Exilsammlungen der Nationalbibliothek gehen offline: „Ein herber Verlust”
Screenshot: dnb.de
Wer die New Yorker Wochenzeitung „Aufbau” vom 3. Mai 1940 durchblättert, bekommt schon an den Überschriften einen Einblick in die Lebensumstände der exilierten deutschen Juden, den kaum eine andere Quelle bietet: „Pessachtage in der Maginotlinie”, „Rothschild-Bank aufgelöst”, „Palästina-Einwanderung”. Prominente Autoren wie Hannah Arendt, Martin Buber oder Carl Zuckmayer schrieben darin; die Leser schauten vielleicht eher auf die Geburts-, Heirats- und Todesanzeigen. Dazwischen stößt man auf Reklame für Schiffskarten und Auswanderungsberatung, Hinweise auf Stellenvermittlungen und englisches Vokabeltraining.
Für den „Aufbau” und andere deutsch-jüdische Periodika während der NS-Herrschaft gab es bis vor kurzem eine wichtige Anlaufstelle: Die digitalen Exilsammlungen aus dem Bestand der Deutschen Nationalbibliothek. Seit 1997 liefen Zeitschriften und Zeitungen dort über die Scanner und wurden als Faksimiles veröffentlicht – im Fachjargon: „retrodigitalisiert”. Ausgewählt wurden knapp 30 Publikationen wie zum Beispiel auch „Das Andere Deutschland”, das Pariser Tageblatt oder der Shanghai Jewish Chronicle.
Später kamen jüdische Druckerzeugnisse aus NS-Deutschland dazu, Medien der Selbsthilfe wie die Informationsblätter des Zentralausschusses der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau oder die Monatsblätter des Jüdischen Kulturbunds. Ein Vorzeigeprojekt für offen zugängliche, digitale Archive, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Doch seit Ende Juni führen die Verweise in den Bibliothekskatalogen ins Leere. Die digitalen Sammlungen könnten „aus rechtlichen Gründen nicht bereitgestellt werden”, heißt es auf der Website der Nationalbibliothek. Wer zu den Quellen will, muss nun wieder den Weg an die Archivstandorte antreten. Dabei ist das Material verstreut, schlecht erhalten, schwer zugänglich – eben das war ja ein Grund, es digital bereitzustellen.
Wer ist Rechteinhaber?
„Wir als Nationalbibliothek haben ein großes Interesse daran, unsere Bestände auch verfügbar zu machen”, sagt Exilarchiv-Leiterin Sylvia Asmus. Das große Aber: Die DNB sei inzwischen zu einer neuen Einschätzung gekommen, ob man die Sammlungen auch tatsächlich im Netz anbieten darf. Dahinter stehen Fragen wie: Reicht eine Genehmigung der Herausgeber, um sie neu zu veröffentlichen? Ein zusätzlicher Hinweis an etwaige Rechteinhaber, sich gegebenenfalls zu melden? So sei man bisher verfahren.
Wie immer bleibt auch im Urheberrecht vieles Auslegungsfrage. Aber am Grundsatz lässt sich schlecht deuteln: Wer Rechte hält, muss gefragt werden, wenn sein Werk verwendet wird – und es keine sonstigen Ausnahmen gibt. „Der Nutzungsrechtsinhaber ist in aller Regel der Urheber – und gerade nicht der Verlag der Printpublikation” sagt der Medienrechtler Jörn Heckmann. Allein für die Texte müssten also in jedem Einzelfall Genehmigungen eingeholt werden. Doch dazu müsste man erst einmal wissen, bei wem die Rechte inzwischen liegen.
„Das ist eine Detektivarbeit”, weiß Heckmann, der an solchen Klärungen schon bei einer religionswissenschaftlichen Enzyklopädie mitgewirkt hat. Da muss man zum Beispiel einen markanten Autorennamen heraussuchen, sich ans Telefonbuch setzen und alle heraussuchen und anrufen, die ihn kennen könnten. Im günstigen Fall lassen sich mit solchen Methoden vielleicht die Hälfte der Rechte klären. „Sehr frustrierend” nennt das Heckmann.
Rechteklärung: „faktisch nicht möglich”
Man kann sich auch leicht vorstellen, dass eine Exilsammlung nicht zu den günstigen Fällen gehört. „Urheber aus dem Bereich der deutschen Emigration 1933-45 sind heute kaum noch zu ermitteln”, sagt Sylvia Asmus. Dennoch werde man eine Klärung „jetzt verstärkt angehen”. Doch lückenlose Klarheit wird man wohl kaum erreichen können. Die ist bei komplexen Sammlungen wie Zeitschriftenarchiven „faktisch nicht möglich”, so Jörn Heckmann.
Für digitale Sammlungen ist die Lage unübersichtlich – vor allem, wenn es um ältere Werke geht. Selbst wenn für alle Artikel aus den Zeitschriften und Zeitungen der Exilpresse Verträge vorliegen würden: Eine Nutzung im Internet konnte niemand vorausahnen, so wurde sie darin natürlich auch nicht eigens geregelt. Urheberrechtler beschäftigen sich daher mit der Frage: Umfassen Verträge, in denen die Autoren alle Rechte abgetreten haben, auch die Online-Nutzung? Um die Antwort zu vereinfachen, wurde schon 2008 eine Sonderregel ins Gesetz eingeführt, die als Mittel zur „Hebung von Archivschätzen” diskutiert wurde – doch sie gilt nur bei Werken ab 1966. Ihre Konstruktion sorgte für viel Diskussionsstoff, aber für ältere Sammlungen änderte sich ohnehin nichts.
