Henning Tillmann, was ist das Problem mit dem Jugendmedienschutz im Internet?
iRights.info: Herr Tilllmann, was soll Jugendmedienschutz erreichen?
Henning Tillmann: Jugendmedienschutz soll erreichen, dass Kinder und Jugendliche nur das zu sehen bekommen, was sie auch sehen und erleben dürfen, wenn sie fernsehen oder Medien konsumieren. Genau diese Frage sollte der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag regulieren, als er 2002 erlassen wurde.
iRights.info: Können Sie Beispiele nennen, welche Inhalte schädlich oder ungünstig für Kinder und Jugendliche sind und warum sie davor geschützt werden müssen?
Henning Tillmann: Es wird von „entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten“ gesprochen, und da gibt es ein bekanntes Beispiel: Wenn ein Kind die Internetseite eines Tierheims besucht und dort Fotos von einem schwerverletzten Hund sieht, der angefahren wurde.
Ist so ein Foto entwicklungsbeeinträchtigend? Man kann durchaus argumentieren: Ja, weil es verstörend wirkt. Doch wenn es darum geht, diese Bewertung festen Altersgrenzen zuzuordnen, also unbedenklich ab null, sechs, zwölf, 16 oder 18 Jahren, dann wird es schon schwieriger.
Und eigentlich: Sollten Internetseiten von Tierheimen nicht auch für Kinder zugänglich sein? Generell spielt auch der kulturelle Hintergrund eine Rolle.
iRights.info: Was ist mit „kulturellem Hintergrund“ gemeint?
Henning Tillmann: Gibt es vielleicht Eltern oder Personengruppen, Kulturgruppen, die beispielsweise sexuell freizügig, bei der Darstellung von Gewalt jedoch restriktiver sind, oder andersherum?
Im amerikanischen Raum gehen die Menschen mit Sexualität und Nacktheit deutlich restriktiver um, als es bei uns üblich ist. Diese kulturelle Komponente macht solche strikten Einstufungen ab sechs oder zwölf Jahren noch mal deutlich schwieriger, zumal es auch auf die Interpretation in der Familie ankommt, wie man sein Kind erziehen möchte.
Natürlich hat der Staat hier die Aufgabe, so etwas wie Vorgaben zu skizzieren, doch es ist sehr schwierig für jeden Einzelnen, dem gerecht zu werden.
iRights.info: Würden Sie sagen, dass der Jugendmedienschutz für bestimmte Mediengattungen und Produkte funktioniert, wie DVDs oder Computerspiele?
Henning Tillmann: Für Filme und Games gibt es eingespielte Prozeduren. Die Produkte werden geprüft und mit einer Alterskennzeichnung versehen, etwa von der FSK und der USK, den Freiwilligen Selbstkontrollen der Film- und der Unterhaltungssoftware-Wirtschaft. Die Prüferinnen und Prüfer stufen etwas ab 16 ein, dann wird ein farbiges Label aufgedruckt, und dann darf es auch nur an Jugendliche ab 16 verkauft werden. Wenn da jemand irgendwie privat an den Film herankommt, weil die Eltern ihn gekauft haben, ist das eine andere Sache.
iRights.info: Auch für das Internet gibt es Jugendmedienschutz-Regeln, die nun reformiert werden sollen. Sie üben Kritik daran. Weshalb?
Henning Tillmann: Derzeit ist für das Netz geregelt, wann oder wie bestimmte Inhalte zugänglich gemacht werden dürfen. Diese Regel existiert seit 2003. Sie soll jetzt mit dem neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag quasi ergänzt werden.
Reform des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV)
Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, kurz: JMStV, heißt offiziell Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien und wird zwischen allen deutschen Bundesländern geschlossen. Der momentan geltende Vertrag von 2003 sollte bereits 2010 überarbeitet werden.
Momentan liegt den Bundesländern ein weiterer Reformentwurf aus dem Jahre 2015 vor. Nach Verhandlungen der Länder, einer Konsultation mit mehr als 400 Stellungnahmen sowie weiteren Beratungen tritt die Novelle in Kraft, wenn sie sämtliche Bundesländer unterzeichnet haben.
Mit der Reform sollen Regelungen angeglichen werden, die zum einem im Jugendschutzgesetz des Bundes (JuSchG), zum anderen im derzeit geltenden Jugendmedienschutz-Staatsvertrag stehen. So umfasst das Jugendschutzgesetz vor allem Offline-Medien wie CD-ROMs, Bücher oder DVDs, die vor der Veröffentlichung gekennzeichnet werden müssen.
