Netzpublikationen in der Nationalbibliothek: Speichern sollen heißt noch nicht speichern dürfen
Am 29. Juni 2006 ist das „Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek” (DNBG) in Kraft getreten. Die „Deutsche Bibliothek“ mit ihrer Aufgabe, alle deutschsprachigen Publikationen zu sammeln, wurde zur „Deutschen Nationalbibliothek” (DNB). Zugleich wurde ihr Sammelauftrag auf Netzpublikationen ausgeweitet.
Während diese neue Zuständigkeit der Bibliothek einhellig begrüßt, ja als längst überfällig bezeichnet wurde, gab es um den neuen Namen im Gesetzgebungsverfahren politischen Streit. Er machte sich unter anderem an der föderalen Struktur des deutschen Bibliothekswesens und weiteren Faktoren fest. Eine bemerkenswerte Koalition der Fraktionen der FDP und der Linken sprach sich gegen eine Umbenennung aus, konnte aber die Mehrheit des Bundestages nicht überzeugen. Das von der Bundesregierung eingebrachte Gesetz wurde mit geringen Modifikationen und breiter Mehrheit am 6. April 2006 angenommen.
Nach zehn Jahren kann man rückblickend sagen, dass die Umbenennungsdiskussion aus heutiger Sicht kaum noch nachvollziehbar ist. Ganz anders verhält es sich mit der – im Parlament einhellig als selbstverständlich und überfällig bezeichneten – Ausweitung des Sammelauftrages der DNB auch auf Netzpublikationen. Man wollte die Bibliothek mit dem Gesetz „fit machen für das 21. Jahrhundert” (Kulturstaatsminister Bernd Neumann, Plenarprotokoll) und für die „Erhaltung des digitalen kollektiven Gedächtnisses” (Jörg Tauss, SPD) sorgen. Es wäre schließlich eine „kulturpolitische Katastrophe, wenn bedeutsame digital im Netz publizierte Dokumente der Nachwelt nicht erhalten blieben” (Kai Gehring, Grüne).
Doch hätte der Gesetzgeber sich vielleicht etwas eingehender mit diesem Thema befassen sollen, statt einen symbolischen Streit um das Wort „Nationalbibliothek” auszutragen.
Ein Speicher auch für digitale Werke
Mit dem Ziel, ein umfassendes „digitales Archiv” als „kulturelles Gedächtnis einer Gesellschaft” (Christoph Pries, SPD) zu schaffen, wurden im Gesetzgebungsverfahren drei Wege des Sammelns ins Auge gefasst, die mit der Verabschiedung des Gesetzes offenbar etabliert werden sollten.
- Erstens: Auch wer Inhalte im Netz veröffentlicht, muss seitdem laut Gesetz eine Art Pflichtexemplar an die DNB liefern. Dazu wurde für unkörperliche „Medienwerke eine Ablieferungspflicht für inländische Stellen, die im urheberrechtlichen Sinn das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung haben”, eingeführt.
- Zweitens wurde die Möglichkeit eröffnet, dass die DNB mit dem Ablieferungspflichtigen ein automatisiertes Einsammelverfahren vereinbart.
- Drittens sollte nach Vorstellung des Gesetzgebers die DNB in periodischen Abständen durch sogenanntes Harvesting das deutsche Internet, das etwa alle Domains mit der Endung „.de” umfassen soll, vollständig sichern.
Die ersten beiden Wege entsprechen, abgesehen von der allein technisch inspirierten Arbeitserleichterung im zweiten Weg, im Wesentlichen dem herkömmlichen Verfahren: Wer Werke veröffentlicht, ist gegenüber der Bibliothek zur Ablieferung verpflichtet. Der dritte Weg hingegen ist demgegenüber neu, weil hier Inhalte gesammelt werden sollen, die nicht mehr herkömmlich bibliografisch erschlossen, sondern bloß für das kulturelle Gedächtnis gesichert werden. Offenbar soll die DNB einen großen Datenspeicher anlegen, in dem dann künftige Generationen recherchieren können.
