Europas rotes Licht für neutralen Netzzugang
Seit den Anfängen des Internets gilt europaweit das ungeschriebene Prinzip der Netzneutralität. Alle Daten und Dienste müssen mit der gleichen Geschwindigkeit gesendet und empfangen werden. Jeder beliebige Punkt kann mit jedem anderen im Netz in Kontakt treten. Jede Webseite hat – unabhängig von ihrer finanziellen und sozialen Situation – die gleiche Chance, global zu kommunizieren, egal ob Sportverein, Schule, Aktivist, Politiker oder kleines Unternehmen. Netzneutralität bedeutet: Jeder kann Inhalte anbieten und Inhalte nutzen. Und jeder kann mit eigenen Inhalten eine potenziell unbegrenzte Zahl von Lesern, Zuschauern, Hörern oder Nutzern erreichen.
Dieser fast grenzenlose Raum des Internets steht nun auf dem Spiel. In den letzten Jahren haben die Netzbetreiber damit angefangen, Überholspuren im Netz einzurichten. Denn die ehemaligen staatlichen Monopolunternehmen haben längst verstanden, dass sich mit sozialen Netzwerken, Musikangeboten und Suchdiensten kurzfristig viel Geld verdienen lässt. Aber eine Diskriminierung (dazu zählt auch die Bevorzugung) von bestimmten Angeboten im Netz hat verheerende Auswirkungen für die Kommunikationsfreiheit, die Privatsphäre, den Wettbewerb, und den Aufbau eines einheitlichen, digitalen Binnenmarkts in Europa.
Eine europäische Verordnung, die in diesem Jahr verabschiedet wurde, sollte daher die Netzneutralität schützen. Leider hält sie nicht, was sie verspricht. Zweideutige Textpassagen führen dazu, dass Netzbetreiber (zum Beispiel die Deutsche Telekom) die Inhalteanbieter von nun an zur Kasse bitten könnten, um Videos und andere Dienste ruckelfrei zu übertragen. Es droht eine Situation, in der sich diese Anbieter gegen ein Entgelt Vorfahrt im Netz erkaufen müssten, um ihren Kunden einen guten Service zu bieten.
Die große Frage für Internetnutzer in Europa ist nun: Wer bezahlt am meisten für mich? Welche Webseiten, Streamingdienste, Spiele und Medien können sich den Zugang zu mir als potenziellem Leser, Hörer oder Zuschauer leisten? Welche neuen und innovativen Dienste können unter solchen Rahmenbedingungen überhaupt noch entstehen?
Wie konnte es soweit kommen?
Netzbetreiber argumentieren schon länger, dass sie ohne einen Anteil an den Gewinnen der Inhalteanbieter den Ausbau der Leitungen nicht stemmen können. Die EU-Kommission hatte für dieses Argument offene Ohren und legte im September 2013, nur acht Monate vor der Europawahl, ein halbgares EU-Telekom-Paket vor.
Neelie Kroes, damalige Digitalkommissarin, glaubte, dass das Ende der Roaming-Gebühren eine unwiderstehliche Versuchung für die Europaabgeordneten vor der Wahl darstellte. Sie behielt recht und das Parlament stürzte sich trotz voller politischer Agenda in die Arbeit.
In Sachen Netzneutralität hatte sich Kroes in ihren letzten Amtsmonaten aber weit von selbiger entfernt und schlug vor, dass Netzbetreiber künftig über die Kommunikation im Netz entscheiden sollen. Die EU-Kommission wollte Abkommen zwischen Netzbetreibern und Inhalteanbietern beschließen, die sogenannte Überholspuren im Netz ausdrücklich erlauben sollten.
Im April 2014 nahm das Parlament das Paket zwar an, jedoch stimmte es entgegen aller Erwartungen für einen stärkeren Schutz der Netzneutralität. Internetaktivisten und Bürgerrechtler, die jahrelang auf diesen Augenblick gewartet hatten, konnten es kaum glauben. Immerhin stand die EU vor der immens wichtigen Entscheidung, ein Gesetz zu verabschieden, das entweder die Offenheit und Neutralität des Netzes erhalten oder die Innovations- und Wettbewerbsmöglichkeiten Europas einschränken konnte.
In den USA wurden fast parallel zum europäischen Gesetzgebungsprozess strengere Regeln für den Schutz der Netzneutralität verabschiedet. Dadurch wurde sichergestellt, dass amerikanische Unternehmen vor wettbewerbswidrigen Praktiken geschützt sind.
Von da an ging das europäische Paket geradezu den Bach runter. Die 28 EU-Staaten einigten sich elf Monate später auf einen schalen Text. An einer Stelle hieß es beispielsweise, dass Endnutzer und Inhalteanbieter mit Netzbetreibern Verträge abschließen können, die verschiedene Qualitätsklassen vorhersehen. Der Rat – und daran war die Bundesregierung mitbeteiligt – sah in seiner Verhandlungsposition ein Mehr-Klassen-Netz vor.
