Heute im Watch-Blog: publikationsfreiheit.de
In engem zeitlichen Zusammenhang zur Publikation des Referenten-Entwurfes für ein zeitgemäßes, den digitalen Bedürfnissen in Bildung und Wissenschaft angepasstes Urheberrecht wurde von Verlegerseite die Internetseite publikationsfreiheit.de an die Öffentlichkeit gebracht.
Die Seite, die von der MVB Marketing und Verlagsservice des Buchhandels GmbH betrieben wird, tritt unter dem suggestiven und positiv besetzten Begriff der Publikationsfreiheit an, um angebliche Bedrohungen des wissenschaftlichen Publikationswesens durch verschiedene politische Vorhaben wie die Förderung von Open Access oder die Reform des Urheberrechts abzuwehren. Im Zusammenhang mit der Freischaltung der Seite haben einige Verlage begonnen, ihre Autoren anzuschreiben und sie zur Zeichnung von publikationsfreiheit.de zu ermuntern.
Sieht man sich die allerersten Unterzeichner an, so wurde Wert darauf gelegt, gerade Professorinnen und Professoren für die Kampagne zu gewinnen. Es wurde in diesem Blog schon darauf hingewiesen, dass dabei auch grob falsche Angaben über den Inhalt der geplanten Urheberrechtsreform geäußert worden sind. Autorinnen und Autoren hatten so das Gefühl bekommen, sie würden durch die Neuregelungen etwa für elektronische Semesterapparate regelrecht enteignet, was freilich Blödsinn ist.
Gleichwohl – oder gerade deshalb? – war die Kampagne bislang recht erfolgreich. So konnten bis heute 5.129 Unterschriften gesammelt werden. Interessierte Kreise nutzen diese beeindruckende Zahl bereits für ihre politischen und publizistischen Zwecke. Sie glauben, zeigen zu können, dass die geplante Urheberrechtsreform nicht den Interessen der Wissenschaft dient, wehrt sich diese doch deutlich dagegen. Auf publikationsfreiheit.de kann man es ja nachlesen.
Wer spricht für die Wissenschaft?
In dieser Woche hat unter der boulevardesken Überschrift „Wie man ein Monstrum nährt“ Thomas Thiel in der FAZ, die in Urheberrechtsfragen seit geraumer Zeit die unrühmliche Rolle eines tendenziösen Kampagnenblattes spielt, nun auch die Seite publikationsfreiheit.de für sich entdeckt. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „Appell für die Publikationsfreiheit, der in der Wissenschaft für Furore sorgt“.
Dann wird Thiel konkreter:
Die Allianz der Wissenschaften, die den Reformentwurf enthusiastisch begrüßt, ist geübt darin, jede Kritik als Verlagslobbyismus abzuwiegeln. Wenn sie im Namen von Bildung und Innovationskraft die großzügigen Ausnahmen vom Urheberrecht verteidigt, tut sie das aber nur bedingt im Namen der Wissenschaft. Die mehr als tausend Professoren unter den mehr als viertausend Signataren des Appells sind ein deutliches Zeichen, dass die Allianz auch von vielen Wissenschaftlern nicht mehr als Repräsentantin anerkannt wird, sondern als wissenschaftsferne Elite, die ihr eigenes technokratisches Spielchen treibt.
Wow! Denkt man. Das ist ja unglaublich. Wie kann man nur so gegen „die“ Wissenschaft arbeiten?! Vermutlich war es dem viel beschäftigen Redakteur einer Qualitätszeitung nicht möglich, sich die Liste der Unterzeichner genauer und vor allen Dingen kritisch anzusehen. Kein Problem. Dafür gibt es ja das Internet.
Wer unterzeichnet den Appell?
Und so reiche ich gerne ein paar Fakten nach. Ich habe mir nämlich die Seite – ganz konservativ – ausgedruckt und bin alle Unterzeichner durchgegangen. Soweit sie Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer sind, habe ich ihre biografischen Angaben nachgeschlagen (Wikipedia, Homepage, Kürschners Gelehrtenkalender). Herausgekommen ist ein ziemlich interessantes Bild davon, was genau „die“ Wissenschaft ist, die man auf publikationsfreiheit.de findet.
Es handelt sich um 1.108 Professorinnen und Professoren, wobei Angehörige ausländischer Hochschulen, die von der Urheberrechtsreform in Deutschland ja nicht betroffen sind, nicht gezählt werden. Dafür wurden auch Personen berücksichtigt, die ihren Titel nicht genannt haben, mir selbst aber als Hochschullehrer bekannt waren. Wer zu den „Professoren“ zählt, wurde auf Grundlage der Selbstbezeichnungen denkbar weit gefasst. Und so wurden auch die vielen Honorarprofessoren oder Klinikärzte berücksichtigt.
Was war nun das Ergebnis? Um es in einem Satz zu sagen: Knapp 40 Prozent der Unterzeichner sind „Rentner“ (435 Personen). Über 55 Prozent sind älter als 60 Jahre (613 Personen). Lediglich 16 Prozent der Unterzeichner sind jünger als 50 Jahre (180 Personen).
