Podiumsdiskussion “Remix Culture” bei der Tagung Kreative Arbeit und Urheberrecht (Sa 27.9., 17:00)
„Bekanntlich ist niemand in der Lage, ohne Rückgriff auf Vorbestehendes Neues zu kreieren. Folglich darf es nicht sein, dass wir den Rechtsschutz soweit treiben, dass die Entstehung von neuen Werken ausgerechnet durch das Urheberrecht behindert wird.“ Mit diesem Zitat von Reto Hilty, Direktor am Max-Planck-Institut für geistiges Eigentum leitete Panel-Moderatorin Inke Arns die Diskussion ein. Jeder der fünf Panelisten bestätigte, für die eigene Arbeit auf die eine oder andere Weise auf die Kreativität anderer zurückzugreifen. Die Diskussion näherte sich dem Thema anhand von drei Beispielen: der journalistischen Praxis des Perlentaucher, die Mitbegründer Thierry Chervel vorstellte, und den musikalischen Praktiken von Frank Dostal und Johannes Kreidler. Kulturtheoretische Überlegungen von Felix Stalder und Martin Conrads stellten das Remixing in einen breiteren Zusammenhang.
Unter Rückgriff auf Vorbestehendes Neues zu schaffen, so sahen alle Panelisten ihre eigene Arbeit, ob wissenschaftliches Schreiben und Unterrichten, das Organisieren von Konferenzen, das Komponieren, Produzieren und Auflegen von Musik oder das Erstellen von Presseschauen. Infrage gestellt wurde aber, ob „Remixing“ der geeignete Begriff ist, um die ganze Bandbreite von „rekreativen“ Aktivitäten zu erfassen. Alternativ wurden „Zusammenstellung“, „Amalgam“ und „Fortschreibung“ vorgeschlagen. Hilty unterscheidet in dem zitierten Aufsatz einen „Werkgebrauch“, der nicht zu einem kreativen, aber zu einem wirtschaftlichen Mehrwert führt, einen „verbrauchenden“ Konsum und schließlich einen „kreativen Werkgebrauch“. Inke Arns führte am Ende der Diskussion an, dass „Rekontextualisierung“ treffender das benenne, worum es geht. Als Fazit lässt sich festhalten, dass ein tragkräftiger Begriff, der die Schöpfungsfiktion des Urheberrechts ersetzen, den grundlegenden kulturellen Prozess der Fortschreibung des Vorbestehenden in all seinen medialen Formen benennen kann und zugleich das Entstehen von Neuem zu denken erlaubt, noch aussteht.
Textzusammenfassungen sind eigenständige Werke. Bis auf weiteres.
Thierry Chervel, Mitbegründer des Perlentaucher erläuterte die Arbeit des Online-Kulturmagazins. Die Redakteure erstellen Zusammenfassungen der Buchrezensionen in sechs großen deutschsprachigen Zeitungen, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die Süddeutsche Zeitung (SZ). Die Datenbank des Perlentaucher biete einen schnellen Überblick über Literaturneuerscheinungen mit praktischen Links. Zum Konflikt mit der FAZ und der SZ kam es, als der Perlentaucher begann, die Rezensionszusammenfassungen an Bücher.de zu lizenzieren. Die beiden Verlage argumentierten urheberrechtlich: Die Zusammenfassungen des Perlentaucher seien geeignet, ihre Werke zu ersetzen und damit ihr Geschäftsmodell zu schädigen. Sowohl das Landgericht wie das Oberlandesgericht Frankfurt wiesen die Klage gegen den Perlentaucher zurück. Die Zusammenfassungen verfügten über eine ausreichende Schöpfungshöhe, seien also eigenständige Werke, die daher auch verwertet werden dürfen. Das OLG sah in der Frage aber eine grundsätzliche Bedeutung und hat deshalb eine Revision zugelassen. Tatsächlich haben FAZ und SZ angekündigt, in Berufung gehen zu wollen. Der Fall wird also demnächst vor den Bundesgerichtshof gehen. Wann das sein wird, wisse man nicht. Das Recht könne dauern, so Chervel, pünktlich würden nur die Rechnungen der Anwälte eintreffen. (Der Rechtsstreit ist auf Perlentaucher dokumentiert.)