Diese Aufgabe haben die Jugendbehörden auf die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) und die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) übertragen. Die Kennzeichnung im Hörfunk, Fernsehen und bei Online-Angeboten (Telemedien) regelt der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) bewerten die Inhalte.
Wir haben es im Internet mit vier Problemen zu tun, dem der neue Staatsvertrag nicht gerecht wird: Erstens ist es schwierig, Inhalte eines dynamischen Mediums einzustufen und zu klassifizieren. Der Film auf einer DVD ändert sich nicht – den sieht man sich einmal an, und kann ihn dementsprechend bewerten. Doch die Inhalte von Webseiten ändern sich sekündlich, minütlich, stündlich, und jeder neue Inhalt wäre im Grunde neu zu bewerten.
Das zweite Problem sind Inhalte von Dritten auf vorhandenen Webseiten, etwa Kommentare unter Artikeln oder in Foren, oder auch hinzugefügte Videos, Fotos und GIF-Animationen, die ebenfalls eingestuft werden müssten, denn sie könnten bestimmte Altersgruppen gefährden.
iRights.info: Der neue Staatsvertrag würde wirklich erfordern, jeden einzelnen Artikel und Kommentar nach Altersstufen zu klassifizieren?
Henning Tillmann: Naja, er fordert die Anbieter, die gewerbsmäßig oder „im großen Umfang“ online publizieren, zu einer Klassifizierung auf, die zwischen den Altersstufen null, sechs, zwölf, 16 und 18 unterscheidet.
iRights.info: Und das dritte Problem?
Henning Tillmann: Das dritte Problem ist die Frage, weshalb man Online- und Offline-Medien unterschiedlich behandeln muss. Nehmen wir als Beispiel ein Buch: Die gedruckte Version, die ich in einem Laden kaufe, braucht kein Alterslabel, ein E-Book, das ich online lese oder mir herunterlade, bräuchte es schon.
iRights.info: Bleibt noch das vierte Problem.
Henning Tillmann: Das vierte Problem resultiert aus technischen Vorgaben. Denn es soll vorgeschrieben werden, dass man eine kleine Datei im Code der Webseite platziert, in der die Klassifizierung steht. Das ist die „age-de.xml“ -Datei. Doch genau so eine Methode ist in ähnlicher Form schon einmal gescheitert, damals hieß der internationale Versuch PICS.
iRights.info: Können Sie die Funktionsweise der Datei kurz erklären?
Henning Tillmann: Die Website-Betreiber müssen die „age-de.xml“-Datei auf ihrem Webserver platzieren. Wenn dann jemand mit einer App oder einem Browser, in der ein entsprechender Jugendmedienschutzfilter installiert ist, diese Webseite aufruft, erkennt der Filter anhand der Datei, welche Alterskennzeichnung sie beinhaltet.
Daraufhin vergleicht das Filterprogramm diese Angabe mit dem Alter des Kindes, das da gerade surft – dieses Alter muss man dem Filterprogramm mitteilen, wenn man es für das Kind als Benutzer einrichtet. Und wenn dann der Inhalt mit einem höheren Alter als das des Kindes gekennzeichnet ist, dann wird es lesen: Du kommst hier nicht drauf. Oder: Du kannst hier nur bestimmte Teile der Seite aufrufen.
iRights.info: Sie sagen, das Kennzeichnen von abgeschlossenen Medieninhalten wie Filmen auf DVD und Spielen als Apps funktioniere gut. Doch Sie halten nichts davon, Webseiten oder überhaupt Online-Inhalte wie eben beschrieben zu klassifizieren. Ist das nicht widersprüchlich?
Henning Tillmann: Nein, denn es geht um die Frage, wie tief oder wie detailliert die Klassifizierung gehen soll. Würden wir dieser Logik im realen Leben folgen, müssten wir irgendwann jede Straße kennzeichnen, je nach dem, wie gefährdend sie für bestimmte Altersgruppen sein könnte.
Das machen wir aber nicht, aus guten Gründen. Warum also dieses Bemühen, im Internet irgendwie alles zu labeln und zu kennzeichnen?
iRights.info: Halten Sie die im Code verankerten Kennzeichnungen und Filtersoftware für sinnlos?
Henning Hillmann: Nein, doch leider werden die Jugendschutz-Apps und -Browser kaum genutzt. Und es gibt auch nur ganz wenige Webseiten, die gelabelt sind. Das liegt im Promillebereich. Hinzu kommt, dass der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag eine Einstufung in die Altersangaben ab null, ab sechs, ab zwölf, ab 16 und ab 18 Jahren vorsieht. Das kann eine Betreiberin oder ein Betreiber eines Blogs kaum leisten. Das macht den Jugendmedienschutz nur komplizierter.
iRights.info: Was würde ihn denn wirkungsvoller machen?
