Im Zeitalter des Geheimen kennt Sammelwut keine Grenzen mehr

Foto: Libertas Academica CC-BY 2.0
In Lateinamerika ist die Argentinierin Pola Oloixarac seit einigen Jahren eine vieldiskutierte Schriftstellerin. Ihr Debütroman „Las teorías salvajes“ (übersetzt etwa: „wilde Theorien“) sorgte 2008 für einigen Wirbel, weil er sich kritisch mit dem Macho-Gehabe linker Intellektueller an argentinischen Universitäten auseinandersetzte.
Oloixaracs jüngster Roman „Kryptozän“ spielt ebenfalls im wissenschaftlichen Milieu, aber auch in der südamerikanischen Hackerszene. Im spanischen Original heißt das Buch „Las constelaciones oscuras“, was wörtlich übersetzt etwa so viel wie „verborgene Konstellationen“ bedeutet.
Und auch diesmal scheint Oloixarac den Nerv einer aktuellen Debatte getroffen zu haben. In ihrer Science-Fiction-Erzählung beschreibt sie, wie mächtig Überwachungstechnologien zukünftig werden können, wenn man sie mit den Datenpools genetischer Informationen kombiniert.
Das Zeitalter des Geheimen
Für die deutsche Übersetzung des Titels entschied man sich für das Kunstwort „Kryptozän“. Das heißt so viel wie „Zeitalter des Geheimen“. Es ist ein gut gewählter Titel, der offenkundig auf Edward Snowdens Enthüllungen der umfangreichen Spähaktivitäten des NSA anspielt. „Kryptozän“ signalisiert aber auch: Es beginnt etwas Neues, Großes – ein neues Zeitalter bricht an.
Auf nicht einmal 200 Seiten nähert sich Oloixarac den Umrissen dieses Kryptozäns. Dazu wählt sie drei Charaktere, die jeweils in unterschiedlichen zeitlichen Epochen leben: Der Biologe Niklas Bruun, der im Jahr 1882 bei einer Forschungsexpedition eine unglaubliche Erfahrung im Naturreich macht. Der Computerfreak Cassio, der in den 1990er Jahren zum Star der lateinamerikanischen Hackerszene aufsteigt. Und die Biologin Piera, die zusammen mit Cassio im Jahr 2024 bei einem umfassenden Projekt zur Zusammenführung von digitalen und genetischen Daten beteiligt ist.
Alle drei sind erfolgreiche und begabte Genies in ihren Bereichen, aber auch sozial isoliert und innerlich vereinsamt. Gemeinsam ist den drei Protagonisten zudem, dass sie angetrieben sind von dem Wunsch, durch die Anhäufung und Analyse von riesigen Datenbergen die Welt zu verändern. Sie wollen verborgene Strukturen entdecken, Natur und Gesellschaft sämtliche Geheimnisse entreißen. Und sie sind dafür bereit, Grenzen zu überschreiten.
Bei Niklas Bruun, dem Biologen am Ende des 19. Jahrhunderts, äußert sich der Wunsch noch in dem vermeintlich harmlosen Interesse, fremde Pflanzen- und Tierreiche möglichst exakt zu zeichnen und wissenschaftlich zu erfassen. Doch auch er phantasiert bereits über eine Welt, in der naturwissenschaftliche Daten so umfangreich vorliegen und analysiert werden können, dass damit weitreichende Rückschlüsse möglich sind.
Projekt „Stromatolithon“ – mit fatalen Folgen
Mehr als hundert Jahre nach Niklas Bruun arbeiten Cassio und Piera intensiv an der Umsetzung dieser Phantasie. Cassio ist wegen seiner außerordentlichen Begabung, Computerviren zu programmieren und Sicherheitssysteme großer Firmen zu hacken, zu einer einflussreichen Figur in der digitalen Welt geworden, zu einer „Eminenz des Untergrunds“. Im Jahr 2024 tut er sich dann mit der Biologin Piera zusammen, um besonders leistungsfähige Überwachungstechnologien zu entwickeln.
Im Auftrag des Projekts „Stromatolithon“ sollen der Hacker und die Biologin mithelfen, den kompletten DNA-Pool Lateinamerikas zu digitalisieren und für die algorithmische Analyse aufzubereiten. Datenschutzrechtliche Bedenken spielen in der von Oloixarac skizzierten Gesellschaft nahezu keine Rolle mehr. Im Gegenteil: Das Projekt dient sogar zur Abschottung Argentiniens und Lateinamerikas gegenüber denjenigen Ländern, in denen Spähaktivitäten und Sammelwut der Geheimdienste zu umfangreich geworden sind. Es ist eine der vielen ironischen Pointen, die Oloixarac in ihrem Roman anbringt.
Plötzlich müssen Cassio und Piera mit gewaltigen Mengen biometrischer und genetischer Informationen hantieren. In den falschen Händen geraten die Algorithmen jedoch schnell zu mächtigen Waffen. Oloixarac zeigt auf diese Weise eindrücklich: Was als naturwissenschaftliches Interesse bei Niklas Bruun begann, nämlich die Rätsel der Natur zu dechiffrieren, wuchs zu einem gesellschaftlichen Komplex zur Vernichtung aller Geheimnisse an – mit fatalen Folgen für Datenschutz, Öffentlichkeit und Bevölkerung.
Biologie und Technologie verschmelzen
Ohne sich direkt auf Edward Snowden zu beziehen, entwirft Oloixarac entlang der Leben ihrer drei Antihelden eine düstere Dystopie in der „Post-Snowden“-Ära. Jede ihrer drei Figuren steht dabei für eine bestimmte Phase des Kryptozäns, in der blindwütiges sammeln und analysieren gigantischer Datenmengen entsprechend fortgeschritten sind.
Technologie und Biologie lässt Oloixarac geschickt miteinander verschmelzen. Dies zeigt sich in der irren Geschichte, aber auch in der hybriden Sprache der Autorin selbst: Oloixarac arbeitet gerne und ausgiebig mit biologischen Vergleichen und Metaphern, die sie mit technischen und wissenschaftlichen Ausdrücken vermischt.
„Kryptozän“ ist ein wilder Ritt durch eine fiktionale Zukunft, in der das genetische Material ganzer Bevölkerungen überwacht, reguliert und bearbeitet werden kann. Es ist eine Zukunft, in der auch die Erschaffung einer neuartigen Spezies erreichbar erscheint.
Anspruchsvoller Science Fiction mit enormem Tempo
In ihrer anspruchsvollen Science Fiction nimmt Oloixarac häufig Bezug zur Popkultur und warnt subtil vor der gesellschaftlichen Vernichtung alles Geheimen. Ihr sprachgewaltiger Roman ist eine äußerst anregende, zwischendurch auch humorvolle und in ihren expliziten Darstellungen recht drastische Lektüre.
Oloixarac setzt bei ihrer Leserschaft einiges an Wissen und Durchhaltevermögen voraus. Die komplexen Zusammenhänge aus Genetik und Kryptografie, Politik und Wissenschaft schildert die Argentinierin in einem enormen Tempo. Mit erzählerischen Schnörkeln hält sie sich gar nicht lang auf. Wer diesem Tempo trotzdem folgt, wird mit einem fesselnden Leseerlebnis und einigen Impulsen zum Weiterdenken belohnt.
Pola Oloixarac, Kryptozän, aus dem argentinischen Spanisch übersetzt von Timo Berger, 192 S., Wagenbach Verlag, 20,00 EUR (Broschur) / 17,99 EUR (E-Book).
Was sagen Sie dazu?