Kulturelles Gedächtnis: Wie speichern wir das Internet?
Zur Person
Dr. Eric W. Steinhauer ist Bibliothekar an der Universitätsbibliothek der Fernuniversität in Hagen. Als Bibliotheksjurist beschäftigt sich Steinhauer unter anderem mit den urheberrechtlichen Problemen der digitalen Langzeitarchivierung.
iRights.info: Wenn Historiker in 300 Jahren unsere Gegenwart erforschen wollen, welche digitalen Quellen sollten sie dann verfügbar haben?
Eric Steinhauer: Es ist natürlich schwer einzuschätzen, welche Forschungsinteressen nachfolgende Generationen haben. Aber eines lässt sich sagen: Unsere Gegenwart, die von einer Umschreibung vom Analogen ins Digitale geprägt ist, wird von hochinteressanten Diskussionen im Internet, in Mailinglisten, in Blogs und diversen Foren begleitet. Es wird schwer sein, diesen Diskurs in Zukunft abzubilden und aufzuarbeiten, wenn man auf die digitalen Quellen nicht mehr zugreifen kann.
iRights.info: Diese Gefahr besteht?
Eric Steinhauer: Ja, es droht tatsächlich ein schwarzes Loch, wenn es um Digitalia geht. Anders als bei gedruckten Materialien existieren in den Gedächtnisinstitutionen keine vergleichbaren Sammlungsstrukturen für digitale Inhalte. Was ein Verlag auf Papier produziert, bleibt. Was im Internet stattfindet, nicht unbedingt. Wir wissen nicht, was in 20 Jahren von den digitalen Inhalten noch da ist.
Ein deutsches Archive.org ist praktisch unmöglich
iRights.info: Haben Sie ein Beispiel?
Eric Steinhauer: Sie sehen es bei vielen Themen. Juristische Kommentare zur Urheberrechtsreform von 2007 beziehen sich heute fast ausschließlich auf Printpublikationen von vor fünf Jahren. Aber die große Debatte, die im Internet zur Reform stattgefunden hat, droht unterzugehen, verschüttet zu werden. Ähnlich verhält es sich auch mit urheberpolitischen Positionspapieren, beispielsweise von Verbänden, die nur noch digital veröffentlicht werden. Sie sind wichtig, um die Diskussion in hundert Jahren nachzuvollziehen. Wir wissen aber nicht, ob sie dann noch da sind. Die Institutionen drucken ja nicht mehr alles aus und archivieren es systematisch.
iRights.info: Das US-Portal Archive.org macht in bestimmten Abständen eine Art „Sicherungskopie“ des Internets. Warum ist das in Deutschland nicht möglich?
Eric Steinhauer: Archive.org macht tatsächlich eine Kopie, eine Vervielfältigung. Sofern es sich um urheberrechtlich geschütztes Material handelt, bedeutet diese Kopie in Deutschland stets einen Eingriff in das Verwertungsrecht des Urhebers. Das ist nach hiesigem Recht nur dann zulässig, wenn ich eine Erlaubnis des Rechteinhabers habe oder mich auf eine gesetzliche Schrankenbestimmung berufen kann. Diese Bedingung hindert deutsche Archive daran, Internet-Dokumente automatisiert einzusammeln, also wie Archive.org das sogenannte Web-Harvesting zu betreiben. Sie können im Falle des Internet ja nicht jeden vorher fragen, bevor sie seine Inhalte kopieren. Das ist in der Praxis unmöglich.
Eine vollkommen groteske Situation
iRights.info: Das heißt, die Deutsche Nationalbibliothek darf ihrem gesetzlichen Auftrag von 2006, in regelmäßigen Abständen gewissermaßen Sicherungskopien des gesamten deutschsprachigen Internet zu machen, nicht nachkommen?
Eric Steinhauer: Ein ausdrücklicher gesetzlicher Auftrag, das Internet zu archivieren, besteht derzeit nicht. Im Deutschen Nationalbibliotheksgesetz von 2006 wurde lediglich der Sammelauftrag der Bibliothek auf Netzpublikationen ausgeweitet. Die Netzpublikationen müssen von den Rechteinhabern bei der Bibliothek dann abgeliefert werden. In der Gesetzesbegründung hat der Gesetzgeber aber selbst erkannt, dass dies nicht besonders effektiv ist und daher vorgeschlagen, dass die Bibliothek doch in regelmäßigen Abständen das deutsche Internet kopieren solle. Das ist zwar kein direkter gesetzlicher Auftrag, aber eine Erwartung des Gesetzgebers an die Bibliothek. Wird die Bibliothek dieser Erwartung gerecht, dann verstößt sie allerdings nach derzeitiger Rechtslage gegen geltendes Urheberrecht. Eine vollkommen groteske Situation.
Fair-Use-Klausel birgt Streitpotenzial
iRights.info: Archive.org beruht auf der Fair-Use-Klausel im amerikanischen Urheberrecht, wonach nicht autorisierte Nutzungen von Werken möglich sind, wenn sie der öffentlichen Bildung dienen. Hätten Sie gerne eine Fair-Use-Klausel im europäischen Recht?