Henning Tillmann: Zunächst einmal bin ich für positive Alterskennzeichnungen, wie wir sie – wie bereits erwähnt – von Filmen und Spielen kennen: Da signalisiert ein Aufkleber oder Hinweis, „Diese Seite ist für Kinder besonders empfehlenswert“. Und auch spezielle Kindersuchmaschinen wie Fragfinn.de halte ich für nützlich.
Natürlich kann man diese Suchmaschinen dafür kritisieren, dass ihr Suchraum sehr klein ist. Auch deswegen sind sie eigentlich nur für kleine Kinder geeignet, aber für die funktionieren sie gut, mit ihnen kommen Eltern gut zurecht.
Auf vielen Tablets kann man beispielsweise auch festlegen, welche Apps und Dienste die Kinder spielen und nutzen dürfen, und da kommen die Kleinen auch nicht raus, sie können nichts anderes machen. Das finde ich auch okay – doch ich glaube, dass das alles so nur bis zu einer gewissen Altersstufe funktioniert.
Spätestens ab zwölf oder wahrscheinlich schon ab zehn Jahren bringen solche Versuche nichts mehr, weil die Kids dann ihr eigenes Smartphone haben, und sehr schnell herausbekommen, wie solche Filter auch zu umgehen sind.
iRights.info: Aber wie viele Jugendliche würden solche Kniffe anwenden? Viele würden sicher auch nicht über den Zaun des Nachbarn klettern oder im Laden stehlen, weil es verboten ist.
Henning Tillmann: Jein. Kinder und Jugendlichen treiben sich heutzutage mehrheitlich auf Snapchat, Instagram und Youtube herum. Das große, freie Internet nutzen sie eher selten.
Nehmen wir also beispielsweise Youtube und kommen zurück zu der geplanten Kennzeichnungspflicht für alle Inhalte. Um dieser Pflicht zu genügen, kann Youtube das gesamt Angebot pauschal als „ab 18 Jahre“ einstufen, durch Platzieren der „age-de.xml“-Datei – was Youtube übrigens bereits umgesetzt hat, um der kommenden Anforderung gerecht zu werden.
Doch dann würden Apps und Browser, die mit Filtern arbeiten und diese Kennzeichnung erkennen, den Zugang zu Youtube sperren, also zu allen dort gespeicherten Videos. Das heißt, Kinder und Jugendliche, die via Jugendschutzsoftware zu Youtube wollten, könnten da gar nichts mehr sehen.
Sie können sich vorstellen, wie die Ihnen aufs Dach steigen würden. Geschätzte 95 Prozent der Kinder und Jugendlichen ab zehn Jahren sind auf Youtube zu Hause, die wollen ihre Youtube-Stars sehen, die ihnen Schminktipps geben, Parodien drehen, aus ihrem Leben erzählen. Die Jugendlichen werden Lösungen finden, die Sperre zu umgehen. Und ich glaube, dass das eben nicht zu vergleichen ist mit einem Ladendiebstahl oder einem Hausfriedensbruch bei den Nachbarn.
iRights.info: Sollten womöglich Plattformbetreiber wie Youtube dafür sorgen, dass nur geprüfte und nach Altersgruppen gelabelte Inhalte zur Verfügung stehen?
Henning Tillmann: Was Inhalte betrifft, die erst ab 18 zugänglich sein dürfen, beispielsweise Pornografie, übernimmt Youtube diese Verantwortung und sperrt oder löscht die Videos. Dafür setzen sie technische Filter ein. Zudem reagieren sie auf Meldungen von Nutzern. Anders geht das wohl auch nicht, wenn man sich vor Augen hält, dass da im Durchschnitt pro Minute etwa 400 Stunden Film hochgeladen werden, das können Menschen unmöglich alles durchsehen und prüfen.
Zudem würden dann Unternehmen wie Google im Zuge dieser Freigabefunktion zu einer Art Zensurinstanz. Daher müssen hier automatische Bilderkennung, Prüfalgorithmen und eben die Meldungen aus den Communities funktionieren. Das ist auch okay – jedenfalls für die Inhalte ab 18.
Doch der deutsche Jugendmedienschutz will jetzt, dass die Inhalte feingranular bewertet werden, also ab null, sechs, zwölf, 16, 18. Wer kann die Online-Inhalte – ob nun Videos, Fotos oder Texte – schon ohne Weiteres so genau bewerten? Man müsste den Youtubern auferlegen, ihre eigenen Videos einzustufen, ob diese ab sechs oder zwölf oder 16 geeignet sind. Doch das können die meisten Youtuber nicht einschätzen, weil sie teilweise selbst noch unter 18, oder gerade einmal 18, 19 Jahre alt sind.