Die „Ablieferung” von Webseiten und Netzpublikationen
Nach dem Nationalbibliotheksgesetz müssen also auch unkörperliche Medienwerke an die Bibliothek „abgeliefert” werden. In der Welt der Druckschriften bedeutet die Ablieferung rechtlich, dass die DNB durch einvernehmliche Übergabe Eigentümerin des körperlichen Exemplars wird. Das Verbreitungsrecht im Sinne des Urheberrechts ist damit „erschöpft“; es endet mit der Übergabe, sodass das Urheberrecht der Schaffung eines dauerhaften und nutzbaren kulturellen Gedächtnisses nicht im Wege steht.
Was passiert aber, wenn das Medienwerk keinen körperlichen Träger mehr hat? Zunächst kann es, streng genommen, technisch gar nicht abgeliefert, sondern nur übermittelt werden. Nach der Übermittlung befindet sich auf den Systemen der DNB eine Kopie dieses Werkes. Es tritt hier aber keine Erschöpfung von urheberrechtlichen Verwertungsrechten ein. Somit kann ein Rechteinhaber grundsätzlich weiterhin darüber verfügen, was mit dieser Kopie passieren darf. Jede Kopie, etwa zur Langzeitarchivierung oder zum Zugänglichmachen in einem Lesesaal, greift in das Vervielfältigungsrecht ein. Während die DNB bei herkömmlichen Druckschriften mit der Ablieferung Eigentum erwirbt, bekommt sie bei unkörperlichen Medienwerken zunächst einmal eine Fülle urheberrechtlicher Probleme. Dies gilt erst recht, wenn die Bibliothek im Wege des Harvestings von sich aus große Teile des Internet einsammelt, also kopiert.
Dass die Bibliothek bei ihrer Arbeit mit digitalen, also unkörperlichen Medienwerken auf das Urheberrecht achten soll und muss, hat der Gesetzgeber ausdrücklich festgestellt. Es ist aber fraglich, ob er die urheberrechtlichen Probleme dabei in ihrer ganzen Tragweite erfasst hat – und ob ein Verweis auf das geltende Urheberrecht hilfreich ist.
Rechtlich ungelöst: Harvesting und eigene Speicherung
Zunächst ist festzuhalten: Das Nationalbibliotheksgesetz enthält keine urheberrechtlichen Bestimmungen, insbesondere keine Schrankenbestimmungen, die bestimmte Kopien erlauben würden. Das Gesetz, vor allem aber seine Begründung, beschreiben jedoch verschiedene, ausdrücklich gewollte Verhaltensweisen der DNB:
- das periodische Harvesten des deutschen Internet,
- die digitale Langzeitarchivierung gerade der unkörperlichen Medienwerke,
- die Nutzung dieser Werke im Lesesaal der Bibliothek, was Rechteinhaber übrigens nicht verhindern können sollen sowie
- die „Ersatzbeschaffung“ wenn kein Exemplar abgeliefert wird, welche offenbar auch für Netzpublikationen gilt.
Auf Grundlage der Schrankenbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes ist das periodische Harvesten des deutschen Internets durch die Bibliothek aber gar nicht möglich, weil Kopien zur Bestandserweiterung davon nicht umfasst sind. Die digitale Langzeitarchivierung kann zwar nach der Archivschranke erlaubt sein, doch ist fraglich, ob die dabei notwendigen, sehr vielen redundanten Kopiervorgänge hiervon noch gedeckt sind. Ausgeschlossen sind zudem unkörperliche Medienwerke, die eine Datenbankstruktur haben, was gerade bei Netzpublikationen auf Plattformen immer häufiger der Fall ist.
Die Nutzung der Medienwerke durch die Öffentlichkeit innerhalb der Bibliothek kann zwar über die Leseplatzschranke erlaubt sein, allerdings ist diese Regelung erst zum 1. Januar 2008, also 18 Monate nach (!) Inkrafttreten des Gesetzes eingeführt worden. Bei der Ersatzbeschaffung für nicht abgelieferte Werke – die bei Netzpublikationen wohl nichts anderes ist als die eigenmächtige Speicherung einer frei zugänglichen Online-Ressource – gilt das gleiche wie beim periodischen Harvesten: Eine Kopie, die ihren Bestand erweitern würde, kann die DNB hier ebenfalls nicht vornehmen.
