Zugang zum Internet: Ein Grundrecht auch für Geflüchtete
Zuletzt behandelten zwei Kommentare in der Süddeutschen Zeitung und der FAZ das Thema aus unterschiedlicher Sicht. In einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung über Netzabschaltungen in Indien und Pakistan argumentierte der Politologe Ben Wagner, dass Flüchtlinge, die nach Deutschland kämen, ein Recht auf Internetzugang hätten – und dies nicht nur um „nach Hause zu telefonieren“.
Kritiker, so Wagner, würden verkennen, dass „Zugang zum Internet ein zentraler Weg ist, um Teil der deutschen Gesellschaft zu werden. Das Internet bedeutet Zugang zu Bildung, zu Unterhaltung und Kultur, es ist Grundlage für soziale Teilhabe. Zurzeit wird die oft vorhandene räumliche Trennung von Flüchtlingen zur Gesellschaft durch eine weitere digitale Abschottung verstärkt. So kann Integration nicht funktionieren.” Dies veranlasste Jürgen Kaube in der FAZ zu einer sehr kritischen Reaktion: „Wo kämen wir da hin?“, wenn der Staat Flüchtlingen Endgeräte zur Verfügung stellen müsste.
I. Recht auf Internetzugang im Völkerrecht
Ohne Zugang zum Internet und zu Internetinhalten können Menschen nicht am Möglichkeitsraum des Internets teilnehmen. Wer seine Menschenrechte und die Meinungsäußerungsfreiheit auch online ausüben möchte, benötigt Zugang zum Internet, das als technische Einrichtung selbst eine katalysierende Funktion für die Ausübung der Menschenrechte hat. Kurz: Was offline gilt, gilt auch online.
Dies hat auch der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen mehrfach bestätigt, zuletzt in seiner Resolution aus dem Jahr 2014, in der er die Staaten auffordert, „den Zugang zum Internet zu fördern und zu ermöglichen“. Ähnlich ist der Ansatz, den eine Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zum „Recht auf Internetzugang“ verfolgt. Sie ruft dessen Mitgliedstaaten dazu auf, sicherzustellen, dass „jeder das Recht auf Internetzugang haben soll, als wesentliche Bedingung der Ausübung seiner Rechte gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention“.
Inzwischen wird nicht mehr die Kodifizierung eines eigenständigen „Rechts auf Internetzugang“ gefordert. Warum auch: Es lässt sich rechtsdogmatisch sehr gut als Vorbedingung der Ausübung anderer Rechte konstruieren, wie der prägende UN-Bericht des Sonderberichterstatters für das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung von 2011 aufzeigt. Der Zugang zum Internet ist Voraussetzung zur Ausübung der Kommunikationsfreiheiten. Diese wiederum haben eine katalysierende Funktion für alle anderen Rechte.
Kurzum lässt sich mit guten Gründen argumentieren, dass ein Recht auf Internetzugang im Völkerrecht besteht. Artikel 19 Absatz 2 des Zivilpakts kann in diesem Sinne ausgelegt werden. Er schützt die Verbindungstechnologien, indem er Meinungsäußerung durch „Mittel eigener Wahl“ absichert. Der Menschenrechtsausschuss bestätigt in seiner Kommentierung zwar die abwehrrechtliche Dimension des Artikels, zeigt sich aber auch gegenüber einer Leistungsdimension offen. Dem Völkerrecht eigen ist die sachte Ausdrucksweise: „Staaten sollten alle notwendigen Schritte unternehmen, um die Unabhängigkeit dieser neuen Medien zu fördern und den individuellen Zugang zu gewährleisten“ (Absatz 15).
Ein erstes Fazit: Das Völkerrecht schützt den Zugang zum Internet als Menschenrecht. Die abwehrrechtliche Dimension des Zugangs zu Internet-Inhalten wirft wenig elementare Fragen auf. Schwieriger ist es, die positivrechtliche Dimension des Zugangs im Bereich der Infrastruktur auszubuchstabieren. Dennoch kann im Lichte der herausragenden Bedeutung des Internets für die Realisierung aller Menschenrechte der physische Zugang zum Internet nur als völkerrechtlich geschützt gedeutet werden: Ohne Zugang keine Meinungsäußerung bei freier Wahl des Kommunikationsmediums.
II. Internetzugang als verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch
Ein Recht auf Internetzugang ist Vorbedingung der Realisierung aller anderen Menschenrechte über das Internet. Es setzt jedoch zumindest eine grundlegende staatlich garantierte Kommunikationsinfrastruktur voraus. Nationales Verfassungsrecht, Völkerrecht und auch Europarecht spielen hier ineinander.
Im Fall Yıldırım v. Türkei bestätigte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, dass ein Recht auf Internetzugang dem Recht auf Zugang zu Informationen und Kommunikation, das durch nationale Verfassungen geschützt wird, eingeschrieben ist. Darüber hinaus ist ein Recht auf Internetzugang in einigen Staat explizit festgeschrieben oder lässt sich dogmatisch ableiten.