Wichtige Nutzungen fallen weg
So bleiben Exilpresse und die Periodika-Sammlung bis auf weiteres offline. Forscher und Mitarbeiter von Museen und Bibliotheken sind verärgert. „Das war ein tolles Portal”, sagt Annette Haller, Geschäftsführerin der Kölner Bibliothek Germania Judaica. Für die Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte bedeute es „einen herben Verlust”. Sie ist vor allem verwundert, dass die Seite mehr oder weniger sang- und klanglos abgeschaltet wurde, obwohl es über Jahre keine Probleme gab. Färbt die Entscheidung nun auf weitere Angebote ab? Für das von ihrer Bibliothek mitbetreute Internetarchiv Compact Memory – auch dort finden sich Periodika der Zeit – sieht sie keine unmittelbaren Folgen. Falls aber weitere Sammlungen vom Netz genommen würden, wäre das „sehr bedauerlich”.
Andere Nutzungen sind nun ebenfalls nicht mehr möglich. Die Else-Lasker-Schüler-Stiftung zum Beispiel hat mit dem Projekt „Schulen ans Netz” Unterrichtsmaterial entworfen: Schüler sollen sich die Situation der Exilierten erschließen, indem sie sich in ihre Veröffentlichungen einarbeiten. In den Hinweisen zur Unterrichtseinheit heißt es: „Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler auf das digitale Online-Archiv der Exilpresse zugreifen” – Auch das geht nun nicht mehr.
Wer sich mit Mitarbeitern von Archiven und Bibliotheken unterhält, hört seit Jahren eine Klage: Die Einrichtungen sollen das kulturelle Erbe bewahren und zugänglich machen und sie finden im Internet neue Möglichkeiten – nur nutzen dürfen sie diese regelmäßig nicht. Die Ausnahmen für Bildung und Wissenschaft enden schnell, wenn eine Veröffentlichung im Netz erwogen wird. Auch die Regelungen für Kopien in Archiven dienen vor allem dazu, die Nutzung innerhalbvon Archiven zu ermöglichen – eine gesetzliche Grundlage für die Online-Nutzung gibt es nicht. Leichter haben es nur Sammlungen, an deren Inhalten alle Rechte abgelaufen sind – die Exilsammlung müsste dafür Jahrzehnte warten.
Archive im Abseits
Neue Regelungen für „verwaiste Werke” – deren Rechteinhaber unbekannt oder nach einer Suche nicht mehr auszumachen sind – werden zwar in Fachwelt und Politik diskutiert. Doch auf eine Umsetzung warten die Einrichtungen schon lange. Gesetzentwürfe und Anträge dazu gab es bereits von der SPD, den Grünen und der Linkspartei. Die Bundesregierung hat zwar immer mal wieder erklärt, am Dritten Korb der Urheberrechtsreform zu arbeiten, ob daraus noch etwas wird, bleibt aber unwahrscheinlich. Und ob die geplanten Regelungen für Projekte wie die Exilsammlungen Rechtssicherheit bringen, hängt auch von ihrer konkreten Ausgestaltung ab: Ein Knackpunkt ist, wie die vorgesehene „sorgfältige Suche” nach Rechteinhabern gestaltet sein wird. Die Bibliotheken etwa könnten „nicht für jedes Buch und jede Schallplatte ein Detektivbüro engagieren”, erklärte der Bibliotheksverband schon 2010 zum Gesetzentwurf der SPD, den er sonst grundsätzlich begrüßte.
Inzwischen ist das Vorhaben ohnehin auf die europäische Ebene gewandert. Ein Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission über verwaiste Werke wird gerade verhandelt, die Lesung im Parlament ist für den Herbst angekündigt. Die Ansprüche auf Schadensersatz bei unkommmerziellen Nutzungen sollen dem aktuellen Kompromissvorschlag nach zwar begrenzt sein, doch auch das berge ein unzumutbares Risiko, kritisiert die Bibliotheksallianz „Information sans Frontierès” in einer Stellungnahme.
So finden sich Bibliotheken und andere Gedächtniseinrichtungen weiter in einem Dilemma: Sie brauchen nicht nur Mut zur Grauzone, für ihre Vorhaben kämen sie manchmal gar nicht umhin, sie zu überschreiten. Es bleibt ein Risiko, das öffentliche Einrichtungen kaum eingehen wollen. Die Abschaltung der digitalen Archive wirft damit auch ein neues Licht auf die jüngste Urheberrechtsdebatte: Was in den letzte Wochen und Monaten diskutiert wurde, folgte dem Muster: Ein Mehr für die Einen ist ein Weniger für die Anderen: Urheber gewinnt – Nutzer verliert, und so weiter. Archive, Bibliotheken und andere Einrichtungen stehen dabei bislang am Rande, ihre Verunsicherung wächst. Obwohl von ihrer Arbeit eigentlich alle profitieren könnten.
Dies ist die erweiterte Fassung eines Artikels, der diese Woche in der Jüdischen Allgemeinen erscheint.
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