Der Kampf um Freiheit und Grundrechte im Netz muss jetzt beginnen

Foto: Digitale Gesellschaft, CC BY-SA
Eine eigene, vielsagende Begriffsdynamik hat sich entwickelt: Was zunächst Spähaffäre hieß, dauerte irgendwann zu lange und war zu tiefgreifend, um noch eine Affäre sein zu können. Der klassische Skandal weist zwar situative Spitzen auf, hat aber mehr Stehvermögen als die kurzlebige Affäre und viel mehr Eskalationspotenzial.
Im Herbst 2013 ließ sich PRISM noch als Spähskandal bezeichnen. Aber auch die zäheste, langlebigste Interpretation des Begriffs „Skandal“ kommt irgendwann an ihr Ende – wogegen die Radikalüberwachung der digitalen Welt weitergeht. 2013 ist also das Jahr, in dem anhaltende Grundrechtsbrüche und die Abschaffung jeder Privatsphäre zum Alltag wurden. Das ist nichts weniger als eine fortwährende Katastrophe, denn es bedeutet die Aushöhlung des Rechtsstaates, der demokratischen Kontrolle und damit auch der Demokratie.
Die Erschütterung der digitalen Sphäre durch die Spähkatastrophe 2013 ff. muss zur vorläufigen Neubewertung vieler Wirkungen des digitalen Fortschritts führen. Inzwischen ist zum Beispiel klar, dass durchschnittliche Plattformen und soziale Netzwerke von Facebook bis Google ihre Daten en gros und en détail zur Auswertung an staatliche Ermittlungsbehörden weiterreichen.
Tendenz zum globalen Albtraum
Es wäre fatal, neue Tools und Features nicht unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Die Gesellschaft mit allen ihren Beziehungen und Prozessen verschiebt sich immer weiter in die digitale Sphäre. Und dort erwartet sie ein umfassendes Überwachungsszenario. Das Erwachsenwerden des Internet ist ein Ernüchterungsszenario mit der Tendenz zum globalen Albtraum.
Als wesentliche Erkenntnis aus dem Jahr 2013 bleibt, dass Geheimdienste früher Aufklärung gegen andere Mächte betrieben. Im 21. Jahrhundert betreiben sie Aufklärung gegen Bürger, im Zweifel sogar gegen die eigenen Bürger. Es ist ein gefährlicher Trugschluss zu glauben, dass lediglich ein paar Generäle bei der NSA durchgedreht sind. Tatsächlich besteht zwischen westlichen Geheimdiensten eine derart enge Kooperation, dass sie sich in ihrem gemeinschaftlichen Vorgehen kaum sinnvoll entwirren lassen.
Beispielhaft dafür steht die Verwirrung, als im Sommer 2013 herauskam, dass auch der Bundesnachrichtendienst Instrumente wie PRISM benutzt hatte. Zunächst wurde dies bestritten, dann bestätigt, dann sollte es sich um ein ganz anderes PRISM-Programm handeln, schließlich wurde bestätigt, dass es sich doch um genau das fragliche PRISM gehandelt habe, das aber ganz anders eingesetzt worden sei.
Aus Kooperationen werden Abhängigkeiten
In einer Überwachungslandschaft, in der die eine Hand im Zweifel ihre Aktionen vor der anderen Hand geheim hält, werden aus Kooperationen schnell Abhängigkeiten. Faktisch hat sich deshalb eine weltweite Überwachungsmaschinerie herausgebildet, das haben die Enthüllungen von Edward Snowden zweifelsfrei bewiesen.
Und daraus wiederum lässt sich das eigentliche Problem ableiten. Es handelt sich – natürlich – um ein politisches Problem: Große Teile der Politik in den meisten westlichen Staaten sind mit unterschiedlichen Begründungen davon überzeugt, dass ein Kontrollstaat ein erstrebenswertes Ziel ist. Dass umfassende staatliche Kontrolle die Gesellschaft besser macht. Kontrolle durch den Staat richtet sich immer auf die eigenen Bürger, der Kampf gegen äußere Bedrohungen ist allenfalls ein Begleiteffekt.
