Über den Kick beim Rebloggen
Es scheint paradox zu sein: Auf der einen Seite betrachtet die Gesellschaft die Kreativität – also das Vermögen, Neues zu schaffen – als eine Eigenschaft, die grundsätzlich jedem Menschen zukommen soll und kann. Mehr noch: Von kaum einer Branche werden derzeit so große Wachstumsraten erwartet und erreicht wie von der Kreativwirtschaft.
Auf der anderen Seite blühen in allen Sparten der Kultur Spielarten des Kopierens, Remixens, Variierens und Wiederholens. Mehr noch: Die Urheber- und Verwertungsrechte, die für die Kreativwirtschaft eine wichtige Rolle spielen, befinden sich in der schwersten Legitimationskrise ihrer Geschichte.
Nie war die Vielfalt künstlerischen Ausdrucks und Schaffens so groß wie heute. Und das bedeutet auch, dass die Menschen heute viel mehr durch Künstler zu eigenen kreativen Leistungen inspiriert werden als in früheren Zeiten. Aber genau das führt – auf der anderen Seite – zu einem Zuviel an Kreativität.
Die knappe Aufmerksamkeit des Rezipienten
Es gibt so viele Ausstellungen, werden so viele Bücher gedruckt, finden so viele Events statt, werden so viele Musikstücke eingespielt und so viele Blogbeiträge verfasst, dass selbst jemand, der sich in klassischem Sinne als Rezipient begreift, keine Chance mehr hat, auch nur in einem Bereich halbwegs nachzukommen.
Vielmehr ist Rezipientenaufmerksamkeit, gemessen an der Produktivität der Kreativen, eine höchst knappe Ressource. Das gesamte Kultursystem ist, wie die Autoren des 2012 publizierten Buchs „Der Kulturinfarkt“ diagnostizieren, „einseitig auf Produktion fixiert“ und steht daher, so die drastische These, vor dem Kollaps, der nur durch massive Einschnitte in der Kulturförderung zu vermeiden sei.
Kunsttheoretiker Bazon Brock schlug angesichts des relativen Nachfragemangels sogar vor, nicht länger die Kreativen, sondern das Publikum zu entlohnen, das die kostbare Rezeptionsarbeit leistet. Zugespitzt und weitergedacht würde das „honorierte Zuhören“ bedeuten: Statt eines Urheberrechts, das die Ansprüche der Kreativen sichert, bräuchte es ein Rezipientenrecht, das die Leistungen derer, die sich auf Artefakte anderer einlassen, unter Schutz stellt.
Die hartnäckigen und engagierten Debatten über das Urheberrecht sind nicht zuletzt Folge davon, dass Werke allein aufgrund ihrer unübersehbaren Anzahl an Wertschätzung einzubüßen drohen. Vielleicht wird der traditionell schöpferisch Tätige, der nicht auf den Rezipientenmangel reagiert und weiterhin unbeirrt dicke Romane schreibt, verschlüsselte Bilder malt, CDs produziert, Theaterstück um Theaterstück aufführt, bald sogar altmodisch erscheinen.
Könnte es nicht als sozial rückständig und selbstverliebt wahrgenommen werden, wenn jemand nicht über herkömmliche Werkformen hinauszudenken vermag? Und ist das unbedingte Originellseinwollen dann nicht auch eine etwas peinliche Art und Weise der Selbstbehauptung?
Wer die Zeichen der Zeit erkannt hat, setzt also auf offenere Formen, um seinerseits anregend und stimulierend auf andere wirken zu können. Und statt Rezipienten zur Last zu fallen und sich als eitel oder rücksichtslos kritisieren lassen zu müssen, nützt man die eigenen kreativen Energien lieber dazu, anderen gezielt eine Freude zu machen.
Gerade die „neuen Medien“ und sozialen Netzwerke bieten hierfür viele Möglichkeiten. In ihnen werden Bilder, literarische Texte oder Musikstücke zu Spielarten der Kommunikation, in ihnen fallen Produktion, Präsentation und Distribution von Kunst zusammen, sodass es auch zur Option geworden ist, „dass ein Künstler kein finales Produkt, kein Kunstwerk mehr produzieren muss“, wie Boris Groys hervorhebt. Vielmehr steht alles jederzeit zur Disposition und lässt sich je nach Anlass, Kontext, Adressat und Interesse variieren.