Arns fragte, ob FAZ und SZ möglicherweise aus Verärgerung darüber so reagiert hätten, dass ihnen das Geschäftsmodell des Perlentaucher nicht selbst eingefallen sei. Die Lizenzierung von Zusammenfassungen an einen Online-Buchhändler ist die Innovation des Online-Magazins. Die Zeitungen selbst nehmen aber, wie Chervel erläuterte, Zweitverwertung ihrer Texte vor. Aus einer Datenbank können Leser einzelne Artikel für zum Beispiel 2,50 Euro kaufen, oder Website-Betreiber können zum Beispiel sechs Monate lang einen Text für 300 Euro „mieten“. Dabei experimentieren die Verlage sowohl in Richtung Autoren wie Kunden. Manche Journalisten treten ihre Zweitverwertungsrechte in so genannten Total-Buy-Out-Verträgen ab, manche unterschreiben solche Verträge nicht. In anderen Fällen haben die Verlage gar keine Rechte an den Texten. So habe der Perlentaucher im FAZ-Archiv die Nobelpreisrede von Günter Grass gekauft, nur um festzustellen, dass die Rechte daran bei der Nobel-Stiftung liegen. Verlage verkaufen also auch, was ihnen nicht gehört. Angesichts des Spannungsverhältnisses zwischen einer Monopolisierung von Inhalten einerseits und der Gegentendenz zum freien Kopieren forderte Chervel, das Recht müsse neu formuliert werden.
Nackt im Bett und verfremden, bis es nicht mehr erkennbar ist
Wovon lässt er sich inspirieren, fragte Arns den Textdichter Frank Dostal, Autor von Titeln wie „Yes Sir, I can boogie”, “Das Lied der Schlümpfe” und “Du, die Wanne ist voll”. „Mein ganzer Lebensentwurf ist ein Imitat.“ Als Jugendlicher habe er die Beatles und andere Größen live im Star Club Hamburg gesehen. Das wollte Dostal auch machen. Nicht dasselbe, aber so etwas, wie die auf der Bühne. Seine Arbeitsmethode beschrieb er so: Er sitze nackt im Bett umgeben von Zetteln mit dem Bleistift in der Hand und höre in sich hinein. Zunächst kämen Alltagsgedanken und Ideen für alle möglichen anderen Stücke. Irgendwann kämen ihm dann die Einfälle für den Liedtext, den er gerade schreiben will. Er schreibe nicht etwas ähnliches wie Bestehendes und er bearbeite keine anderen Lieder, es sei denn, der Kontext lege es nahe. Als einziges Hilfsmittel verwende er ein Reimlexikon.
In seiner Arbeit als Producer hat Dostal immer wieder mit Bezugnahmen auf bestehende Werke zu tun. So arbeitet er seit Beginn von dessen Karriere mit dem Jazz-Pianisten Axel Zwingenberger zusammen. Im Jazz besteht das Thema oft aus fünf oder sechs Takten, um die herum improvisiert wird. Ausschlaggebende Inspiration sei oft eine bestehende Komposition. Denen begegnen Zwingenberger und Dostal mit Respekt und Wertschätzung. Sie versuchen also nicht, an dem Werk entlang zu komponieren, sondern melden es an, so dass die Künstler oder ihre Erben Geld dafür bekommen.
