Rick Prelinger: Das Urheberrecht wird zum Fetisch
iRights.info: Was genau ist das Prelinger-Archiv?
Rick Prelinger: Mein Archiv gibt es seit 1982 und besteht aus einer Sammlung „ephemerer Filme“, wie ich sie nenne. Es sind Filme, die für spezifische Zwecke in spezifischen Zeiten enstanden sind; Filme, die nicht für einen langfristigen Wert produziert wurden: Industriefilme, Werbefilme, Filme aus dem Bildungsbereich und von amtlichen Einrichtungen, außerdem viele Amateurfilme. Die Sammlung besteht aus rund 60.000 Titeln und 200.000 Filmdosen.
Die Bestände an Industrie- und Bildungsfilmen gingen 2002 an die Library of Congress. Seitdem sammele ich vor allem Amateurfilme und sonstige Aufnahmen. All das sind fantastische Zeugnisse des Alltags auf eine Weise, wie es stärker kommerzielle Produktionen nicht sind. Der Wert des Archivs liegt einerseits im umfassenden Dokumentenbestand der Sammlung selbst, andererseits dienen sie als Quelle für neue Werke aller Art.
iRights.info: Verbinden Sie damit einen besonderen Ansatz?
Rick Prelinger: Ich bin ein unorthodoxer Archivar, der Material außerhalb des Mainstreams sammelt. Daher habe ich auch begonnen, mich für Archivideen abseits des Mainstreams zu interessieren, denn traditionelle Konzepte haben das, was ich tue, nicht unterstützt. Das brachte mich zu der Frage, was es eigentlich bedeutet, den Zugang zu Archiven zu öffnen. So etwas ist einfach nötig.
Mir ging es besonders darum, Zugang zu Material zu schaffen, das gemeinfrei ist und dabei keine neuen Beschränkungen für Werke einzuführen. Dafür habe ich mich mit dem Internet Archive von Brewster Kahle zusammengetan, um eine freie Onlinesammlung aufzubauen.
Das hat seine Zeit gebraucht, doch es ist ein großer Erfolg und die Sammlung wird weiter wachsen. Daneben interessiert mich, wie die Archive des 21. Jahrhunderts aussehen werden. Wir wissen das natürlich nicht, aber wir müssen hier experimentieren, statt nur darüber zu reden.
iRights.info: Sie sagen, dass zukünftige Archive vor allem aus „persönlichen Medien“ (personal media) bestehen werden. Was genau meinen Sie damit?
Rick Prelinger: In der Geschichtswissenschaft hat sich der Wandel zur Alltagsgeschichte, zur Sozialgeschichte in den letzten dreißig bis vierzig Jahren bereits vollzogen. Wir sehen das auch an dem, was von Archiven gesammelt wird und auf Interesse stößt. Wahrscheinlich werden in Zukunft solche Archive persönlicher Medien zu den wertvollsten gehören. Das können Tagebücher, Fotoalben, Aufzeichnungen von Kindern, Amateurfilme und -fotografien sein, dann Textnachrichten, Tweets und Instagram-Postings.
In Europa ist es aufgrund der starken Datenschutzgesetze allerdings nahezu unmöglich, solche Inhalte zu sammeln. In den USA gibt es dafür mehr Spielraum, aber auch dort stehen uns die Nutzungsbedingungen der Plattformen im Weg, die es sehr schwierig machen, Facebook oder Twitter zu crawlen. Immerhin aber können wir unsere eigenen Sammlungen erhalten und gegebenenfalls an größere Sammlungen geben.
Ich habe mein eigenes Archiv von dem, was für mein Leben wichtig ist – wie eine Autobiographie, nur ohne dass ich sie schreibe. Natürlich sammelt sich auch weiter Papier an, und elektronische Datensätze wiederum sind schwer zu erhalten. Die meisten Menschen, die in Zukunft in Archive gehen, werden persönliche Datenbestände suchen. Die Geschichte der Institutionen wird dagegen weniger bedeutend sein.
iRights.info: Außerdem sagen Sie, dass neben Menschen Maschinen die Archivbestände durchforsten werden. Was finden Maschinen darin?