Abgesehen davon müsste man ja nicht nur die tausenden Videos, die jeden Tag neu hochgeladen werden, klassifizieren, sondern auch die Millionen und Milliarden, die jetzt schon drauf sind – wer soll das machen?
iRights.info: Wenn Filtersoftware und Kennzeichnungen bei Kindern und Jugendlichen über zehn Jahren nichts bringen, ist diese Altersgruppe dann für Jugendmedienschutz im Internet verloren?
Henning Tillmann: Fragen wir mal andersherum: Sind Mütter und Väter von, sagen wir mal, 14 Jahre alten Söhnen und Töchtern immer dabei, wenn die sich draußen aufhalten?
iRights.info: Gewiss nicht.
Henning Tillmann: Also werden sie und er da draußen auch schon mit 14 Jahren Sachen erlebt oder gesehen haben, die nicht für sie geeignet sind. Vielleicht, weil sich ein Ehepaar streitet, aggressiv und mit Worten, die nicht gut für Kinder sind. Oder sie sehen die Tagesschau und sind verstört von Bildern aus Syrien. Und was sie alles im realen Leben noch so mitbekommen.
Wir müssen eben zum Teil damit leben, dass die Welt leider nicht nur schön ist. Sie ist kein umzäunter Garten mit einer Traumwelt für Kinder bis 18 Jahre. Vielmehr müssen wir Kinder und Jugendliche irgendwann leider auf die Realität vorbereiten – auch auf die Realität im Internet und den Plattformen, die sie besuchen.
iRights.info: Und zwar wie?
Henning Tillmann: Und zwar genauso, wie wir das im echten Leben machen, indem wir mit Kindern und Jugendlichen über Probleme in der Welt reden; ihnen versuchen zu erklären, weshalb Krieg in Syrien ist, warum es diese Bilder gibt.
Ebenso muss man mit Kindern und Jugendlichen über das online Erlebte sprechen und ihnen sagen: Ja, es gibt Internetseiten, auf denen Dinge zu sehen sind, die sind nicht gut, und die muss man auch kritisieren.
Dabei geht es nicht immer nur um Gewaltdarstellungen, sondern auch um rechtsradikale Websites. So wie Kinder und Jugendliche Neonazi-Schmierereien an Hauswänden sehen können, die Religionen diffamieren, so könnten sie so etwas auch online sehen. Auch das muss man abends am Essenstisch ansprechen, so wie man über die Schule spricht: Was hast du online heute so gemacht? Was hast du dabei erlebt? Was ist auf Snapchat gerade los? Was hast du bei Youtube so gesehen? Und vielleicht auch gemeinsam mit dem Kind – so gut es denn geht – online sein.
iRights.info: Die Lösung wäre also eine bewusste Medienerziehung – die Eltern, Schule und weitere Einrichtungen leisten müssen?
Henning Tillmann: Ganz großes Ja. Medienbildung und Medienkompetenz sind der beste Weg zu Jugendmedienschutz. Dazu gehört auch Wissen und Aufklärung über das Internet, vielleicht sogar Programmierkenntnisse und weiteres technisches Verständnis.
iRights.info: Braucht es dafür gesetzliche Regelungen durch einen Staatsvertrag? Oder vielmehr neue Lehrpläne in den Schulen?
Henning Tillmann: Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag muss klare rechtliche Leitplanken setzen, die bundesweit gelten sollten. Daher bin ich im Übrigen dafür, dass der Jugendmedienschutz aus den Kompetenzen der Länder raus muss und zu einer Sache des Bundes wird – so ähnlich, wie das Jugendschutzgesetz ja auch Bundessache ist. Ferner müsste man das Kooperationsverbot aufheben, das dem Bund verbietet, sich in die Bildungskompetenz der Länder einzumischen und dafür sorgen, dass eben jene Medienbildung viel stärker in Schulen behandelt wird.
Das Interview entstand am Rande der re:publica-Konferenz, auf der Henning Tillmann über das Thema sprach.
1 Kommentar
1 Jorge am 31. August, 2016 um 17:45
Ich suche seit langem schon Informationen über FSK Schutz für Bücher! Kann man wirklich alle Bücher nur gegen Geld im Buchladen kaufen? Oder muss der Buchverkäufer nach einem Ausweis verlangen, bei Büchern wie z.B. Shades of Grey sind ja echt brutale Texte dabei, kann das ein 12 jähriger einfach kaufen?
Was sagen Sie dazu?