Eric Steinhauer: Im starren deutschen Urheberrecht ist die erlaubnisfreie Nutzung eine eng begrenzte Ausnahme. Gleiches gilt für die europäischen Vorgaben, die für das deutsche Urheberrecht verbindlich sind. Die US-Fair-Use-Klausel ist demgegenüber erheblich flexibler. Man kann sich erst einmal auf sie berufen. Sollte es zum Streit kommen, wird vor Gericht im Einzelfall abgewogen, inwieweit beispielsweise ein Rechteinhaber von Archive.org beeinträchtigt wird.
Auf den ersten Blick ist die Fair-Use-Klausel natürlich verführerisch. Man kann sofort loslegen. Auf der anderen Seite bietet sie nicht viel Rechtssicherheit. Sobald beispielsweise Inhalte ökonomisch interessant werden, birgt sie Streitpotenzial. Dann gibt es möglicherweise Prozesse und Schadensersatzforderungen. Für die Gedächtnisinstitutionen kann es also riskant sein, sich bloß auf eine Fair-Use-Klausel zu verlassen. Wer eine Sicherungskopie des Internets anstrebt, und hierfür große Investitionen vornimmt, braucht Rechtssicherheit. Man kann so ein Archiv nicht vorbehaltlich einer richterlichen Abwägung und Bestätigung aufbauen. Eine gesetzliche Regelung, die bestimmten Institutionen das Web-Harvesting ausdrücklich erlaubt, fände ich daher sinnvoller.
Das digitale Gedächtnis in drei Phasen: Sammeln, Bewahren, Nutzen
iRights.info: Ein staatliches Archiv in Deutschland könnte sich doch auf seinen öffentlichen Auftrag berufen…
Eric Steinhauer: Die Rechtslage ist hier wenig hilfreich. Gedächtnisinstitutionen können sich nicht auf das Recht zur Privatkopie berufen, das nur für Privatleute gilt. Sie können die Archivierung aber auch nicht so einfach mit dem „eigenen wissenschaftlichen Gebrauch“ begründen. Denn sie ermöglichen ja nur den wissenschaftlichen Gebrauch der Quellen durch andere. Zudem befinden sich die Archive nicht im Besitz des digitalen Materials oder der Vorlage der Kopie, die sie anlegen. Das ist bei Akten und materiellen Büchern anders. Diesem Unterschied zwischen analogen und digitalen Inhalten trägt das heutige Recht nicht Rechnung.
iRights.info: Verlage könnten einwenden, ein öffentliches, kostenfreies, simultanes Internet-Archiv würde ihre Geschäftsmodelle torpedieren, beispielsweise den Aufbau eigener kostenpflichtiger Archive…
Eric Steinhauer: Wenn öffentliche Institutionen ein digitales Gedächtnis aufbauen, müssen wir drei Phasen unterscheiden. Wir müssen erstens sammeln. Hier sollten wir äußerst liberal vorgehen dürfen, sonst sind die Inhalte weg. Nach dem Sammeln kommt zweitens die Aufbewahrung. Hier geht es um technische Verfahren wie die Emulation und Migration oder die Speicherung auf verteilten Servern. Auch das muss liberal geregelt sein, damit eine möglichst gute Sicherung der Daten gewährleistet ist. Nun kommt der kritische Punkt: Die Nutzung. Wenn ich alles frei zur Verfügung stelle, wird das bei gleichzeitigen kommerziellen Angeboten natürlich schwierig. Auch Persönlichkeitsrechte bereiten für eine unbeschränkte Nutzung Probleme. Hier müssen Regeln gefunden werden.
Das Recht auf Vergessen werden
iRights.info: Warum bereiten Persönlichkeitsrechte einem Internet-Archiv Probleme?
Eric Steinhauer: Nehmen wir an, Sie werden in einem Zeitungsartikel erwähnt, weil Sie eine Straftat begangen haben. Im analogen Zeitalter war es so: Der Artikel verschwindet irgendwann in den Zeitungsarchiven. Niemand schaut mehr danach. Und es darf auch nicht immer und immer wieder darüber berichtet werden. Nach gängiger Rechtsprechung ist das Informationsinteresse der Öffentlichkeit irgendwann erschöpft und muss hinter das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen zurücktreten. Im Internetzeitalter bleiben diese Informationen theoretisch unbegrenzt und mit wenigen Klicks verfügbar. Das ist ein großes Problem. Man sollte durch die Öffentlichkeitshebel des Internets nicht lebenslang für Dinge in Haftung genommen werden, die man irgendwann einmal gemacht hat.
iRights.info: Lässt sich dieses Problem tatsächlich technisch lösen, etwa mit Blockaden für öffentliche Archive, oder muss die Gesellschaft einfach anders mit Biographien umgehen, wenn sie digital zunehmend transparenter werden?
