserer Sicht bewährte Lizenzierungsmodell für Bücher auch nach Umsetzung der Richtlinie im Wesentlichen fortgeführt werden kann.
iRights.info: Es gibt Schriftwerke, die für das kulturelle Erbe sehr wichtig sind, etwa Flugblätter oder politische Publikationen. Für sie lassen sich Urheberschaften oder Rechteinhaber kaum ermitteln. Wie sollte man unveröffentlichte Werke behandeln? Kann man sie – gemäß der Richtlinie – womöglich auch als vergriffen betrachten?
Robert Staats: Es stimmt, in einem Erwägungsgrund der Richtlinie ist davon die Rede, dass auch „unveröffentlichte Werke“ vergriffen sein können. Möglicherweise handelt es sich aber hier um einen Übersetzungsfehler und es sind eigentlich Werke gemeint, die „nicht erschienen“ sind. Das ist ein Unterschied. Es wäre jedenfalls aus urheberpersönlichkeitsrechtlichen Gründen problematisch, Werke zu lizenzieren, bei denen der Urheber nicht irgendwann einmal damit einverstanden gewesen war, dass sie veröffentlicht werden.
iRights.info: Warum?
Robert Staats: Das Veröffentlichungsrecht des Urhebers ist urheberpersönlichkeitsrechtlich von ganz besonderer Bedeutung. Es liegt beim Urheber darüber zu entscheiden, ob ein Werk für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll.
iRights.info: Ist denn unstrittig, was angesichts heutiger digitaler Plattformen und Verbreitungsmöglichkeiten unter „der Öffentlichkeit zugänglich machen“ fällt?
Robert Staats: Es gab eine ähnliche Frage bei der Umsetzung des Gesetzes zur Nutzung von verwaisten Werken. Dort ging es ebenfalls darum, ob unter die einschlägige gesetzliche Erlaubnis auch unveröffentlichte Werke fallen können. Mittlerweile ist im Gesetz geregelt, dass lediglich Werke erfasst werden, die nicht erschienen sind.
Demnach ist ein Werk erschienen, wenn mit Zustimmung des Berechtigten Vervielfältigungsstücke des Werkes nach ihrer Herstellung in genügender Anzahl der Öffentlichkeit angeboten oder in Verkehr gebracht worden sind. Das ist typischerweise bei gedruckten Büchern der Fall, die „traditionell“ über einen Verlag verbreitet worden sind.
Veröffentlicht ist ein Werk dagegen, wenn es mit Zustimmung des Urhebers der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Diese Voraussetzung sollte aus meiner Sicht auch bei der Nutzung von vergriffenen Werken stets erfüllt sein.
iRights.info: Das meint also nicht, dass ein Werk irgendwie „festgehalten“ ist, etwa ein Musikstück als Komposition notiert, eine Skizze in der Kladde, Texte in einem Tagebuch oder Briefwechsel in der sprichwörtlichen Schublade?
Robert Staats: „Festgehalten“ würde mir nicht ausreichen. Das Werk muss mit Willen des Urhebers für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sein, in welcher Form auch immer, da kommt es nicht auf analog oder digital an.
iRights.info: Sie erwarten vom deutschen Gesetzgeber demnach, er sollte diesen Passus, den Sie als Übersetzungsfehler betrachten, genauer definieren?
Robert Staats: Ja, das sollte er klären. Auch dürfte der Dialog zwischen betroffenen Rechtsinhabern, Kulturerbe-Einrichtungen, Verwertungsgesellschaften und sonstigen Beteiligten, der in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen ist, zur Klärung solcher Fragen hilfreich sein.
iRights.info: Beziehen Sie das auch auf die angesprochenen politischen Flugschriften oder ähnliche Werke, welche nie auf kommerzielle Nutzung abzielten – oder wie gehen Sie damit um?
Robert Staats: Ja, hier wird es in der Tat darum gehen, in der Praxis gemeinsame Lösungen zu entwickeln.
iRights.info: Das klingt hinsichtlich der Problematik, die viele Gedächtnisinstitutionen mit solchen nicht-kommerziell gemeinten, urheberrechtlich schwer zu greifenden Werken haben, nicht sehr konkret. Haben Sie dafür nicht zumindest einen Vorschlag?
Robert Staats: Nein, bisher noch nicht. Dabei muss im Übrigen auch auf die administrative Umsetzbarkeit und auf die Kosten geachtet werden. Die VG WORT betreibt ein „Massengeschäft“. Wenn Lizenzierungen von vergriffenen Werken zu kleinteilig werden und nicht automatisiert abgewickelt werden können, wird es problematisch.
iRights.info: Zum Beispiel?
Robert Staats: Nehmen wir mal als ein theoretisches Beispiel die Anfertigung privater Vervielfältigungen. Wenn wir ermitteln sollten, wer genau private Vervielfältigungen vornimmt, würden unsere Verwaltungskosten explodieren. Deswegen ist es richtig, dass der Gesetzgeber hier vor vielen Jahren eine pauschale Vergütung über die Geräte- und Speichermedienvergütung geschaffen hat. In anderen Bereichen, in denen konkrete Nutzungsdaten vorliegen, ist dagegen eine individuelle Abrechnung möglich und sinnvoll.
iRights.info: Was meint das bezogen auf Kulturerbe-Einrichtungen?