Aus seiner Arbeit mit Hamburger Hiphop-Künstlern beschrieb Dostal eine andere Strategie. Wenn sie ein Sample verwenden möchten, rufen sie bei dessen Urheber an. In einem solchen Fall lautete die Antwort von James Bown: „Es ist mir eine Ehre.“ Geld wollte er dafür nicht. Andere sagen vielleicht, sie wollten eine Million Euro. Dann lasse man es eben sein oder verfremde das Sample so lange, bis es nicht mehr identifizierbar ist. „Ich mache es mir zu eigen, so dass es seine Identität verliert.“ Schließlich verwies Dostal auf Millionen von gemeinfreien Kompositionen und von Aufnahmen, deren Schutzrechte abgelaufen sind. „Wenn man selber nichts erfinden kann, dann kann man sich dort bedienen.“ Die Bearbeitung könne man sich dann wieder schützen lassen. Wenn Dostal selbst nach der Weiternutzung seiner Texte gefragt wird, empfindet er das als Kompliment. Manchmal möchte er an den Erlösen beteiligt werden. Nur in einem einzigen Fall habe er bislang eine Benutzung untersagt.
Musiktheater um 70.200 Samples
Der Komponist Johannes Kreidler hat mit einer, wie er es selbst nennt, „Musiktheateraktion“ vor zwei Wochen für Aufsehen gesorgt. 33 Sekunden lang ist sein Stück „Product Placement“, enthält aber sage und schreibe 70.200 Fremdzitate. Die Aktion sollte nicht etwa auf musikalische Innovationen hinweisen, sondern auf die Reformbedürftigkeit der GEMA, der Verwertungsgesellschaft der Komponisten, Textdichter und Musikverlage. Die sieht vor, dass ihre Mitglieder bei der Anmeldung ihrer Stücke die enthaltenen Fremdanteile angeben. In der Erläuterung zum Meldebogen heißt es: „Originaltitel von verwendeten Volksweisen oder anderer […] Werke sind hier zu nennen. […] Die immer noch weit verbreitete Ansicht, dass 8 oder 4 Takte ohne Zustimmung benutzt werden dürfen, ist falsch.“ Kreidler nahm diese Nennungspflicht sehr wörtlich und füllt 70.200 Anmeldeformulare aus, die er am 12. September bei der GEMA-Generaldirektion Berlin übergab. Ziel der Aktion sei es gewesen, so Kreidler, darauf aufmerksam zu machen, dass die GEMA gängige Sampling-Praktiken behindere. „Es kann nicht sein, dass eine ästhetische Frage mit einer juristischen identisch ist.“ Die Medien seien dankbar gewesen, dass er das Problem materialisiert habe.
Die GEMA hatte am Vortag der Übergabe in einer Pressemitteilung klar gestellt, dass eine urheberrechtlich relevante Nutzung nur dann vorliege, wenn die fremden Werke dem neu geschaffenen Werk erkennbar zugrunde gelegt werden. Das sei bei den winzigen Sound-Schnipseln die Kreidler verwendet hat „wohl eher nicht der Fall“. Kreidler hielt dem in seinem Panel-Beitrag entgegen, dass auch das Tauschbörsenprotokoll Bittorrent Dateien in kleine Teile zerlege. Vermutlich wollte er damit suggerieren, dass allein die Übertragung eines Musikstücks in Form eines Torrents, die enthaltenen Bestandteile soweit zerkleinere, dass sie urheberrechtlich nicht mehr relevant sind.
Das Ergebnis des zweitstündigen Gesprächs (Videoaufzeichnung) anlässlich der Übergabe zwischen GEMA, Presse und Interessierten ist widersprüchlich. Kreidler sagte in der Videodokumentation, die er auf dem Panel zeigte, dass er die Anmeldeformulare zurückgezogen hat. Es gehe ihm nicht darum, die GEMA lahmzulegen. Aus dem Papierstapel wolle er eine Kunstinstallation machen. Ein Museum habe bereits Interesse geäußert. Zwei nicht namentliche identifizierte GEMA-Vertreter äußerten sich in entgegengesetzte Richtungen. Einer bezeichnete die künstlerische Aktion, die auch noch Denkanstöße liefere, als eine tolle Sache. „Wir haben eine Menge Hausaufgaben daraus mitgenommen.“ Eine andere dagegen sagte: „Wir haben uns die Kritik angehört, sehen aber keinen konkreten Handlungsbedarf.“
Arns fragte, ob die GEMA nicht die falsche Adresse für sein Anliegen sei. Kreidler antwortete, dass das Urheberrechtsgesetz natürlich Sache der Politik sei, aber die GEMA mache ja auch Lobbyarbeit. Er habe ihr vorgeschlagen, die Anmeldebögen zum Bundestag zu bringen. Dann werde aus dem Musiktheater „große Oper“. Aus dem Publikum kam die Frage, ob Kreidler die 70.200 Anmeldebögen von Hand ausgefüllt habe. Nein, war die Antwort, er habe Programmierung zu Hilfe genommen. Dennoch habe er für die Formulare mehrere Wochen benötigt, während die Erstellung des Musikstücks nur vier Stunden gedauert habe. Von wie vielen Urhebern die Stücke stammten, die er verwendet hat, wollte Kreidler nicht sagen. Er habe sie aus einem nicht genannten Pool gegriffen. Im vergangenen Jahr habe er für die Nutzung seiner Kompositionen von der GEMA 500 Euro bekommen. Als außerordentliches Mitglied dürfe er in den Mitgliederversammlungen nicht mit abstimmen.