Insgesamt also lassen sich die vier vom Gesetzgeber vorgestellten Szenarien nur sehr unvollkommen mit den geltenden urheberrechtlichen Schrankenregelungen in Übereinstimmung bringen. Hier lag offenbar ein blinder Fleck im Gesetzgebungsverfahren. Das Urheberrecht, nicht der neue Name der DNB wäre das eigentliche Thema gewesen, mit dem der Bundestag sich eingehend hätte befassen müssen. Trotz dieser sehr unbefriedigenden Ausgangslage hat sich die DNB ihrem neuen Sammelauftrag gestellt. Neben wichtigen technischen Entwicklungen konnte sie in Zusammenarbeit mit einigen Ablieferungspflichtigen eine beachtliche Zahl unkörperlicher Medienwerke in ihren Bestand aufnehmen – auch wenn sie vom Ziel einer wenigstens repräsentativen Dokumentation des deutschen Internets noch weit entfernt ist.
Wenn das Urheberrechtsgesetz der DNB nur unzureichende Befugnisse einräumt, müssen daher die Ablieferungspflichtigen Nutzungsrechte einräumen. Das kann auch implizit, durch schlüssiges Handeln geschehen. Ungelöst bleiben dabei jedoch diejenigen Fälle, in denen die Bibliothek große Teile des Internet harvesten möchte und in denen keine Werke abgeliefert werden. In beiden Fällen hat die Bibliothek derzeit keine Möglichkeit, von sich aus Netzinhalte ohne ein Einverständnis des Rechteinhabers in ihren Bestand zu übernehmen, sie dort zu archivieren und ihren Nutzern zur Verfügung zu stellen.
Bundesländer bereits vorangeschritten
Auch die Länder haben auf den Medienwandel reagiert und den Sammelauftrag ihrer Landesbibliotheken um Netzpublikationen mit Bezug zum jeweiligen Bundesland erweitert. Sehr schlank hat Baden-Württemberg erklärt, das Landesrecht für Pflichtexemplare gelte auch bei Netzpublikationen entsprechend. Probleme des Einsammelns und mit der Ablieferung einzuräumender Nutzungsrechte haben erstmals die Länder Hessen und Nordrhein-Westfalen aufgegriffen, denen Sachsen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und jüngst Schleswig-Holstein gefolgt sind. Brandenburg hat die Sammlung reiner Netzpublikationen explizit ausgeschlossen und sammelt nach Ablieferung nur, was auch in der Printwelt eine Entsprechung hat. Länder wie Bayern und Berlin haben bis heute noch nicht mit der Pflichtablieferung von Netzpublikationen begonnen.
Die fortschrittlicheren Regelungen in den Ländern unterscheiden sich vom Gesetz auf Bundesebene in zwei wesentlichen Punkten: Sie gestatten erstens den Bibliotheken das aktive Einsammeln nicht übermittelter Netzpublikationen und beschreiben zweitens ausführlich, welche konkreten Nutzungsrechte der Bibliothek mit Blick auf die Langzeitarchivierung und die Nutzung durch die Öffentlichkeit zustehen. Da es kein abstraktes Nutzungsrecht „an sich” gibt, sondern nur Rechte für konkrete Nutzungsarten, ist es sinnvoll und geboten, die Reichweite gesetzlich zu konkretisieren. Wer abliefern muss, weiß dann, woran er ist.
Neue Regelungen und Konzepte gefragt
Mit solchen und anderen Regelungen haben die Länder den Ansatz des Nationalbibliotheksgesetzes konzeptionell weiterentwickelt. Es wäre sachgerecht, diese Entwicklungen auf Bundesebene zu übernehmen. Fraglich ist aber, ob es hier mit einer Regelung zu Pflichtexemplaren getan ist oder ob nicht auch das Urheberrechtsgesetz selbst geändert werden muss. Richtigerweise wird man wohl beide Wege beschreiten müssen. Sobald Netzpublikationen zum Beispiel Fremdmaterial wie Abbildungen enthalten, die keine Zitate sind, helfen letztlich nur neue Schrankenbestimmungen bei einer urheberrechtlich sauberen Archivierung. Wenn die Ziele des Gesetzes über die Deutsche Nationalbibliothek noch gültig sind, nämlich ein digitales kulturelles Gedächtnis aufzubauen, wird der Gesetzgeber hier nachbessern müssen.