Derweil bekam die zuständige Abgeordnete von ihren Kollegen im Parlament den Auftrag, mit dem Rat der EU und der Kommission im sogenannten Trilog das Gesetz informell auszuhandeln. Ohne also darauf zu warten, dass der EU-Rat offiziell einen Text verabschiedete, startete das Parlament geheime Verhandlungen, um sich auf einen Kompromiss zu einigen, der von beiden Institutionen dann nur noch übernommen werden musste.
Alles andere steckt im Stau
Zusammen mit dem Bündnis hinter SaveTheInternet.eu kämpfte die Bürgerrechtsbewegung European Digital Rights (EDRi) weiter für den Erhalt der Netzneutralität in Europa, traf sich mit Ratsvertretern und Schlüsselfiguren im Parlament, kommentierte und analysierte jeden Vorschlag und Gegenvorschlag – oft mit nur ein paar Stunden Zeit, um eine solide Analyse abzuliefern.
Eine öffentliche Kampagne war fast unmöglich, denn ein klares Enddatum des Trilogs war nicht bekannt und es fehlte jegliche Information darüber, was hinter den verschlossenen Türen beschlossen wurde. Die Trilogverhandlungen waren so undurchsichtig, dass sich die Presse auch nach dem Erreichen einer Einigung im Juni 2015 nicht wirklich dafür interessierte.
Der geschlossene, intransparente Trilog verhinderte erfolgreich eine öffentliche Debatte. Um zwei Uhr nachts stimmten die Sozialisten und Demokraten sowie die Konservativen der endgültigen Fassung der Verordnung zu, die vom Parlament in einer zweiten Abstimmung mit einer bequemen Mehrheit im Oktober 2015 abgesegnet werden konnte. Für Änderungsanträge hätte ein Wunder geschehen müssen.
Jetzt sind wir zwar weit entfernt vom idealen Schutz der Netzneutralität, aber es gibt es auch eine gute Nachricht: Der endgültige Text ist weitaus besser als der klar destruktive, wettbewerbs- und grundrechtsfeindliche Ansatz, den die Kommission und die Mitgliedstaaten durchpeitschen wollten.
Wir tendieren dazu, die immensen Vorteile zu unterschätzen, die das Internet geschaffen hat. Es ist heutzutage vollkommen natürlich, global zu kommunizieren, ohne vorher um Erlaubnis bitten zu müssen. Der Abschluss der Verordnung lässt Europa nun aber innehalten. Was passiert, wenn die Grundarchitektur des Internets für kurzsichtige Gesetzesvorschläge der Netzbetreiber geopfert wird?
Was passiert, wenn Netzbetreiber von nun an darüber entscheiden können, wann wir mit wem sprechen, wie wir uns weiterbilden, wie wir Online-Kampagnen im Netz fahren oder unsere nächste Reise buchen? Was passiert, wenn die Uhr der technischen Entwicklungen so weit zurückgedreht wird, dass das Internet zum Kabelfernsehen mutiert? Was wäre, wenn man dafür bezahlen muss, Zugang zu bekommen?
Schlechte Chancen gegen das Silicon Valley
Zum Glück erinnerte uns die Deutsche Telekom fast unmittelbar nach der Verabschiedung der Verordnung daran, was der Verlust der Netzneutralität bedeutet und was es heißt, wenn große Netzbetreiber Schranken im Netz einführen.
In einem Statement kündigte die Telekom an, Inhalteanbieter zur Kasse zu bitten und Nutzern die Möglichkeit zu geben, sich für ein paar Euro mehr Dienste in „gesicherter Qualität zu buchen“. Alles andere steckt dann im Stau. In 140 Zeichen beschwichtigte Günther Oettinger auf Twitter, dass man „wohl ankündigen könne, bei Rot über die Ampel zu gehen – was aber die Polizei davon nicht abhalten wird, zu intervenieren“.
Das Statement der Telekom und die Reaktion des EU-Digitalkommissars hätten das Kernproblem der zweideutigen Verordnung nicht klarer hervorheben können: Bis ein Gericht einschreitet, werden es sich vor allem große Unternehmen finanziell leisten können, mit Netzbetreibern Vereinbarungen zu treffen, um Inhalte bevorzugt zu transportieren.
Was bedeutet das für unsere Grundrechte, für die unternehmerische Freiheit und die Kommunikationsfreiheit? Für Sportvereine, Schulen, Politiker oder kleine Unternehmen, die mit Telekomanbietern keine vertraglichen Beziehungen haben, wird es schwer oder gar unmöglich, mit ihren Apps die Nutzer zu erreichen, die nur noch Zugang zu Sonderdiensten wie Facebook oder Spotify haben.
Von einem digital vereinten Europa sind wir damit weit entfernt. Und noch ein wenig länger dürfte nun die Aufholjagd mit dem Silicon Valley dauern, denn für die Unternehmen dort ist die Netzneutralität gesichert. Jetzt müssen wir mindestens ein Jahr warten, bevor Gerichte und Aufsichtsbehörden anfangen können, die Verordnung auszulegen, die Schlupflöcher zu stopfen und Grundrechte durchzusetzen.
Bis dahin bleibt die Frage: Wer bezahlt am meisten für mich?
Dieser Artikel ist auch im Magazin „Das Netz – Jahresrückblick Netzpolitik 2015/16“ veröffentlicht. Das Magazin ist gedruckt, als E-Book und online erschienen.
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