Frank Dostal, der nicht nur Textdichter, sondern auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der GEMA ist, platzte irgendwann der Kragen. Er habe den Verdacht, bei Kreidlers Aktion handele es sich um einen PR-Gag. Es ginge ihm weder um Musik noch um die Verbesserung der GEMA, sondern um Denksport. Für Remixer gebe es bei der GEMA seit acht Jahren einen eigenen Topf. Wie Bearbeitungen seien seither auch Remixes gestattete, die keine eigenständigen Werke darstellen. Die GEMA ist ein Mitgliederverein, was Dostal als eine historische Errungenschaft bezeichnete. Die Mitarbeiter sind Angestellte der Mitglieder. Wer mit der GEMA unzufrieden sei, können aus- und in eine andere europäische Verwertungsgesellschaft eintreten. Wer sich aber für eine Verbesserung der GEMA einsetzen möchte, für den sei ein Engagement in den Gremien der richtige Weg. Auf einer Mitgliederversammlung habe er Kreidler aber noch nie gesehen. Dass von über 60.000 Mitgliedern so wenige an den Versammlungen teilnehmen, dass Dostal jeden persönlich kennt, gibt allerdings zu denken.
Kultur als kontinuierliche Fortschreibung und die Verflüssigung der Grenzen
Der Soziologe und Medientheoretiker Felix Stalder versuchte die Frage des Remixing in zehn Thesen grundsätzlich anzugehen. Sein Ausgangspunkt, wie der des gesamten Panels, war, dass jedes neue Werk Elemente bestehender Werke enthält. Kultur sei ein „Prozess kontinuierlicher Fortschreibung“. Er verwies dabei auf die medientechnologischen Möglichkeitsbedingungen. Eine Remix-Kultur entstehe, wenn in einer Gesellschaft ein bestimmter Grad der Saturierung mit medialen Objekten erreicht ist. Im 16. und 17. Jahrhundert sind so Textkonventionen wie das Zitat entstanden. Im 19. Jahrhundert kamen Fotos für eine collagierende Aneignung hinzu, im 20. Jahrhundert dann Klang und Bewegtbild durch Audio- und Videorekorder. Das Meta-Medium des vernetzten Computers schließlich bringe alle Medien zum Punkt der Saturierung. Sie lassen sich ebenso einfach konsumieren wie produzieren. Seien die Referenzen auf Bestehendes in analogen Medien implizit gewesen, werden sie nun durch Techniken des Einfügens und der Transformation explizit und treten ins Zentrum der kulturellen Produktion. Die Zugangsschwelle zur Produktion sinkt. Dadurch erweitere sich der Kreise derjenigen erheblich, die medial sprechen können, wie man am Beispiel YouTube sehen könne.
