Transatlantisches Freihandelsabkommen: Die Güter richtig abwägen
US-Vizepräsident Jo Biden mahnte in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz zur Eile: Die Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen – kurz TTIP oder TAFTA – seien mit „nur einer Tankfüllung Sprit“ durchzuziehen. EU-Kommissionspräsident Barroso und Kanzlerin Merkel stimmten ein: Keine Ausnahmen, ein sehr allgemeines Mandat, nur schnelle Verhandlungen könnten helfen, Populisten und Lobbyisten in Schach zu halten. Doch demokratisch, bemerkte die Süddeutsche Zeitung, wäre eine solche in aller Eile aufgezwungene Freihandelszone nicht. Und die Bertelsmann-Stiftung warnt in einer Studie (PDF): Die Ergebnisse bilateraler Handelsabkommen gingen bisher zu Lasten der kleineren Partner.
Ein transatlantischer Handels- und Investitionsraum ist ein alter Traum. Dass eine „Wirtschafts-Nato“, von der manche nun sprechen, jetzt möglich werden soll, ist zweifelsohne das Ergebnis einer geopolitisch dramatisch veränderten Welt. Ist das die letzte Ausfahrt für den Westen? Müssen wir zwischen Demokratie und Wachstum wählen? In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ fauchte ein gereizter Thomas Mann, der „römische Westen” – Amerika – sei schon fast überall: „Der Imperialismus der Zivilisation ist die letzte Form römischer Vereinigungsgedanken“. Seine Grundlage ist der Warencharakter, auch jener von Kunst und Kultur.
Nicht alles kann der Markt regeln
Auch beim transatlantischen Freihandelsabkommen geht es letztlich um die Frage, wie sich Kultur und Wirtschaft zueinander verhalten. Diese Frage trieb die Mitgliedsstaaten der UN-Kulturorganisation UNESCO seit der Weltkulturkonferenz in Stockholm um. Für die 130 Unterzeichnerländer der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen – ist Kultur der Inbegriff menschlicher Verhaltensweisen, der damit auch den Kapitalismus und seine Gebräuche einschließt, ohne diesem jedoch eine führende, alles regulierende Rolle einzuräumen.
Dass allein der Markt auf angemessene Weise die kulturelle Produktion zu steuern vermag, ist eine Illusion, wie jeder begreift, der die Mediabudgets der Verlagsholdings, Medienmultis und globalen Plattformbetreiber kennt. Manche sind größer als das Bruttoinlandsprodukt Frankreichs. Auch die Unterzeichnerstaaten der UNESCO-Konvention haben sich der weltweiten Liberalisierung verschrieben und mehrheitlich die Abkommen GATT, GATS und TRIPS unterzeichnet.
Dass es die UNESCO-Konvention gibt, ist daher selbst bereits eine Reaktion auf die Erfahrung fortschreitender globaler Liberalisierung, zu der sich die Mitglieder der Welthandelsorganisation verpflichtet haben. Nicht nur die damals 25 Mitgliedstaaten der EU haben die Konvention 2005 gezeichnet, auch die Europäische Union selbst hat sie ratifiziert. Für die Verfechter des Freihandels jedoch bleibt die Ökonomie der vorrangige Modus, in dem sich menschliche Bedürfnisse und Handlungsweisen organisieren. Kultur ist ihnen nur ein Anwendungsfall unter anderen.
Der Streit um die „kulturelle Ausnahme”
Beim TTIP-Freihandelsabkommen geht es um die Öffnung der Märkte für ausländische Güter, Dienstleistungen und Investitionen, die wie inländische zu behandeln wären; ebenso darum, Standards bis in den Datenschutz hinein anzugleichen. Kein Thema dürfte für die Freihandelsverhandlungen strittiger werden als die Frage, ob dieser bereits eingeleitete Prozess der Marktöffnung „kulturverträglich” gestaltet werden kann.