Das bedeutet, es haben sich mehrheitlich Personen über Open Access und eine digitalfreundliches Urheberrecht geäußert, die damit in der Praxis gar nichts zu tun haben oder eine analoge wissenschaftliche Sozialisation durchlaufen haben. Die überwältigende Mehrheit der Professorenschaft, vor allem die jüngere Generation, ignoriert publikationsfreiheit.de. Es besteht überhaupt kein Anlass, wie Thiel es in seinem Beitrag in der FAZ tut, einen auf dicke Hose zu machen. Bei Lichte besehen ist die Kampagne ein einziger Misserfolg für die Verlage. Sie erreichen die nachfolgende Wissenschaftlergeneration trotz hübscher Internetseite offenbar nicht mehr.
Muster bei den Unterzeichnenden
Es ist auffällig, dass die Unterzeichnungen in Clustern erfolgen, plötzlich finden sich ganz viele Juristen, dann wieder Mediziner, dann kommen die Chemiker, dann die (Sozial-)Pädagogen, die Philosophen und die Germanisten. Berücksichtigt man die im Appell engagierten Verlage, so haben wir es hier mit der etwas bejahrten und betagten Autorenschaft von rund einem Dutzend Verlagen zu tun. Für „die“ Wissenschaft ist das dann doch etwas dünn.
Geschenkt ist, dass es eine zweistellige Zahl von Doppelzeichnungen gab, die teilweise mehrere Tage auseinander liegen; offenbar eine Reaktion auf mehrere Verlegerbriefe. Erstaunt ist man auch, dass sich berühmte Professoren jenseits der 80, ja sogar jenseits der 90 (selbst?) beteiligt haben. Geschenkt ist auch, dass die Teilnahme ohne Identitätsprüfung möglich ist, sodass auch ein „Johannes Gutenberg“ und „a.k.“ mitmachen konnten.
Ebenfalls geschenkt ist, dass erstaunlich viele der ansonsten sehr wenigen Studenten, die den Appell unterzeichnet haben, aus Heidelberg kommen. An diesem Knochen können Freunde von Verschwörungstheorien behaglich nagen. Interessanter ist schon, dass mit Ausnahme von Horst-Peter Götting von der TU Dresden, der als Vertreter sehr verlagsnaher Positionen im Urheberrecht seit vielen Jahren bekannt ist, kein einziger renommierter Urheberrechtler unterzeichnet hat. Klar, man will sich angesichts der merkwürigen Faktendarstellung des Appells ja nicht blamieren.
Erwähnenswert ist auch, dass die Anzahl der Namen von Mitarbeitern des Thieme-Verlags, die sich unter dem Appell finden, mit rund 140 fast an die Zahl der U-50-Küken unter den Professoren heran reicht. Näher untersuchen könnte man auch, warum die jüngeren Professorinnen und Professoren oft von Fachhochschulen und dort aus den Bereichen (Sozial-)Pädagogik und Wirtschaft kommen.
Blendwerk mit Zahlen
Wirklich spannend aber ist etwas ganz anderes. Ich greife noch einmal die Worte von Thiel aus der FAZ auf:
Die mehr als tausend Professoren unter den mehr als viertausend Signataren des Appells sind ein deutliches Zeichen, dass die Allianz auch von vielen Wissenschaftlern nicht mehr als Repräsentantin anerkannt wird (…)
Wenn wirklich etwas klar geworden ist, dann dies: dass die Verlage offenbar den Kontakt zu den jüngeren Hochschullehrern verloren haben und damit Gefahr laufen, massiv ihre Zukunft zu verspielen. Diese Gefahr besteht unabhängig von dem Ausgang der geplanten Urheberrechtsreform.
Politiker lassen sich gerne von Zahlen beeindrucken. 5.000 Namen auf einer Webseite machen etwas her. Keine Frage. Repräsentativ freilich sind sie nicht. Und von den über 1.000 Professoren bleiben bei Licht besehen ein paar Hundert im aktiven Dienst übrig. Als Kampagne ist publikationsfreiheit.de unwichtig, als Problembeschreibung jedoch alarmierend. Wenn es nicht gelingt, Verlage und ihre Produkte in die digitale Welt von heute einfach und unkompliziert einzubinden, so wie es im geplanten Urheberrecht vorgesehen ist, sieht es düster aus.
Die Lage ist viel zu ernst, um sie den Marketing-Heinis der Verlage oder einem kurzsichtigen Tendenzjournalismus zu überlassen. Hier ist mutige politische Gestaltung gefragt. Im Referenten-Entwurf der geplanten Urheberrechtsnovelle kann man alles Erforderliche nachlesen.
Dies ist ein Crosspost von Kapselschriften mit freundlicher Genehmigung. Dort ist auch ein weiterer Beitrag zum Inhalt des geplanten Gesetzentwurfs und der Kritik daran erschienen.
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