Die völkerrechtlichen und europarechtlichen Verpflichtungen stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen auch Deutschland die Sicherung des Internetzugangs garantieren muss. Das Grundgesetz schützt zwar primär subjektive Rechte, aber diesen sind grundrechtsdogmatisch entwickelte Gewährleistungspflichten eingeschrieben: objektiv-rechtliche Aufträge also, eine Infrastruktur als Vorbedingung zur Ausübung der Kommunikationsrechte zur Verfügung zu stellen. Dem Status der Grundrechte als Abwehrrechte – es besteht ein Recht auf „unbehinderten“ Zugang, wie im Fall Yıldırım – kann also ein Anspruch auf Gewährleistung eines Zugangs zur Seite gestellt werden.
Achten und gewährleisten
Konturen dieser Gewährleistungsgarantie lassen sich aus mehreren Entscheidungen Karlsruhes ableiten. Das Bundesverfassungsgericht hat 2008 geurteilt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme einschließt. Der Fokus lag zunächst auf der Abwehrdimension (status negativus) der Grundrechtswirkung: „Der Einzelne ist darauf angewiesen, dass der Staat die mit Blick auf die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung berechtigten Erwartungen an die Integrität und Vertraulichkeit derartiger Systeme achtet.“
Der Staat muss „achten“, darf also nicht ungerechtfertigt eingreifen: nicht grundlos zensieren, ohne Rechtsgrundlage Daten speichern, Netzsperren vorsehen. Aber im Urteil geht es um mehr – eben um die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Der Einzelne ist zu seiner Persönlichkeitsentfaltung angewiesen auf die Nutzung informationstechnischer Systeme und hat ein Grundrecht auf Gewährleistung ihrer Integrität und Vertraulichkeit gegenüber staatlichen Eingriffsermächtigungen.
Das muss der Staat gewährleisten. Entsprechende Gesetze müssen unter anderem den Geboten der Normenklarheit und Normenbestimmtheit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Diese Gewährleistung muss lückenlos sein. Daher entwickelte das Verfassungsgericht auch das ‚neue‘ Grundrecht: „Einer solchen lückenschließenden Gewährleistung bedarf es insbesondere, um neuartigen Gefährdungen zu begegnen, zu denen es im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und gewandelter Lebensverhältnisse kommen kann“.
Jeden Tag ins Internet
Mit der Technologie muss sich auch die Interpretation von Normen wandeln. Wie schon das Verfassungsgericht 2008 mit leicht anderer Terminologie hat auch der Bundesgerichtshof 2013 bestätigt, wie wichtig das Internet zur Lebensgestaltung ist: Der „überwiegende Teil der Einwohner Deutschlands“ bediene sich täglich des Internets. Das Internet ist ein für die Lebensgestaltung prägendes Medium, dessen „Ausfall sich signifikant im Alltag bemerkbar macht“. Wer umzieht und Probleme mit dem neuen Internetanschluss hat (oder im ICE seine E-Mails checken will), wird das bestätigen können.
Doch hat das Faktische normative Kraft? Ein Recht auf Zugang lässt sich in der Tag dogmatisch als objektiv-rechtliche Grundrechtswirkung konstruieren:
- als eigenständiges Recht umfasst vom Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das sich aus dem Schutzgebot der Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz) und dem Sozialstaatsgebot (Artikel 20 GG) ergibt,
- aber auch als rechtlich geschützte Vorbedingung der Ausübung anderer Rechte.
Angesichts der zentralen Rolle, die das Internet heute einnimmt, entspricht diese Grundrechtswirkung einer positiven Leistungspflicht des Staates: eines unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsanspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das Existenzminimum, so das Bundesverfassungsgericht im Hartz-IV-Urteil, umfasst die „Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Daraus folgt ein konkreter Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber einem Leistungsträger.
Das Recht muss mit der Zeit gehen. Es liege am Gesetzgeber, so die Karlsruher Richter im Hartz-IV–Urteil, die „jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten“ zu beachten und „die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher darstellt“. Erst 2014 führte Karlsruhe dann erneut aus, dass das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum der „Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber“ bedarf. Diese müsse ausgerichtet sein „an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf die konkreten Bedarfe der Betroffenen“. Und wer könnte leugnen, dass die Kommunikationsbedarfe unter den Bedingungen der Informationsgesellschaft nur mittels des Internets erfüllt werden können?
III. Internetzugang als Menschenrecht, das auch Geflüchteten zukommt
Den im Hartz IV-Urteil gewählten Ansatz bestätigte das Verfassungsgericht ganz konkret in Hinblick auf Leistungen für Asylbewerber 2012 in einer Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz: Auch Asylbewerber haben ein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, das Artikel 1 Absatz 1 GG „als Menschenrecht“ (zweiter Leitsatz) begründet. Mit identischen Worten bestätigte Karlsruhe, dass das Existenzminimum die „Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“ umfasse, und zu einem „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ befähigen müsse, denn „der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen“ – der Mensch, nicht nur der Staatsbürger.