Werkstolz wird Netzwerkstolz
Exemplarisch hat der britische Maler David Hockney in den letzten Jahren vorgemacht, was es heißen kann, als Künstler nicht nur Werke mit dem Anspruch auf Originalität und Dauer zu schaffen, sondern sich genauso darauf zu verlegen, die eigene produktive Kraft für musenartige Geschenke an andere Menschen fruchtbar zu machen. So hat er zuerst auf dem iPhone, dann auf dem iPad zu zeichnen begonnen, um die so entstandenen Bilder an Freunde zu verschicken.
Wer ein solches Bild, dessen Charakter skizzenhaft ist und den Entstehungsprozess nicht verbirgt, zugesendet bekommt, erlebt das Glück der Teilhabe, fühlt sich persönlich angesprochen und inspiriert. Hockney selbst beschreibt diesen Akt so: „Ich zeichne täglich Blumen und schicke sie an Freunde, damit sie jeden Morgen frische Blumen bekommen. Und meine Blumen halten sich. Ich zeichne sie nicht nur in ein Skizzenbuch, sondern ich kann sie an fünfzehn oder zwanzig Leute verschicken, die sie alle gleichzeitig erhalten. Und beim Aufwachen sagen sie: ‚Schauen wir mal, was uns David geschickt hat‘.“
An die Stelle künstlerischen Werkstolzes tritt hier etwas, das man als Netzwerkstolz bezeichnen könnte: Der Künstler will mit dem, was er tut, nicht länger die Kunst revolutionieren, sondern seine Begabung dazu nutzen, in engere Verbindung zu anderen Menschen zu treten. Ihnen vermittelt er das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die von ihm zu neuen Wahrnehmungen gebracht und mit zusätzlichen Anregungen versorgt wird. Digitale Kommunikationstechnik ermöglicht Hockney also Musenküsse von ungeahnter Wirksamkeit.
Das Meisterwerk verblasst
Haben die Kreativitätsimperative mit der Konsequenz sowohl eines Zuviel als auch eines Zuwenig an Kreativität letztlich zu einer Werkdämmerung geführt, so wurden damit zugleich Werte wie „Autonomie“ und „Originalität“ geschwächt, die mit dem Werkbegriff fest verknüpft waren. Von zwei Seiten – den Produzenten wie den Rezipienten – ist die Vorstellung, eine schöpferische Leistung müsse in einem Werk, bestenfalls einem originellen Meisterwerk kumulieren, blass geworden. Es gibt auf einmal Alternativen dazu.
Im Folgenden sei gezeigt, wie Spielarten des Kopierens – gerade in der digitalen Welt – häufig Ausdruck und Folge davon sind, dass sich jemand inspiriert fühlt und die eigene Kreativität zumindest als Möglichkeit erfährt. Im Kopieren – so die These – wird das Inspiriertsein sichtbar und real, in ihm bewährt sich eine Atmosphäre der Kreativität. So wird ein Musenkuss entweder in eine Gestaltung übersetzt, die seinen Charakter bewahrt, oder er wird unmittelbar und unverändert weitergegeben, um das selbst erfahrene Glück teilen und so noch bewusster erleben zu können.
Im Fall der digitalen Bilder Hockneys bedeutet das, dass es einerseits Menschen gibt, die angeregt von der Technik, Faktur und Motivik damit beginnen, selbst ähnliche Bilder auf einem iPhone oder iPad anzufertigen. Es wurden bereits eigene Apps und Kursangebote entwickelt, mit denen sich Bilder im Hockney-Stil herstellen lassen. Andererseits teilen Menschen anderen das Gefühl von Überraschung, Teilhabe und Evidenz, das beim Empfang eines Hockney-Bildes aufkommt, dadurch mit, dass sie ihnen dasselbe Bild weiterleiten, es also digital kopieren.