Frankreich hatte dabei kategorisch verweigert, einem Verhandlungsmandat zuzustimmen, sollten audiovisuelle und kulturelle Dienstleistungen nicht ausgenommen werden. Eine Öffnungsklausel befriedete dann nach 15 Stunden zäher Verhandlungen kurz vor Mitternacht die aussichtslos erscheinende Debatte der europäischen Handelsminister in Luxemburg. Die kategorische Forderung der französischen Seite nach einer Bereichsausnahme für Kultur und audiovisuelle Dienste wurde zunächst einmal aufgenommen. Zugleich wurde jedoch festgelegt, dass Ausnahmen jederzeit wieder einbezogen werden können, sofern die europäischen Staaten das Ergebnis am Ende mittragen.
Mit dieser Öffnungsklausel, die der europäische Handelskommissar Karel de Gucht nicht als Aushöhlung oder Bereichsausnahme gewertet wissen will, einigten sich die Unterhändler in letzter Minute auf ein Mandat, das beim G8-Gipfel in Nordirland verkündet werden konnte. Nun können die Verhandlungen mit den USA aufgenommen werden. Die deutsche Seite nahm es mit Erleichterung auf, auch wenn die Sprecherin des Wirtschaftsministeriums sich ein „robusteres“ Mandat gewünscht hätte. Das Mandat entspricht auch der Entscheidung des Europäischen Parlaments, das zwar weitestgehend der Vorlage von EU-Handelskommissar Karel De Gucht folgte, jedoch auf der Ausnahme für audiovisuelle und kulturelle Dienste bestand.
Wachstumsmarkt Kulturgüter
Diese Entscheidung spiegelt den enormen Bedeutungszuwachs, den Kultur in den letzten zwanzig Jahren erfahren hat. Die damit verbundenen ökonomischen Interessen tun das ihre: Der internationale Handel mit kulturellen und audiovisuellen Produktionen ist ein Wirtschaftsfaktor ersten Ranges. Es geht um Hunderte von Milliarden Euro und Dollar jährlich, in den USA um die zweitgrößte Exportindustrie nach der Luftfahrt, in Europa um die am stärksten wachsende. Mit dem transatlantischen Freihandelsabkommen entstünde die weltweit größte Freihandelszone. Nach Berechnungen der US-Handelskammer würde sie knapp die Hälfte des weltweiten Bruttosozialprodukts umfassen. Europa erhofft sich 400.000 neu entstehende Jobs und einen Anstieg der Handelsumsätze um 25 Prozent.
Vor allem aber hoffen die Regierungen in den USA und Europa, mit dem Abkommen die Regeln und Standards für alle künftigen Handelsverträge vorgeben zu können. Gerade auch jene Verträge, die mit den stark wachsenden Volkswirtschaften in China, Indien und Brasilien geschlossen werden sollen. Entsprechend groß ist die Sorge vor einem Scheitern. „Wenn wir unsere Stärke jetzt nicht ausnutzen, um voranzugehen, werden wir in ein paar Jahren die Regeln von China und Mitsubishi übernehmen müssen“, zitiert die Süddeutsche Zeitung EU-Diplomaten.
Doppelnatur kultureller Güter
Kulturelle Güter und Dienstleistungen sind fraglos wirtschaftliche Produkte, aber sie sind Produkte mit einer Doppelnatur, die in der politischen Ökonomie „meritorische“ Produkte genannt werden: öffentliche Güter, deren gesellschaftlicher Verdienst ihren eigentlichen Warenwert bei weitem übersteigt – ein plausibler Grund, sie im Prozess globaler Liberalisierung nicht einfach aufzugeben. Im internationalen Handelsrecht jedoch ist seit der Annahme des WTO-Dienstleistungsvertrages GATS der gesamte Kultursektor zunehmend liberalisiert geworden. Nicht nur Zölle, auch kulturpolitische Regulierungen und Standards wurden damit als „Handelsbarrieren“ eingestuft.
Mit jeder weiteren Verhandlungsrunde unterliegen sie neuem Druck, abgebaut zu werden. Einmal eingegangene Liberalisierungen aber sind nicht rückholbar, es sei denn um den Preis hoher Strafzölle und Kompensationszahlungen. Die Europäische Kommission führt die Verhandlungen, sie hat die handelspolitische Zuständigkeit für die Europäische Union nach außen. Immer wieder hat sie davon gesprochen, der „Schutz der kulturellen Vielfalt“ sei „ein Kernprinzip der EU“.