Wiederum bestätigt das Bundesverfassungsgericht, dass dieser objektiven Verpflichtung aus Artikel 1 Absatz 1 GG ein individueller unmittelbarer verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch entspricht, der – wieder – von den „jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten“ abhänge.
Jeder Mensch ist ein soziales Wesen
Der oben zitierte FAZ-Beitrag merkt sorgenvoll an, dass die Anerkennung eines Rechts auf Internet bedeuten würde, dass nun „aus dem Grundrechtekatalog staatliche Pflichtlieferungen abzuleiten“ seien und die „technische Gewährleistung von Sozialität“ Staatsaufgabe gemacht würde.
Ja, solche Lieferungen – Gerichte sprechen von „Leistungsansprüchen“ – sind dem Grundgesetz zu entnehmen: Individuell, unmittelbar, verfassungsrechtlich. Und nein, das Bundesverfassungsgericht etabliert hier keine staatliche Sozialisierungspflicht. Der Internetzugang wird vielmehr gesichert, damit jeder – ob Deutscher oder nicht – sich durch Nutzung des Internets in Bezug setzen kann zu anderen und um vermittels dieser Bezüge zu sich selbst (und sich selbst) zu finden. Wir sind alle „Existenzbastler“. Nur mittels Internetzugang kann jeder seine Grund- und Menschenrechte zu den Bedingungen der digitalen Welt realisieren.
Zum Mitschreiben, die Urteile zu Hartz IV und zum Asylbewerberleistungsgesetz paraphrasierend:
- Völkerrecht und Europarecht stellen den Rahmen, in dem das Grundgesetz auszulegen ist.
- Es besteht ein unmittelbar verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
- Der objektiven Verpflichtung des Staates auf dessen Gewährleistung aus dem Schutzgebot der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers als individuelles Recht.
- Der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen. Daher muss ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gesichert werden.
- Der Inhalt der Leistungsansprüche reflektiert den technischen Wandel. Das Mindestmaß an Teilhabe ist daher nur mittels Internetzugang realisierbar.
- Das alles gilt für deutsche wie ausländische Staatsbürger im gleichen Maße. Das Grundrecht auf Internetzugang ist ein Menschenrecht auf Internetzugang.
Kein iPhone für alle
Das bedeutet natürlich nicht, dass Hartz-IV-Anspruchsberechtigte und Geflüchtete ein Recht auf ein Smartphone haben. Der Gesetzgeber hat Gestaltungsspielraum. Ein Anspruch auf ein spezifisches Endgerät oder einen spezifischen Zugangsmodus lässt sich nicht begründen. Angesichts des technischen Wandels wäre dies auch zu statisch. Zugang indes ist heute zunehmend mobil – und das muss langfristig auch die faktische Umsetzung der Gewährleistungspflichten eines „Mindestmaßes an Teilhabe“ am sozialen Leben reflektieren, gerade wenn Geflüchteten Sachleistungen statt Geldleistungen gewährt werden.
Kein iPhone also; aber alle – auch Geflüchtete – haben Ansprüche auf eine kommunikative Grundversorgung, ein Recht auf Internet – durchaus auch, wie Ben Wagner gezeigt hat, aus Eigeninteresse. Wer kommunizieren kann, integriert sich leichter. Das haben auch deutsche Unternehmen – wie die Deutsche Telekom – erkannt, die Flüchtlingen Gebäude und Internetzugang zur Verfügung gestellt haben. Auch einzelne Länder zeigen, wie es gehen könnte: Baden-Württemberg stellt kostenfreies WLAN in Unterkünften zur Verfügung.
„Wo kämen wir da hin?“ fragte Jürgen Kaube hinsichtlich eines Menschenrechts auf Internet. Lieber Herr Kaube, dank Karlsruhe sind wir schon da.
Der Beitrag beruht auf einem Gutachten des Verfassers zum „Völkerrecht des Netzes“ für die Friedrich-Ebert-Stiftung, das auf dem Kongress #DigiKon15 in Berlin am 25.11.2015 vorgestellt wird. Eine Langfassung des Beitrags ist in drei Teilen im Völkerrechtsblog erschienen. Englischsprachige Rechtsquellen wurden in diesem Beitrag übersetzt.
1 Kommentar
1 Christoph Jaeger am 19. März, 2017 um 19:57
Hallo Leute!Ich muss Ihnen diesbezüglich was Internet auch für Flüchtlinge angeht etwas dazu schreiben. Ich bin Hartz IV Empfänger und habe beim hiesigen Jobcenter einen Antrag auf Kostenübernahme für ein Internet Anschluss beantragt. Dieser wurde mir von Seitens des Jobcenter verweigert mit den Worten ich könne auch Öffentliche Institutionen aufsuchen und dort das Internet nutzen.Nun habe ich ein Gerichtsurteil des BGH von 2013 gefunden wo geschrieben steht das dass Internet zu den Grundbedürfnissen eines Menschen gilt. Also nicht nur für Flüchtlinge sondern auch Hartz IV Empfänger sollten in den Genuß kommen. Ich bin mal gespannt was dabei herauskommt wenn ich dem Jobcenter das mitteile.
Was sagen Sie dazu?