Jeremy Sutton, Inspired by Hockney
Führt ein intensiver Moment häufig zu einem Gefühlsausbruch, in dem die erfahrene Inspiration noch nicht neu gestaltet, sondern erst einmal nur spontan-beglückt mitgeteilt wird, so begünstigen die Features von Smartphones oder den Plattformen der sozialen Medien solche Gesten sofortiger Äußerung. Das Reposten, Rebloggen und Retweeten – dies alles Formen des Kopierens – dient oft dazu, andere an etwas teilhaben zu lassen, das in diesem Moment als stark, überwältigend und besonders emotional erlebt wird.
So finden sich Hockneys digitale Bilder auf vielen Websites und Blogs der sozialen Medien wieder, werden dort weiter und weiter verbreitet, landen durch vielfältiges Rebloggen in unterschiedlichen Zusammenhängen, werden dort wieder von anderen entdeckt, die sich ihrerseits stimuliert fühlen und dies ausdrücken, indem sie schnell den Reblog-Button klicken und das Bild auf ihrem eigenen Blog reproduzieren.
Spuren der Inspirationserlebnisse
Weitergeben und Sich-Aneignen von Bildern – beides Akte des Kopierens – erfolgen also aus demselben Impuls: dem emotionalen Kick, den es darstellt, wenn man sich plötzlich inspiriert fühlt und die Lust verspürt, die in diesem Augenblick als stark empfundene eigene Kreativität auszuleben. Dasselbe passiert mit Bildern aller Art, die ihrerseits das Gefühl auslösen, es sei mehr und noch ganz anderes als gewohnt möglich. Auf mittlerweile Millionen von Accounts und Blogs der sozialen Medien – bei Facebook, Tumblr oder Pinterest – werden fortwährend Bilder und anderes weitergepostet und rebloggt.
Für viele ist es in den letzten Jahren zu einer selbstverständlichen Beschäftigung geworden, alltäglich Blogs zu durchforsten, immer auf der Suche nach Bildern oder auch kurzen Videos, Zitaten und Wortspielen, von denen sie sich anregen und in eine Stimmung der Kreativität versetzen lassen. Kunst und Künstler sind dadurch inzwischen auch bloß noch ein marginaler Faktor der Inspiration. Gemessen an Quantität und Qualität von Blogs, die allein dank der Infinite-Scroll-Funktion Unerschöpflichkeit suggerieren, ist ihnen höchstens eine Nebenrolle geblieben.
Die Reblogs, die man auf seinem Blog sammelt, sind Spuren der eigenen Inspirationserlebnisse. Tatsächlich gibt es zahlreiche Blogger, die sogar niemals eigene Bilder oder Dokumente hochladen, sondern sich ganz – manchmal mehrere Stunden täglich – dem Rebloggen hingeben, dabei aber mit dem, was sie – mehr oder weniger sorgfältig und gezielt – aneinanderreihen, wieder inspirierend auf andere wirken. Man steckt sich wechselseitig an, entsprechend oft und schnell zirkulieren als anregend empfundene Bilder. Sie versetzen eine offene Community in einen Flow-Zustand, das Rebloggen wird zu einer – für viele zur mit Abstand besten – Kreativitätstechnik.
Fragt man die Betreiber solcher Blogs danach, welche Rolle die Praxis des Rebloggens für sie spielt, taucht in den Antworten tatsächlich keine andere Vokabel so häufig auf wie „inspirierend“. Im Folgenden Zitate einer Umfrage, die vom Autor im Januar 2015 bei Usern von Tumblr durchgeführt wurde: Es gehe darum, auf dem Blog Bilder zu versammeln, von denen man besonders angeregt werde („It’s a place for me to gather images I like and am inspired by“ – minorgods.tumblr.com), das eigene Blog sei als „eine Art Wunderkammer“, die „sehr viel inspirativen Input“ bietet (herrensauna.tumblr.com), oder als eine Pinwand zu sehen, auf der man teile, was einen inspiriere („like a pinboard where I share inspirations“ – hldky.tumblr.com).
