Netzpolitik wird Gesellschaftspolitik
Als vor 24 Jahren das World Wide Web entstand, war den Entwicklern nicht bewusst, welch tiefgreifende Transformation sie bewirken würden. Intuitiv trafen sie eine wichtige Entscheidung: Sie gründeten die Architektur des Netzes auf egalitäre Prinzipien: Offenheit, Neutralität und Zugänglichkeit. Das leitete einen globalen Wandel der menschlichen Kommunikation ein. Vor etwa zehn Jahren setzte eine zweite Welle der Veränderungen ein; das Internet drang in alle Bereiche des täglichen Lebens vor. Es wurde gesellschaftlich und wirtschaftlich unumgänglich. Die Frage, ob das offene Internet erhalten werden kann, wirkt sich daher heute direkt auf unsere politischen und bürgerlichen Freiheiten aus.
Diese Auseinandersetzung eröffnet eine dritte, die Gesellschaft erneut prägende Phase des Internets. Grundrechte zu wahren, wird schwierig, wenn Infrastrukturen und Dienste sich in privaten Händen befinden und dennoch öffentliche Orte der Interaktion sind. Netzpolitische Fragen sind in den kommenden Jahren daher vor allem gesellschaftspolitische Fragen. Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass das Netz so bleibt, wie wir es kennengelernt haben, sondern müssen politische Entscheidungen treffen, um seine Offenheit zu erhalten.
Drei große Themen werden in dieser Legislaturperiode in der Europäischen Union entschieden: Netzneutralität, Urheberrechtsreform und Überwachung. Ein wiederkehrendes Muster zieht sich durch alle drei: Die Durchsetzung des Rechts wird zunehmend in den privaten Bereich verlagert. Sei es für den Schutz der Kinder, die Durchsetzung von Urheberrechten oder den Kampf gegen den Terrorismus: Internetfirmen werden zu „freiwilligen“ Maßnahmen der Überwachung und Sanktionierung ermuntert, um politische Ziele zu erreichen.
Da diese Maßnahmen außerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens stattfinden, entsteht eine Abwärtsspirale, die demokratische Werte und die Prinzipien der Menschenrechte untergräbt. Was das Europäische Parlament und die neue Kommission in diesem Bereich beschließen, wird in dieser dritten Phase weitreichende Auswirkungen auf unser Demokratieverständnis haben.
Netzneutralität versus Kontrolle
Der sperrige Begriff „Netzneutralität“ beschreibt das vielleicht wichtigste Gründungsprinzip des Internets: Jeder Punkt kann mit jedem anderen beliebigen Punkt Daten austauschen, jeder Teilnehmer kann (fast) unabhängig von seiner finanziellen und sozialen Lage global kommunizieren. Die Netzneutralität hat nicht nur eine Vielfalt an Inhalten gebracht, sondern auch mehr Möglichkeiten, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen.
Netzwerkbetreiber gefährden nun dieses Grundprinzip. Sie entscheiden immer öfter darüber, wer welche Daten wie schnell über ihre Netze senden darf. Sie haben erkannt, dass sich mit sozialen Netzwerken, Musikangeboten oder auch Suchdiensten kurzfristig viel Geld verdienen lässt. Telekomanbieter steigen daher selbst immer weiter in das Geschäft mit Inhalten und Diensten ein und möchten, dass Nutzer die eigenen Angebote oder zahlende Partnerdienste konsumieren. Sie wollen nicht nur einmal bezahlt werden, sondern gleich zweimal und nur noch zahlende „Premiumdienste“ zu den Kunden durchlassen.
Im April 2014 sprach das Europaparlament sich für die Netzneutralität aus: Netzwerkbetreibern soll untersagt werden, Kontrolle über Kommunikation auszuüben und eine Art Lösegeld für die Nutzung von Onlinediensten zu fordern. Doch die entsprechende EU-Verordnung ist noch lange nicht in trockenen Tüchern. Sehr bald wird sie in einer zweiten Lesung zurück ins Europaparlament kommen – hier müssen sich die Abgeordneten entscheiden, ob sie weiterhin zur Offenheit stehen.
Überwachung versus Rechtsstaatlichkeit
Seit den Enthüllungen von Edward Snowden wissen wir, in welch unglaublichem Umfang Regierungen ganze Bevölkerungen überwachen. Die Logik der Geheimdienste: Um die Nadel zu finden, muss der Heuhaufen so groß wie möglich sein. Flugreisen der Bürger sollen jetzt weitere Daten für den Heuhaufen liefern. Alle Daten, die dabei anfallen – zum Beispiel Kreditkartennummern oder Essenswünsche – sollen mit einer neuen Richtlinie auf Vorrat gespeichert werden, um „unbekannte“ Terrorverdächtige zu finden. Dabei hatte der Europäische Gerichtshof erst im April 2014 die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung unserer Kommunikation für illegal erklärt.
