Digitale Agenda zu Bildung und Wissenschaft: Der Koalitionsvertrag war besser
Eine Digitale Agenda (der gesamte Entwurf bei netzpolitik.org) betrifft alle Bereiche der Gesellschaft – es ist also schwierig, ein einigermaßen kohärentes Konzept vorzulegen. Ob das insgesamt gelungen ist, vermag ich nicht einzuschätzen. Ich konzentriere mich auf den „Abschnitt V: Bildung, Forschung und Kultur“, der sechs Unterpunkte umfasst, die zum Teil direkt als Handlungsmaximen formuliert sind:
- Den Digitalen Wandel in der Wissenschaft forcieren
- Zugang zu Wissen als Grundlage für Innovation sichern
- Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft
- Innovationspotenziale der Digitalisierung nutzen
- Durch Forschung den digitalen Wandel verstehen
- Kultur und Medien
Angesichts dieser Gliederung wäre es sicherlich besser, den gesamten Abschnitt V mit der erweiterten Überschrift „Bildung, Forschung, Kultur und Medien“ zu betiteln.
Die beiden favorisierten Begriffe in diesem Abschnitt sind „Innovation“ und „Strategie“. Die „Innovation“ ist als Begriff der Wirtschaft zuzurechnen und meint die Umsetzung von Ideen und Forschungsergebnissen in marktfähige Produkte oder Organisationsformen. Daher ist es problematisch, den „Zugang zu Wissen“ in erster Linie als Grundlage für wirtschaftliche Innovation zu sehen und auch Open Access als (leichten und kostenlosen) Zugang (der Wirtschaft) zu Forschungspublikationen ausbauen zu wollen.
Gewiss soll und wird auch die Wirtschaft von Open Access profitieren. Aber zunächst sollten die Potenziale der Digitalisierung und von Open Access als entscheidend für die Produktion neuen Wissens befördert werden. Neue Ideen und Forschungsergebnisse sind nicht nur Mittel zum Zweck der Innovation.
Sieben „Strategien“ allein zu Bildung, Forschung und Kultur
Der Begriff „Strategie“ kommt im Abschnitt V sieben Mal vor (in der gesamten Digitalen Agenda mehr als dreißigmal). So soll es eine „neue Strategie für den digitalen Wandel in der Wissenschaft“ geben; es sollen eine „Open-Access-Strategie“ und eine Strategie „Digitales Lernen” entwickelt werden – wobei nicht näher beschrieben ist, wie beide aussehen sollen; zudem gibt es eine „Hightech-Strategie“, die zu einer „Innovationsstrategie für Deutschland“ ausgeweitet werden soll.
Und es soll eine „übergreifende Strategie (…) zur langfristigen digitalen Bewahrung von Wissen, Informationen und Kulturgütern“ geben. Als Voraussetzung für diese „Bewahrung“ sollen „Strategien und Aktionspläne“ zur „Digitalisierung von Kulturgut“ und, dann noch einmal, „zu seiner langfristigen digitalen Bewahrung“ entwickelt werden. Für beides sollen „die notwendigen (urheber-)rechtlichen Rahmenbedingungen“ geschaffen werden.
Das liest sich, als hätte die Bundesregierung eingesehen, dass die Anfang 2014 rechtswirksam gewordene Regulierung für den Umgang mit verwaisten Werken für die Praxis, etwa der Bibliotheken, weitgehend unbrauchbar ist. Darauf deutet auch eine weitere Zielsetzung im Punkt 6, „Kultur und Medien“, hin, nämlich „ein qualitativ hochwertiges Angebot digitaler Inhalte“ und deren „Zugänglichkeit zum kulturellen und wissenschaftlichen Erbe in Archiven, Bibliotheken und Museen“ zu sichern.
Anhand dieser Leitlinie könnte auch das gerade von Deutschland intensiv unterstützte Ziel der UNESCO-Konvention von 2005 über den „Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ besser verfolgt werden. Allerdings ist für die gemeinte „Zugänglichkeit“ wohl eine Urheberrechtskorrektur erforderlich.
Statt „wir werden“ nur noch „es soll“
Tatsächlich nennt die Digitale Agenda in diesem Abschnitt V als Verbesserung im Urheberrecht die Einführung einer „allgemeinen Bildungs- und Wissenschaftsschranke“. Allerdings ist das hier mit „soll eingeführt werden“ deutlich vorsichtiger und nicht mehr so überzeugend formuliert wie noch im Koalitionsvertrag vom letzten Jahr, in dem, deutlich ergebnisorientierter, von „wir werden einführen“ die Rede war. Bekommt die Regierung hier Angst vor der eigenen Courage? Hoffentlich nicht.