Manche sagen von sich, Bilderblogs nur anzuschauen, wenn sie Langeweile hätten und eine Anregung bräuchten („I only get on tumblr when I’m bored or when I want Inspiration“ – mexiranger.tumblr.com), manchmal fallen die Antworten auch markanter aus. Dann ist davon die Rede, das Rebloggen sei eine „freundliche Droge“ („a gentle drug“), die „entspannend“ („soothing“) wirke und „Druck“ („pression“) nehme wie sonst „Schwimmen und Sex“ (mitchpeter.tumblr.com)
Reblogger erleben ihr Tun – das Kopieren – also als intensive und beglückende Erfahrung, es ist für sie nicht bloß ein passives Genießen, sondern ein Sich-Ausdrücken, vor allem aber begleitet von der Vorstellung, jederzeit wirklich aktiv, aus eigener Kreativität heraus gestaltend tätig werden zu können. Im Rebloggen finden sie, was sie sonst von der Kunst erwarten oder erwartet haben: Momente der Begeisterung, aber auch Gefühle der Erleichterung und Entspannung.
Wie oft, wie schnell und in wie vielen Kontexten
Wird Kopieren hier also synonym mit Inspiriert-Sein, so fungieren die Urheber der rebloggten Bilder genauso wie die Reblogger, die diese sammeln und weiterverbreiten, ihrerseits als Musen. Selbst wenn ihre Bilder von ihnen selbst als Werke gedacht sein mögen, deren Originalität gewürdigt und deren Gehalt interpretiert werden soll, kommen sie nicht als solche zur Geltung.
Vielmehr geht es in den sozialen Medien darum, wie oft, wie schnell und in wie vielen unterschiedlichen Kontexten Bilder rebloggt werden. Wer sich auf die dort herrschende Logik einlässt, ist stolz auf Follower, so wie man bisher stolz auf eine Rezension war, freut sich über einen Reblog-Rekord, so wie man sich sonst über die Einladung zu einer wichtigen Ausstellung gefreut hat.
Aber wenn sogar selbst schon traditionell werkstolze Künstler sich im Zuge der Kreativitätsimperative darauf einzustellen beginnen, heute mehr als Musen denn als Schöpfer von Meisterwerken gefragt zu sein, dann trifft man erst recht in den sozialen Medien auf viele Akteure, die ihre Produkte von vornherein darauf abstimmen, inspirierend zu wirken und entsprechend häufig rebloggt zu werden. So jung die Kulturtechnik des Rebloggens noch ist, so deutlich lassen sich bereits Muster erkennen, denen Bilder folgen, die Reblog-Karrieren machen. Gerade viele Fotografen lernen aus den Reaktionen auf ihre Bilder und legen diese zunehmend so an, dass sie bei Betrachtern den Impuls auslösen, mit anderen geteilt oder auf dem eigenen Blog reproduziert zu werden.
Kick-Off-Bilder
Annekathrin Kohout, selbst Bloggerin und Fotografin, hat die wegen ihrer inspirierenden Qualitäten oft kopierten Bilder genauer als „Kick-Off-Bilder“ beschrieben. Aus ihrer Sicht sind Bilder erfolgreich, wenn sie „von festen Bedeutungen frei sind, um individuell angeeignet werden zu können“. Zugleich aber sollte die Bedeutungsfreiheit nicht als Mangel erscheinen, sondern den Rezipienten dazu anspornen, das Bild eigens mit einer Bedeutung zu versehen.
Das Bild sollte also, so Kohout, von „motivischer Einfachheit“ und damit „emblematisch“ sein. Am Beispiel eines oft rebloggten Fotos eines ukrainischen Fotografen-Trios veranschaulicht sie ihre Überlegungen. So seien zwei an der Spitze mit einem Piercing versehene Zitronen genauso „denkbar als Zeichen für Punk, BDSM, Veganismus oder einfach nur kleine Brüste“.
Das Foto suggeriert Symbolhaftigkeit und damit kann es inspirieren, weil jeder Rezipient den sich öffnenden semantischen Raum individuell zu füllen vermag und nicht den Eindruck haben muss, die Fotografen wollten mit ihrem Foto eine bestimmte Intention zum Ausdruck bringen, ja ein abgeschlossenes Werk schaffen, auf das man sich interpretierend einzustellen habe.