Seit diesem Urteil ist klar, dass die EU sich beim Thema Überwachung an die eigene Nase fassen muss. Wird die Speicherung aller Fluggastdaten aber gestoppt, könnte Europa weltweit ein Signal für hohe Standards beim Datenschutz und für die Privatsphäre setzen. Vor allem die geplante EU-Datenschutzverordnung ist hier das vermutlich bedeutendste Gesetz für die digitale Welt – jedenfalls dann, wenn sie die momentan ungehemmte Datensammlung und -weitergabe durch Unternehmen effektiv einschränkt. Die zentrale Frage für die kommenden fünf Jahre wird sein, ob die Verordnung schnell abgeschlossen wird und wir tatsächlich die Kontrolle über unsere Daten zurückbekommen und so weltweit Vorreiter werden.
Urheberrecht versus digitale Realität
Der technologische Fortschritt und der damit einhergehende gesellschaftliche Wandel hat das Urheberrecht in eine weltweite Krise gestürzt. Anstatt es zu reformieren und an die digitale Realität anzupassen, wurde es in den letzten Jahren verschärft; Legenden, Mythen und Märchen wurden verbreitet. „Illegale Downloads“, „Raubkopien“ und der „Diebstahl von geistigem Eigentum“ prägten die politische Diskussion, ohne dass darüber nachgedacht wurde, was eigentlich mit dem Kampf gegen die „Piraterie“ aufs Spiel gesetzt wird.
Das Internet ist heute in alle Bereiche unseres Lebens vorgedrungen – wir erledigen Amtsgänge, suchen gute Restaurants, machen Reiseplanungen oder bereiten Schulaufgaben vor. Gesetze wie Hadopi in Frankreich oder der Digital Economy Act in Großbritannien aber können ganze Familien vom Internet abschneiden. Die EU-Richtlinie zur Durchsetzung des geistigen Eigentums wurde in Deutschland so umgesetzt, dass eine Abmahnindustrie entstanden ist.
Bürgerinnen und Bürger werden millionenfach um jeweils Hunderte Euro erpresst, weil sie Urheberrechte verletzt haben sollen. Die EU-Richtlinie zum Urheberrecht von 2001 sollte die Regelungen eigentlich harmonisieren, doch mit ihren 15 optionalen Ausnahmen und Beschränkungen hat sie dazu geführt, dass es für die EU-Länder sagenhafte 2.097.152 Möglichkeiten gibt, diese Richtlinie auf nationaler Ebene umzusetzen.
Die EU-Kommission hat nun zwar endlich zugegeben, dass ihre Regelungen nicht mehr zeitgemäß sind. Fraglich ist aber, ob sie auch erkannt hat, dass sich das Internet zu einem komplexen Nervensystem entwickelt hat, dessen Offenheit und Integrität geschützt werden muss. Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen sind Scheinlösungen, die weder der Komplexität des Netzes gerecht werden noch eine faire Vergütung für Kreative bringen.
Diejenigen, die weiterhin ein veraltetes Urheberrecht verschärft durchsetzen möchten, bringen das Netz in Gefahr und riskieren, dass wir vermehrt Kontrolle und Zensur ausgesetzt werden. In den kommenden fünf Jahren wird sich entscheiden, ob wir die dringend notwendige, umfassende Reform bekommen.
All diese Entwicklungen laufen auf die Frage hinaus: Wählen wir Offenheit oder Geschlossenheit? Transparenz oder Intransparenz? Willkürliche Einschränkungen unserer Grundrechte oder Rechtsstaatlichkeit?
Wir haben jetzt die Chance, die Netzneutralität zu sichern und das Internet offen zu halten. Wir haben jetzt die Chance, das Urheberrecht zu reformieren und unsere Grundrechte, den Wissensaustausch und damit den sozialen und ökonomischen Fortschritt zu sichern. Wir haben jetzt die Chance, unverhältnismäßige Maßnahmen wie die europaweite Fluggastdaten-Speicherung abzulehnen. Als globaler Akteur kann die EU hier eine führende Rolle einnehmen, um die Menschenrechte im digitalen Zeitalter zu schützen.
Dieser Text erscheint in „Das Netz 2014/2015 – Jahresrückblick Netzpolitik“. Das Magazin versammelt mehr als 70 Autoren und Autorinnen, die einen Einblick geben, was 2014 im Netz passiert ist und was 2015 wichtig werden wird. Bestellen können Sie „Das Netz 2014/2015“ bei iRights.Media.
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