Rick Prelinger: Wir lehren Maschinen gleichsam das Lesen durch Techniken des Text Mining, der Textanalyse und der Indexierung. Wir haben bereits damit begonnen, Maschinen beizubringen, sich Fotos anzusehen und sie daraufhin zu analysieren, was sie enthalten. Ebenso ist es mit Video. Letztes Jahr schätzte Youtube, dass zwischen 1,6 und 1,9 Milliarden Videos auf der Plattform stehen, heute ist die Zahl wieder höher. Menschen können das nicht mehr kategorisieren oder sichten.
Aus den Prelinger Archives: Lehrfilm “Sniffles and Sneezes“, 1955, Audio Productions, Inc.
Derzeit schauen wir aber vor allem auf die Metadaten, auf den Index. Wir müssen die Plattformen und Prozesse so öffnen, dass Maschinen auch die Inhalte selbst anschauen können. Es wird noch einige Zeit brauchen, bis Texte maschinell bis ins Detail analysiert werden können, aber für grundlegende Techniken funktioniert das schon jetzt. Leider erschweren es die Gesetze erheblich, Text-Mining-Methoden anzuwenden und Web-Ressourcen zu verarbeiten, computation zu betreiben. Wir müssen dafür sorgen, dass wir das dürfen.
iRights.info: Welche Rolle spielt das Urheberrecht in Ihrer Sammlung?
Rick Prelinger: In meinem Sammlungsbereich sind die meisten Filme gemeinfrei – aus verschiedenen Gründen, das US-Urheberrecht ist hier milder. Die Amateurfilme unterliegen zwar noch dem Urheberrecht, was mich aber nicht davon abhält, mit ihnen zu arbeiten. Europa hat ein Problem, wenn aus irgendeinem Grund nicht mehr gefragt wird, ob das Urheberrecht ein gutes oder schlechtes Gesetz ist. Man glaubt einfach: Es ist ein Gesetz, also muss man sich ihm unterordnen. Es wäre aber eine gute Idee, zu fragen: Welche Gesetze wollen wir? Und dann darüber intensiv nachzudenken, denn andernfalls wird ein Großteil der kulturellen Zeugnisse nicht zugänglich sein.
Auch Europa hat großartige Projekte in diesem Bereich – jedes in Norwegen erschienene Buch wird digitalisiert, auch ein Großteil der Filme, Radio- und Fernsehsendungen in Skandinavien; dabei fließt auch Geld. Europa muss sich irgendwann entscheiden, ob es solches Material als kulturell und ökonomisch bedeutsam erachtet. Dann aber muss es auch leichter geteilt werden dürfen. Wir können nicht einerseits sagen, dass solche Werke bedeutsam für unser Kulturerbe sind, und sie andererseits nicht zugänglich machen.
Europa muss dabei seine eigenen Entscheidungen treffen und ist oft vorsichtiger darin. Ich sage nicht, dass die USA hier richtig liegen. Aber es ist ein ernstes Problem: Das Urheberrecht wird zum Fetisch und nicht mehr hinterfragt. Selbst Menschen, die sonst die größten Bilderstürmer sind, akzeptieren das Urheberrecht als unausweichlich Gegebenes.
iRights.info: Viele Kultureinrichtungen befürchten: Wenn man Material freigibt, wird es missbraucht. Ist das nicht eine berechtigte Sorge?
Rick Prelinger: Unsere Verfassung garantiert die Freiheit der Rede, so dass ich als Autor nahezu alles sagen oder schreiben kann. Natürlich darf ich niemanden bedrohen und so weiter. Aber wie sollte ich Grenzen für einen Missbrauch setzen? Es steht mir nicht zu, darüber zu entscheiden. Wenn Archivare es aus Angst vor Missbrauch verweigern, Material herauszugeben, ist das wahrscheinlich unethisches Verhalten. Sie können darüber gar nicht bestimmen. Mich erinnert das an die USA der fünfziger Jahre, als Afroamerikaner keine Bibliotheken besuchen und die Bestände nicht nutzen durften. Wir müssen sehr vorsichtig mit solchen Beschränkungen sein, denn wer sollte über Missbrauch entscheiden?