Damit verändert sich auch die soziale Seite der kreativen Praxis. Die Remix-Kultur, so Stalder, sei nicht mehr individuell und zentralisiert sondern hochgradig verteilt und kooperativ. Er unterschied drei Arten von Kooperation: synchrone wie bei einer Band, die im Studio zusammen jammt, asynchrone wie bei der freien Software oder der Wikipedia, bei der jemand etwas schreibt und andere zeitversetzt darauf reagieren und serielle, bei der ein neues Werk auf ein bestehendes aufbaut, ohne dieses selbst zu verändern. Das Konzept von Autorschaft des Urheberrechts sei vor allem für die massenhaft kooperative Erstellungen eines Werks wie in der freien Software ungeeignet.
Durch die neuen Praktiken verschwimme die Grenze zwischen Profis und Amateuren. Laut Stalder verschwinde sie nicht etwa, sei aber nicht mehr anhand von Qualitätskriterien zu ziehen. Sie ergebe sich eher aus der Kontextualisierung, aus der eigenen Biografie, der jahrelangen Beschäftigung mit der Geschichte eines Faches. Keinen Unterschied mache die soziale Relevanz. Profis wie Amateure schaffen Werke, von denen sich sehr große oder kleine Gruppen angesprochen fühlen. Einen faktischen Unterschied macht, zumindest bislang noch, die Vergütung. Daran schließt sich die These an, dass auch die Grenzen zwischen Produktion, Distribution und Konsumption verschwimme. Als Beispiel nannte Stalder die Verfilmung eines Comics, bei der das Studio Fans in die Drehbuchentwicklung einbezogen haben.
Auch inhaltlich verflüssigen sich die Grenzen, was Stalder so ausdrückte: „Die Ontologie des Remix ist flach.“ Medien, Genres, Zeiten und Orte – alles könne sich mit allem vermischen. „Drum and Bass“ sei in der Musik das letzte große Genre gewesen. Seither ändere sich der Stil ständig und vielfältig, ohne dass sich neue Genres stabilisieren.
In seiner zehnten These schlug Stalder schließlich vor, dass die drei Dimensionen Kontrolle, Attribution und Bezahlung auseinander treten würden. Das Urheberrecht gehe von der Formel aus: „ein Werk, ein Autor“. Die Werkherrschaft, die sich daraus begründet, sei nicht mehr aufrecht zu halten, wenn Kultur auf die beschriebene Weise fortgeschrieben wird. Die Lizenzierung von Nutzerinhalten bei YouTube und die Diskussion um eine Content-Flatrate zeigten die Einsicht, dass man den Weg der Werke nicht mehr kontrollieren kann und folglich neue Vergütungsmodelle entwickeln muss. Die Namensnennung sei Autoren auch in der Remix-Kultur weiterhin wichtig. Die automatische Registrierung von Kontributoren bei freier Software und Wikipedia sind nach Stalder Beispiel, wie sich ohne Werkkontrolle und Intervention des Urheberrechtsgesetzes neue Konventionen entwickeln.
Avantgardistisches Product Placement oder Rückruf von Kreativität?
Der freie Autor und Dozent Martin Conrads zeigte in seinem Beitrag eine überraschende zweite Bedeutungsebene des in der Panel-Ankündigung genannten Begriffs „Re-Kreativität“ auf. Sein Ausgangspunkt war eine Schaufensterdekoration der Budapester Niederlassung von Louis Vuitton (LV): eine Tasche, auf die etwa zwei Duzend Überwachungskameras gerichtet sind. In dieser Inszenierung sei nicht mehr der Kunde der Überwachte, sondern die Ware selbst, die darin ihre Wertigkeit zur Schau stellt. Zugleich treten die Kameras als „begehrende Subjekte“ an die Stelle des Kunden, der doch eigentlich angesprochen werden soll. Der Fetisch, so Conrads, beobachte zurück und werd daher “re-kreativ”.