Tatsächlich hat die Europäische Union die UNESCO-Kulturkonvention nicht nur mitverhandelt und gezeichnet, sie hat sie ratifiziert und internationales Völkerrecht damit in die europäische Rechtsarchitektur integriert. Das ändert jedoch nichts an dem Grundsatz fortschreitender Liberalisierung mit immer größerer Verpflichtungstiefe, zu der die WTO-Vertragsstaaten verpflichtet sind. Er ist auch für Europa bindend.
Die UNESCO-Kulturkonvention
Kulturelle Vielfalt ist die Wirklichkeit einer Welt, die sich in den letzten Jahrzehnten – auch durch die großen Umwälzungen in der Kommunikation und Technologie – dramatisch verändert hat. Gefragt sind neue Denkansätze moderner Steuerung, ein neues Verhältnis von Kultur und Wirtschaftsentwicklung, letztlich eine Neuschaffung von Gemeinschaftlichkeit auf unserem verletzlichen Planeten, wie es Myrsini Zorba und Colin Mercer ausdrücken.
Die Kulturkonvention mit ihren Rechten und Pflichten ist in diesem Sinne ein sehr modernes und politisch zu nutzendes Instrument des internationalen Rechts. Sie ergänzt die Handelsregeln der WTO und setzt Prinzipien. Nicht zuletzt die Vorstellung von einer „public domain“ und das höchst aktuelle Prinzip der Netzneutralität zeigen das.
Ihre Anwendung kompensiert auch das größte Manko des GATS-Abkommens, eines komplexen und filigranen Vertragswerks, das zwar 12 Dienstleistungssektoren und 155 Subsektoren kennt, aber ungeklärt lässt, was genau es regelt: Die Verhandlungspartner haben es versäumt, die Begriffe „Ware“ und „Dienstleistung“ klar zu definieren. Das ist nicht nur rechtstheoretisch von Interesse, sondern politisch brisant. Die Einordnung hat erhebliche Konsequenzen.
Diese Einordnung wird zugleich immer schwieriger. Wertschöpfungsketten, in denen Dienstleistungen als Vorleistung zur Güterproduktion einen immer höheren Anteil haben, ändern sich. Die technische Entwicklung macht es immer schwieriger zu bestimmen, wo der kreative Inhalt endet und der Vertrieb beginnt. Das ist das Einfallstor für politische Umdeutungen. Bibliothekarische Dienste etwa, Online-Informationen und Retrieval von Daten, sind dann nicht mehr Kulturdienstleistungen, sondern werden als Telekommunikation klassifiziert und damit jenem Sektor zugeordnet, der weitgehend liberalisiert worden ist.
Verträge sind einzuhalten
Egal über welche Bande auf internationalem Parkett gespielt wurde, immer ging es um die Beseitigung von kulturellen Handels- und Investitionshemmnissen. Von den GATS-Verhandlungen über das in letzter Minute transparent gewordene Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) bis zu ACTA, das im Shitstorm der Netzgemeinde unterging. Aber vielleicht lernen wir nur in solchen Prozessen, dass Kulturproduktion ganz eigenen Markt- und Verwertungsmechanismen unterliegt. Und was sie für unsere eigene Identität bedeutet.
Die Verhandlungsführer des transatlantischen Freihandelsabkommens sollten ihr Mandat nutzen, das Abkommen lesen und verstehen lernen. „Pacta sunt servanda” – Verträge müssen eingehalten werden. Auch gegenüber den rund 130 Vertragsstaaten weltweit, die dem „UNESCO-Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ beigetreten sind, dem jüngstem Instrument internationalen Rechts zur Gestaltung der Globalisierung.
Dr. Verena Metze-Mangold ist Vizepräsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission. Von 2001 bis 2009 war sie deutsche Vertreterin im Zwischenstaatlichen Rat für das UNESCO-Programm „Information für Alle”. Von 2005 bis 2011 war sie Geschäftsführerin der Filmförderung des Hessischen Rundfunks.
1 Kommentar
1 Gerd W. am 29. Juni, 2013 um 12:41
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