Artefakte für eine kreativitätsselige Kultur
Der emblematische Charakter der Bilder wird durch überraschende und rätselhafte Kombinationen von Sujets noch gesteigert. Dann wird man dazu verführt, Tiefsinniges oder Existenzielles zu assoziieren, kann sich also als derjenige, der die Bedeutung verleiht, auch umso mehr als kreativ empfinden: als jemand, der selbst die größten Themen zu reflektieren versteht.
Damit unterscheiden sich Kick-Off-Bilder von Stock-Fotos, die zwar auch jeweils für unterschiedliche Kontexte verwendet werden können, das aber weniger einer Aura starker Bedeutsamkeit, sondern eher einer Eigenschaftslosigkeit – einer Unverbindlichkeit und semantischen Blässe – zu verdanken haben. Die inspirierende Qualität eines Kick-Off-Bildes nimmt auch dann weiter zu, wenn es nicht nur emblematisch, sondern zugleich simpel angelegt ist.
Dann weckt es den Eindruck, man hätte die Bildidee jederzeit auch selbst haben können. Beliebte Motive sind daher Dinge, die sich in jedem Haushalt finden und jederzeit zur Verwendung anbieten: Obst, Teppiche, Aluminiumfolie. Im Idealfall kommt es zu einer ungewöhnlichen – mal nur absurd-überraschenden, mal auch provokant-frechen – Einbettung der Motive in Situationen: Eine Frau liegt unter einem Teppich, ein Mann wickelt sich mit Aluminiumfolie ein, das weibliche Geschlechtsorgan wird durch aufgeschnittenes Obst ersetzt.
Das wirkt auflockernd, sorgt für ein Gefühl von ‚Alles-ist-Möglich‘ und erzeugt wegen der Alltäglichkeit der Mittel den Eindruck, Kreativität sei gar nicht so schwer. Ein einmal geschaffenes Motiv wird entsprechend innerhalb weniger Tage zahlreich variiert, man trifft also nicht nur immer wieder auf Reblogs eines Bildes, sondern genauso auf Spielarten davon.
Kick-Off-Bilder sind somit die idealen Artefakte für eine kreativitätsselige Kultur. Den meisten genügt dabei die im Akt des Rebloggens erlebte Atmosphäre von Kreativität, um schon alle Sorgen, selbst nicht schöpferisch genug zu sein, zu vertreiben. Diese Atmosphäre braucht nicht in der Erschaffung eigener Werke zu münden; es reicht, sie zu bewahren, neu anzufachen und anderen weiterzugeben. Der Vergleich des Rebloggens mit einer „freundlichen Droge“ ist daher passend, das Gefühl eigener, jederzeit disponibler Kreativität ist wichtiger als deren Beweis in Form großartiger – mit Mühe erarbeiteter – Erzeugnisse.
Ein Ethos des Kopierens
Wer beobachtet, wie in den sozialen Medien Bilder präsentiert, gepostet und rebloggt werden, Produzenten und Rezipienten sich aufeinander einstellen und voneinander profitieren, hat keine Mühe, von einem Ethos des Kopierens zu sprechen. Jedes Mal, wenn der Reblog-Button geklickt wird, ereignet sich ein Musenkuss.
Der eine freut sich, als inspirierend empfunden zu werden, der andere, inspiriert worden zu sein. Und beide wollen, dass das kein einmaliges oder seltenes Erlebnis ist, sondern sich möglichst oft wiederholt. Dabei wird das Zusammenspiel als eines von Gabe und Gegengabe erfahren: Der Reblogger begreift die Inspiration, die ein Bild ihm bereitet, als ein Geschenk – als etwas, das sich nicht konfektionieren und beanspruchen, also auch nicht kommodifizieren lässt. Der Rebloggte umgekehrt empfindet das Glück, das er bereiten kann, seinerseits als ein Geschenk, die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihm mit dem Rebloggen zuteil wird, als etwas, das sich wünschen, aber nicht einfordern oder gar erzwingen lässt.
Das Ethos des Kopierens, wie es in den sozialen Medien praktiziert wird, besteht somit in einem wechselseitigen Gunstverhältnis. Es lässt sich weder auf kommerzielle Bedingungen noch auf rechtliche Normen reduzieren. Damit aber wird das Rebloggen auch als etwas empfunden, das sich jenseits der Geltung von Urheber- und Verwertungsrechten abspielt.