Er verwies auf eine Arbeit in der Ausstellung “Anna Kournikova Deleted By Memeright Trusted Systems”. Bei „Joke Heartbreak“ von Christian von Borries steht ebenfalls eine Handtasche von LV im Mittelpunkt. Conrads erinnerte daran, dass LV in den letzten Jahren immer wieder Avantgarde-Künstler als Gestalter beschäftigt habe, darunter den Appropriationskünstler Richard Prince, der wiederholt auf der Tagung eine Rolle spielte. Borries zitiert dazu in seinem Katalogbeitrag (PDF) den Chefdesigner von LV: „There really will be lots of fakes on the market pretty soon. In fact, Prince might even start appropriating them and turning them into genuine Richard Princes.“ Conrads sieht darin ein Zeugnis proaktiver Re-Kreativität und mutmaßte, dass es LV gar nicht mehr um die Rettung der Ökonomie selbst zu tun sei. Entscheidend sei vielmehr die Kontrolle über das bildökonomische Verweissystem. Die Ware fordere ihr Recht am eigenen Bild.
Conrads belegte dies mit der kürzlichen außergerichtlichen Einigung zwischen LV und Sony BMG. In Musikvideos des Major-Labels tauchen immer wieder LV-Logos auf, so in einem von Britney Spears, in dem sie in einem Auto vorfährt, dessen Armaturenbrett damit geziert sind. Laut Presseberichten soll Sony BMG nun 300.000 US-Dollar zahlen und darauf achten, dass künftig keine LV-Logos mehr in Musikvideos oder Promomaterial benutzt werden. Auf der einen Seite fördere das Unternehmen LV publicityträchtig künstlerische Aneignungen, auf der anderen rufe es Kreativität zurück, wo man schon gar keine mehr vermutet hätte, sondern nurmehr ein Product Placement. In dieser Doppelbewegung von Re-Kreativität – hier die Neuinszenierung von Kreativität als Remix, dort der Rückruf von außer Kontrolle geratener Kreativität – drücke sich, wenn ich Conrads richtig verstanden habe, der Double-Bind des Bilderkapitalismus aus.
Conrads schloss mit einem Blick in eine nicht so ferne Zukunft der umfassenden Rechtekontrolle. Dazu verwies er auf die mehrfach auf der Tagung angesprochene Technologie von YouTube, die mittels Mustererkennung Musikstücke in Nutzervideos identifiziert, um so die Labels und die GEMA für Downloads zu vergüten. Zum anderen verwies er auf eine weitere Arbeit in der Ausstellung, Christophe Brunos „Logo.Hallucination“. Brunos Software „entdeckt“ ebenfalls mit Mustererkennung Markenzeichen in allen möglichen Bildern im Internet, ob in Gemälden oder Fotos. Die Rundumüberwachung der Ware im Budapester Schaufenster sei Symbol für die kommende allumfassende „Permission Culture“, die visuelle Samples noch da unter Kontrolle bringt, wo gar keine sind. „Wofür heute ganz einfach geworben wird, dafür wird morgen doppelt abkassiert.“ “Eigenblutdoping” nennt Diedrich Diederichsen die derzeitig ständige Steigerung der Selbst-Identität. Conrads erweiterte diese Analyse: “Nun dopen sich auch die Marken mit sich selbst”.
Auf die Frage, ob es bei Markenrechten nicht um etwas andres ginge als bei Urheberrechten – um den Schutz der Marke hier und um ein Verwertungsinteresse am Werk dort – antwortete Conrads: In beiden Fällen reagierten die Eigentümer, weil etwas entgleist. Die Reaktion erstrecke sich auch auf Gegenstände, mit denen sie gar nichts zu tun haben. Das sehe er als Effekt der Remix-Kultur.
Eine Überschneidung von Urheber- und Markenrecht gibt es auch im Prozess gegen den Perlentaucher. Wie es journalistische Sorgfaltspflicht und Urheberrecht gebieten, nennen die Redakteure jeweils die Quelle. Genau das macht die FAZ ihnen zum Vorwurf. Sie würden mit der FAZ werben, sich das Renommee der Marke zu eigen machen. Ein Rechtsgutachten habe die Absurdität dieser Argumentation aufgezeigt.
1 Kommentar
1 NMZ am 1. Oktober, 2008 um 09:58
Einen weiteren Bericht über dieses Panel gibt es bei der Neuen Musikzeitung:
http://www.nmz.de/online/kadaverkunst-versus-geniekult-oder-kreidler-versus-gema-zweiter-akt
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