Der Bundesregierung wird wohl bewusst sein, dass sich die Interessen von Verlagen und Verwertungsgesellschaften weiter entfernen von den Interessen jener, die in Bildung und Wissenschaft tätig sind. Dort zeichnen sich Konflikte ab, die sie lösen muss. Deutlicher Hinweis auf diese „Dichotomie“ der Interessen ist die jetzt gerade von der EU-Kommission vorgelegte erste Auswertung der Antworten auf die Fragen ihrer öffentlichen Konsultation („Public Consultation on the Review of the EU Copyright Rules“; siehe auch hier: Rainer Kuhlen: „Die Dichotomien im Urheberrecht scheinen sich zu verstärken“.)
Doch diese schon länger schwelenden Interessenkonflikte können nun wohl nur mit hoher Politikintelligenz gelöst werden, nicht länger mit blassen Hinweisen auf einen „gerechtem Ausgleich der betroffenen Interessengruppen“, wie es im Text der Agenda heißt.
Digitale Agenda fällt hinter Koalitionsvertrag zurück
Wiederholt fällt die „Digitale Agenda“ hinter das zurück, was der Koalitionsvertrag noch mit klarer Sprache zum Ausdruck bringt. Etwa in Sachen „Allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke“, wo ein „bildungs- und forschungsfreundliches Urheberrecht“ als Grundlage für „Digitale Bildung“ angesehen wird. Oder bei Open Access und Open Data: „Wir werden (wieder „werden“ und nicht „es soll“, Anmerkung des Autors) eine umfassende Open Access Strategie entwickeln, die die Rahmenbedingungen für einen effektiven und dauerhaften Zugang zu öffentlich finanzierten Publikationen und auch zu Daten (open data) verbessert.” Von diesem Ziel, öffentlich finanzierte Publikationen und Daten frei zugänglich zu machen, ist in der Digital Agenda nicht (mehr) die Rede.
Was den Umgang mit „Daten“ angeht, so ist es zu begrüßen, dass die Innovationsförderung für Big Data ausgebaut werden soll, nicht zuletzt durch die Einrichtung von zwei „Big Data-Kompetenzzentren in Berlin und Dresden“. Das ist doch mal was. Nötig wäre es allerdings, den freien Zugriff der Wissenschaft auf schon gekaufte oder schon lizenzierte Datenbestände für nicht-kommerzielle Zwecke des Text- und Data-Mining urheberrechtlich als Schranken zu garantieren. Stattdessen soll das weiter von der Erlaubnis der Rechteinhaber abhängen.
Schön wäre zudem, wenn Big Data auch als Herausforderung angesehen würde, die Transparenz und die Zugänglichkeit von Daten zu erhöhen, die von öffentlichen Verwaltungen und Regierungseinrichtungen produziert und vorgehalten werden.
Die Forderung nach Transparenz und Zugänglichkeit betrifft auch den fünften Unterpunkt, „Durch Forschung den digitalen Wandel verstehen“. Dieser gesamte Abschnitt ist ein durchaus bemerkenswerter Beitrag zu einer nicht nur technisch verstandenen Digitalen Agenda. Wir werden sehen, ob es gelingt, die „mit der Digitalisierung einhergehende gesellschaftliche Diskussion zum Schutz der Privatsphäre und der Persönlichkeitsrechte, zu Selbstbestimmung und Transparenz“ nicht nur wohlwollend zu begleiten, sondern auch institutionell zu befördern.
Öffentlich finanziertes Forschungsinstitut zu Internet und Digitalisierung
Sollte ein „öffentlich finanziertes Forschungsinstitut“, das „die ethischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und partizipativen Aspekte von Internet und Digitalisierung“ erforscht, tatsächlich eingerichtet werden – sozusagen als Gegengewicht zu dem von Google finanzierten, ebenfalls als „selbständig“ bezeichneten „Forschungsinstitut für Internet und Gesellschaft“ an der Humboldt Universität Berlin (HIIG) – wäre ich der erste, der das voll unterstützen würde.
Abschließend noch eine Anregung: Bislang werden nur die drei Ministerien für Wirtschaft, Verkehr und Inneres als federführend für die Digitale Agenda angesehen. Angesichts der zentralen Bedeutung der Wissenschaft für die Umsetzung der Digitalen Agenda sollte auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit federführend sein.
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