Eric Steinhauer: Das ist sicherlich auch ein ethisches Problem. Ich vermute, dass sich die Gesellschaft ändert. Wahrscheinlich gilt es in ein paar Jahren unschicklich, wenn ein Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch auf Partyfotos des Bewerbers hinweist. Dann gerät der Arbeitgeber unter Rechtfertigungsdruck, nicht mehr der Bewerber. Aber dieser Wandel in der Gesellschaft braucht Zeit. Wir müssen jedoch schon heute die Verfügbarkeit von Informationen über Personen reflektieren, wenn wir ein digitales Langzeitarchiv anlegen wollen.
iRights.info: Inwiefern?
Eric Steinhauer: Wir müssen erst mal unterscheiden. In der Debatte um das „Recht auf vergessen werden“, in der beispielsweise unliebsame Facebook-Fotos, Kommentare, und Blogeinträge eine Rolle spielen, geht es um das so genannten kommunikative Gedächtnis. Es speichert und erinnert Sachverhalte einer lebendig erlebten Gegenwart. Hier sollte es für eine gewisse Zeit und in gewissen Grenzen Einschränkungen bei der sofortigen Verfügbarkeit geben. Wenn wir aber über eine Langzeitarchivierung reden, geht es um das kulturelle Gedächtnis, um das, was wir 100 Jahre und länger bewahren wollen. Da spielt das Persönlichkeitsrecht keine Rolle mehr, weil die betroffenen Personen längst tot sind. Für die Langzeitarchivierung, die jetzt schon beginnt, sind auch diese personenbezogenen Informationen wichtig und interessant, wir sollten sie daher auch jetzt aufbewahren.
Beschränkung: Nutzung nur vor Ort
iRights.info: Was schlagen Sie also vor?
Eric Steinhauer: Wir müssen einen Ausgleich zwischen dem Persönlichkeitsrecht, kommerziellen Interessen und dem öffentlichen beziehungsweise gesellschaftlichen Interesse an einer Langzeitarchivierung finden. Zunächst sollten die Gedächtnisinstitutionen von sich aus, ohne großen Verwaltungsaufwand, die Inhalte, die öffentlich im Netz zugänglich ist, sammeln und bewahren dürfen. Bei der Verbreitung könnten gewisse Hemmnisse eingebaut werden. Man könnte beispielsweise die Nutzung von Inhalten, bei denen noch ein urheberrechtlicher Schutz und die Persönlichkeitsrechte zu beachten sind, auf die Räumlichkeiten der Gedächtnisinstitutionen beschränken.
iRights.info: Sie fordern also ein europäisches Archive.org mit beschränkter Nutzung?
Eric Steinhauer: So könnte man es sagen.
iRights.info: Sind die Hürden für eine digitale Langzeitarchivierung in der Politik schon angekommen?
Eric Steinhauer: Das Ziel, ein kulturelles digitales Gedächtnis zu haben, erfährt breite Zustimmung. Aber dass unsere heutigen Urheberrechtsregelungen die Archivierung massiv behindern, wird noch viel zu wenig wahrgenommen.
Archive sind Institutionen, die etwas wegschmeißen
iRights.info: Schon heute erzielt fast jede Suche bei Google über eine Million Ergebnisse. Wie kann die Wissenschaft diese Masse an Informationen in Zukunft überhaupt sinnvoll erfassen, strukturieren und aufarbeiten?
Eric Steinhauer: Pessimistisch könnte man sagen, die Welt neigt dazu, Archiv ihrer selbst zu werden. Dann ist sie nur noch mit dem Speichern beschäftigt und kommt nicht mehr dazu, in der Gegenwart zu leben. Doch zur Methode: Historiker arbeiten auch heute zur Ur- und Frühgeschichte anders als zum Mittelalter oder zur Neuzeit, weil sie ein ganz anderes Quellenmaterial vorfinden, auch vom Ausmaß her. Mit Blick auf die gegenwärtige Masse an verfügbaren Quellen muss die Wissenschaft vielleicht neue Wege gehen. Vielleicht muss sie eher statistische Verfahren finden, um Aussagen zu treffen, oder die Kunst des Ausblendens weiterentwickeln.
iRights.info: Das Ausblenden ist eine Kunst?
Eric Steinhauer: Wir denken immer, Archive bewahren etwas. Das stimmt nicht, zumindest nicht vollständig. Archive sind vor allem Institutionen, die etwas wegschmeißen, selektieren. Die erste Frage ist immer: Was hebe ich auf und was werfe ich weg? Die sogenannte Kassationsquote von Archiven, also die Wegschmeiß-Quote, liegt in der Regel bei bis zu 98 Prozent. Das Repräsentative und das Besondere werden aufgehoben, damit können wir dann künftig arbeiten. Der Rest ist weg.
Angesichts der Masse an Informationen im Internet wäre also eine Debatte über Vergessens-Strategien sinnvoll. Oder positiv gesprochen: Was wollen wir überhaupt im digitalen Gedächtnis behalten und was nicht? Müssen wir vielleicht von vorne herein selektiv speichern? Leider wird über diese Frage noch viel zu wenig nachgedacht.
Was sagen Sie dazu?