Ein Milliardenmarkt ohne demokratische Kontrolle
Der Kontrollstaat aber ist kein erstrebenswertes Ziel – sondern ein Schritt hin zu einem modernen Totalitarismus. Unter Innenpolitikern aller Parteien in Deutschland existiert ein Narrativ, das in den Vereinigten Staaten und Großbritannien sogar die Öffentlichkeit beherrscht: Mehr Überwachung ergibt mehr Sicherheit.
Diese Gleichung ist so simpel und scheinbar einleuchtend wie falsch und gefährlich. Sie wurde entwickelt und verbreitet von einer Sicherheitsindustrie, einer bedrohlichen Verschmelzung von Unternehmen und Apparaten. Abgesehen von einer proklamativen und absichtlich emotionalisierten Rechtfertigungskampagne – Hilfe, die Terroristen kommen! – ist der bevorzugte Wirkungsort dieser Industrie im Geheimen.
Es handelt sich um einen Milliardenmarkt, der für seine Expansion am allerwenigsten gebrauchen kann, was die Grundvoraussetzung für den Rechtsstaat ist: demokratische Kontrolle und Bewertung durch die Öffentlichkeit. Spätestens seit 2013 ist klar, dass hinter der ausufernden Überwachung des Internet handfeste wirtschaftliche Interessen stehen.
Jeder ist überwachbar
Das Ergebnis ist nicht bloß die Totalüberwachung der digitalen Sphäre und damit die ständigen Grundrechts- und Menschenrechtsbrüche im Internet. Vielmehr ist zum Verständnis der Tragweite notwendig, Wirkung und Struktur der digitalen Vernetzung zu begreifen. Das Internet geht nicht mehr weg, wenn man das Laptop zuklappt.
Im Gegenteil, selbst die Daten der Leute, die aus Unwissenheit glauben, sich aus der digitalen Welt herauszuhalten, sind überwachbar. Reise- und Verkehrsdaten, Konsumdaten wie Einkaufsverhalten mit EC- oder Kreditkarten, Patientenakten der Krankenversicherung, Bestellverhalten, Überweisungsdaten und Finanztransaktionen, jegliche Kommunikation per Telefon und Fax (selbst Papierbriefe werden fotografiert) – alles das und noch unendlich viel mehr funktioniert nur durch und mit der digitalen Vernetzung und ist damit auswertbar.
Für eine hemmungslose Überwachungsmaschinerie, die wirklich überhaupt gar keine rote Linie akzeptiert, die die totale Kontrolle zum Leitbild erhoben hat, gibt es in der westlichen Welt niemanden, der nicht im Netz ist. Und damit überwachbar ist.
Die Verschmelzung der digitalen Welt mit der nicht-digitalen kündigt sich seit längerer Zeit an. Bis 2013 war dabei nicht klar, welche Seite der anderen letztlich ihre Regeln aufdrängen wird. Edward Snowden hat gezeigt, dass dieses Ringen im Punkt der Grundrechte längst entschieden ist. Und zwar als geplante und verwirklichte Dystopie der Totalüberwachung durch das Internet.
Genau deshalb muss 2014 das Jahr werden, in dem der Kampf beginnt. Der Kampf für Freiheit und Grundrechte, die längst selbstverständlich schienen – es aber im Netz nicht sind.
Sascha Lobo, Jahrgang 1975, ist Autor, Strategieberater und hält Fach- und Publikumsvorträge. Er beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Internet auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur. Auf Spiegel Online erscheint wöchentlich seine Kolumne „Mensch-Maschine“ über die digitale Welt. Zuletzt erschien sein Buch „Internet – Segen oder Fluch“, geschrieben gemeinsam mit Kathrin Passig.
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