Meinen Kolllegen Howard Besser, der Archivwissenschaft unterrichtet, habe ich einmal nach seiner Meinung zu den Persönlichkeitsrechten gefragt. Er meinte: „Ich lebe in einem Land, in dem es sie gibt, also bin ich dagegen. Lebte ich in einem Land, in dem es sie nicht gibt, wäre ich dafür.“ Es ist also eine ambivalente Situation und es gilt natürlich, die Interessen von Urhebern zu berücksichtigen. Aber es hilft auch ihnen, wenn Archivmaterial weitergehend verwendet werden kann, denn es hilft, auf den Schultern der Vorgänger zu stehen. Es ist nicht die drängendste Angelegenheit der Welt, aber es geht hier auch um Freiheit und Bürgerrechte.
iRights.info: Für Ihre Sammlungen beim Internet Archive gab es zunächst lange und restriktive Nutzungsbedingungen. Dann sind Sie auf kürzere, liberalere gewechselt. Wie kam es dazu?
Rick Prelinger: Wir haben unsere Sachen ja verschenkt, daher wollte ich den Nutzern noch einmal versichern: Ja, bitte nutzt es! Ich mag auch keine langen Papiere unterschreiben und wollte das immer einfacher gestalten. Ursprünglich wurden wir bei Archivaufnahmen von Getty vertreten und mussten bestimmte vertragliche Verpflichtungen einhalten. Dann bin ich einfach vorangegangen und habe all die Beschränkungen entfernt. Wer eine schriftliche Lizenzvereinbarung mit Haftungsfreistellung braucht, muss aber zahlen. Wer wiederum die Creative-Commons-Lizenz nutzen will, macht das einfach.
iRights.info: Das entspricht dem Geschäftsmodell Ihres Archivs, wenn man es so nennen will.
Rick Prelinger: Ja, es ist ein Freemium-Modell. Der Do-it-yourself-Download ist kostenlos; Services, höhere Qualität und schriftliche Vereinbarungen kosten Geld. Das läuft gut und das Modell hat sich durch Versuch und Wiederholung entwickelt. Viele Kultureinrichtungen haben ähnliche Ansätze. Letztlich müssen wir uns fragen: Wo wollen wir in fünfzig Jahren stehen? Welche Gesellschaft wollen wir haben? Wenn wir das wissen, dann können wir anschließend fragen, auf welche Art der Zugang zu kulturellen Zeugnissen uns dabei helfen kann.
iRights.info: Wie würden Archive in fünfzig Jahren denn Ihrer Ansicht nach aussehen?
Rick Prelinger: Es wäre natürlich töricht, hier allzu konkrete Antworten zu geben. Ich denke aber, der Produktionsprozess von Inhalten und der Prozess ihrer Erhaltung werden stärker integriert sein und ineinandergreifen. Wir können das technisch im Prinzip bereits jetzt, haben es aber noch nicht getan. Wir werden meines Erachtens mehr „Low latency“-Archive sehen – also Plattformen wie Youtube, bei denen zwischen Sammlung und Zugänglichmachung nur Sekunden liegen. Wir werden wahrscheinlich ein Ökosystem aus digitalen und physischen Inhalten haben – beide werden weiterhin existieren. Ich denke auch an viele neue Geschäftsmodelle, bei denen Inhalte in einen Austausch treten, den wir uns heute noch nicht vorstellen können.
Ich persönlich finde auch die Idee faszinierend, dass eine öffentliche Einrichtung die Nutzer ihrer Inhalte bezahlen sollte, wenn sie den Auftrag hat, Material zu verbreiten. Jetzt läuft es natürlich andersherum. Mir erscheint das aber plausibel, wenn ich etwa an ein Museum denke, dessen Aufgabe dann darin bestehen würde, die Anzahl der Nutzer digitaler Kopien seiner Bestände zu erhöhen. Das ist nicht die übliche Art, die Dinge zu betrachten, aber wir sollten so etwas ausprobieren.
Es ist doch skandalös, wenn ein oder zwei Menschen in einer Einrichtung der Gesellschaft beim Zugang zu Archivinhalten im Weg stehen können. Vieles ist auch eine Generationenfrage. Die Baby-Boomer waren sehr darauf konzentriert, Regeln zu schaffen; jetzt kommen jüngere Archivare, die in der digitalen Gesellschaft aufgewachsen sind und darin übereinstimmen, dass Inhalte wie Infrastruktur behandelt werden sollten – dass all das Material dafür da ist, dass andere darauf aufbauen können. Wenn man zahlt, um ganz andere Sachen damit zu machen, ist das vielleicht auch anders zu betrachten, aber sonst ist es Gemeingut.
Was sagen Sie dazu?