Selbst wer an Urheberrechte denkt, wird sie kaum wahren
Tatsächlich werden Urheberrechte nirgendwo sonst häufiger missachtet, als Hindernis wahrgenommen oder grundsätzlich in Zweifel gezogen als auf dem Feld der sozialen Medien. Gerade sofern Bilder oder andere Artefakte inspirierend wirken und beim Rezipienten das Gefühl erzeugen, selbst über die kreativen Kräfte zu verfügen, um dasselbe oder Ähnliches schaffen zu können, bleibt kaum Raum für die Vorstellung, man würde fremdes Eigentum unerlaubt in Anspruch nehmen. Durch die Gunst der Inspiration verschmilzt das, was man rezipiert, mit dem, was man selbst damit assoziiert. So wenig ein Kuss nur einem der Küssenden gehört, so wenig ein inspirierendes Bild nur dem, der es gemacht hat.
Das wird nicht nur von vielen derer so gesehen, die Bilder rebloggen, sondern genauso von deren Urhebern. Bei ihnen hat sich Werkstolz ebenfalls in Netzwerkstolz verwandelt, was durch die hochentwickelte Foto- und Bildbearbeitungstechnik weiter begünstigt wird. Mit ihr kann mittlerweile jeder schnell gute Fotos machen und online verbreiten. Ein Maler braucht oft Wochen, gar Monate für ein Gemälde, auch Fotografen mussten im analogen Zeitalter für Vorbereitung und Entwicklung eines Fotos ziemlich viel Zeit aufwenden, bevor sie – vielleicht – ein sehenswertes Bild zustande brachten.
Es ist heute oft nur eine Angelegenheit weniger Sekunden, um ein interessant und professionell wirkendes Foto zu erzeugen. Die Technik erlaubt es selbst nicht spezifisch Begabten, effektstarke Bilder zu machen. Wo aber so wenig Lebenszeit und Herzblut eingesetzt wurde, so wenig Risikobereitschaft und Ambition nötig ist, wird der Urheber auch kaum eine enge Bindung zu seinen Bildern aufbauen. Er fühlt sich nicht länger ausdrücklich als ihr Eigentümer und kann sie entsprechend leicht loslassen.
Doch selbst wer beim Rebloggen an Urheberrechte denkt, wird sie kaum wahren. Handelt es sich um ein bereits erfolgreiches, von anderen oft rebloggtes Bild, ist es mühsam, zu rekonstruieren, bei wem die Urheberrechte liegen. In dem Maße, in dem es leichter denn je geworden ist, sich Bilder anzueignen, ist es schwieriger geworden, sich dabei im Sinne des Urheberrechts korrekt zu verhalten.
Daher braucht nicht zu verwundern, dass viele Nutzer von Bildern in den sozialen Medien sich nicht mehr die Mühe machen, Urheberrechten eigens nachzugehen. Sie können keinen Sinn darin erkennen, mit großem Aufwand und unsicherem Ergebnis etwas zu tun, das mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht erwartet wird. Vor allem aber würde es die spezifische Qualität des Rebloggens – den Moment der Inspiration – zerstören, hätte man sich jeweils erst um Urheberrechte zu kümmern. Die gerade gewonnene Spontaneität im Umgang mit Bildern würde sogleich wieder zunichte gemacht.
Es spricht somit viel dafür, das Posten und Rebloggen von Bildern zumindest innerhalb der sozialen Medien freizugeben und nicht länger unter den Schutz des Urheberrechts zu stellen. Eine Plattform wie Tumblr geht in ihrer Konstruktion bereits in diese Richtung. So erklären die Mitglieder mit dem Akzeptieren der Nutzungsbedingungen, dass sie die von ihnen hochgeladenen Bilder für weitere Verwendungen auf Tumblr-Blogs freigeben. Haftbar zu machen ist demnach höchstens derjenige, der selbst keine Rechte an einem erstmalig hochgeladenen Bild besitzt.
Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den Wolfgang Ullrich auf der Tagung „Towards an Ethics of Copying“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung Bielefeld gehalten hat.
1 Kommentar
1 Schmunzelkunst am 24. Oktober, 2015 um 20:28
!
Was sagen Sie dazu?