Allerdings gibt es neben den rechtlichen auch konzeptionelle Fragen, die hier nur kurz angerissen werden können. Dem Gesetzgeber stand seinerzeit eine relativ klar umrissene Form von Netzpublikation vor Augen. Social Media freilich gab es damals nur in allerersten Ansätzen. Um heute ein authentisches Abbild der Netzöffentlichkeit zu haben, wird man Plattformen wie Facebook und Twitter ebenfalls speichern müssen. Kann das eine Bibliothek leisten? Wäre dafür nicht eine neue Gedächtnisinstitution ganz eigener Art nötig? Auch muss diskutiert werden, welche Netzinhalte überhaupt Teil des kulturellen Gedächtnisses sein sollen.
Zehn Jahre Probleme verschleppt
In der zweiten Bundestagslesung des Gesetzes am 6. April 2006 hat der 2015 verstorbene Bundestagsabgeordnete Philipp Mißfelder (CDU) sehr richtig von einem digitalen Wettbewerb gesprochen, in den die öffentliche Hand mit Anbietern wie Google treten muss – auch um die Verantwortung für das kulturelle Gedächtnis nicht aus der Hand zu geben. Mißfelder selbst war eine Person der Zeitgeschichte. Auf seine Webseite als Quelle zu persönlichen Angaben verweist sogar ein Datensatz im Katalog der DNB. Die Seite selbst jedoch ist mittlerweile offline. Obwohl die DNB seit 2006 einen entsprechenden gesetzlichen Auftrag hat, hat sie Mißfelders Seite nicht gesichert. Bei der privaten amerikanischen Initiative „archive.org” – die übrigens unter einem wesentlich liberaleren Urheberrecht als dem deutschen arbeiten kann – finden sich demgegenüber 200 (!) gespeicherte Versionen.
Mißfelder war in der zweiten Gesetzeslesung übrigens der Ansicht, dass der „Gesetzentwurf ein entscheidender Beitrag sein kann, […] diese Fragestellungen [gemeint ist das digitale kulturelle Gedächtnis] zu bearbeiten. Wir sollten uns um dieses Thema und nicht mehr um die Frage der Umbenennung kümmern. Dies ist gleich nach der Abstimmung ohnehin entschieden und deswegen können wir uns getrost auf das konzentrieren, was tatsächlich wichtig ist, nämlich die neuen technologischen Herausforderungen anzunehmen.”
Das war weitsichtig. Vermutlich wäre Mißfelder aber trotz allen Problembewusstseins ziemlich verwundert gewesen, dass zehn Jahre später sogar die simple Speicherung seiner eigenen Webpräsenz noch eine Herausforderung zu sein scheint. Es ist an der Zeit, dass der Gesetzgeber die Erfahrungen und Probleme der letzten zehn Jahre mit der Sammlung und Erhaltung von Netzpublikationen gründlich auswertet und endlich einen angemessenen Rechtsrahmen für das digitale kulturelle Gedächtnis schafft, dessen Einrichtung 2006 jedenfalls politisch völlig unumstritten war.
Eine erweiterte Version dieses Beitrags ist in Heft 2/2016 von „Dialog mit Bibliotheken“ erschienen. Bearbeitung: David Pachali.
2 Kommentare
1 Tobias Grüterich am 1. November, 2016 um 16:20
Ein allgemeines, unterschiedsloses Harvesting des kompletten Internets ist ohnehin Unfug und eigentlich auch nicht im Sinne einer Bibliothek. In der Summe aller Telefonate, Briefe, Telegramme, Aushänge etc. sah und sieht man ja auch kein pauschal aufbewahrungsbedürftiges “kulturelles Gedächtnis”. Manche haben schon damals über diesen neuen, völlig uferlosen Aufgabenbereich der DNB und das entsprechende Gesetz gewitzelt – zu Recht! Man sollte sich auf die winzige(!) Teilmenge bibliotheksnaher Inhalte beschränken, z.B. Speicherung von online erscheinenden Periodika. Bloß weil irgendwas im Netz steht, ist es nicht automatisch dauerhaft aufhebenswert.
2 Eike-Jürgen Tolzien am 14. März, 2024 um 00:05
Am 29. Juni 2006 ist das „Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek” (DNBG) in Kraft getreten. Die „Deutsche Bibliothek“ mit ihrer Aufgabe, alle deutschsprachigen Publikationen zu sammeln.
Das ist frech gelogen. Die DNB grenzt die Publikationen des Verlags Berliner Kreis aus.
Verlagsleiter
Eike-Jürgen Tolzien
Was sagen Sie dazu?