Robert Staats: Bei vergriffenen Werken wird zwar eine nutzungsbezogene Lizenzierung und Abrechnung vorgenommen. Der große Vorteil besteht aber darin, dass der gesamte Lizenzierungsprozess in Zusammenarbeit mit der Deutschen Nationalbibliothek über Schnittstellen automatisiert abläuft. Auch das Deutsche Patent- und Markenamt ist hier beteiligt, weil es das Register vergriffener Werke führt.
iRights.info: Die EU-Richtlinie sieht vor, dass in den Mitgliedsstaaten Regelungen für erweiterte kollektive Lizenzen eingeführt werden können. Rechtswissenschaftler wendeten im Vorfeld der Reform ein, diese wären in Deutschland nicht so leicht umsetzbar.
Robert Staats: Die bestehenden Regelungen zu vergriffenen Werken in Deutschland sind im Grunde eine Form einer Lizenzvergabe mit erweiterter Wirkung. Die VG Wort vergibt bei der Lizenzierung vergriffener Bücher nicht nur Lizenzen für Urheber und Verlage, die mit ihr einen Wahrnehmungsvertrag abgeschlossen haben, sondern auch für sogenannte „Außenseiter“.
Paragraf 51 des Verwertungsgesellschaftengesetzes sieht eine gesetzliche Vermutung vor, wonach eine Verwertungsgesellschaft, die Rechte für vergriffene Werke wahrnimmt, auch Rechte von Außenseitern vertreten kann. Im Ergebnis handelt es sich damit um einen Fall der kollektiven Lizenzvergabe mit erweiterter Wirkung, wie er jetzt ganz generell in Artikel 12 der EU-Richtlinie vorgesehen ist.
iRights.info: Sie würde also erweiterte kollektive Lizenzen begrüßen und anbieten?
Robert Staats: Ich halte die Vergabe erweiterter Lizenzen für eine sehr sinnvolle Lösung im Bereich der kollektiven Rechtewahrnehmung. Sie ermöglicht es Verwertungsgesellschaften, umfassende Lizenzen an Nutzer zu vergeben. Gleichzeitig besteht eine „Opt-out-Möglichkeit“ für Rechtsinhaber. Und Außenseiter, die einen Wahrnehmungsvertrag abschließen, erhalten selbstverständlich die ihnen zustehende Vergütung.
Erweiterte kollektive Lizenzen könnten vor allem bei Massennutzungen zum Einsatz kommen. Allerdings müsste Artikel 12 der Richtlinie zunächst in das deutsche Recht umgesetzt werden. Dafür spricht viel, zumal erweiterte kollektive Lizenzen beispielsweise in Dänemark, Finnland oder Schweden seit vielen Jahren erfolgreich vergeben werden.
iRights.info: Das heißt, eine solche neue Regelung würde urheberrechtlich relevante Schriftwerke sowie Podcasts und Videos mit relevanten Textanteilen erfassen, die auf Sharingplattformen hochgeladen werden, auf Audio- und Videoportalen, in Blogs, bei Kurztextdiensten und so weiter?
Robert Staats: Voraussetzung für die Vergabe von erweiterten Lizenzen ist stets, dass der Verwertungsgesellschaft die erforderlichen Nutzungsrechte von ihren Berechtigten eingeräumt werden. Und außerdem müssen die Verwertungsgesellschaften für einen bestimmten Bereich repräsentativ sein. Um für die von Ihnen genannten Nutzungen erweiterte Lizenzen vergeben zu können, müssten der VG WORT also die Rechte, die sich aus Artikel 17 der Richtlinie ergeben, zunächst von ihren Berechtigten eingeräumt werden. Ob dies geschieht, und wenn ja, in welchem Umfang, bedarf sorgfältiger Prüfung.
iRights.info: Die Wahrnehmungsverträge müssten also erweitert und erneuert werden. Was meinen Sie mit „prüfen“?
Robert Staats: Das heißt, dass wir intern in Arbeitsgruppen mit Vertretern der Berechtigten beraten, inwieweit die VG WORT in Zukunft Artikel-17-Rechte wahrnehmen könnte. Die Diskussion ist hier noch keineswegs abgeschlossen.
Unter der Überschrift „Pragmatismus und Rechtssicherheit – Möglichkeiten der kollektiven Rechtewahrnehmung“ wird Robert Staats am 31.10. auf der internationalen Konferenz „Zugang gestalten“ reden und damit zugleich das Panel mit dem Titel „Kollektivlizenzen als Lösung?“ eröffnen. Die Konferenz findet dieses Jahr in Frankfurt/Main und bereits zum neunten Mal statt, iRights.info zählt zu den Veranstaltern.
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