Offen? Frei? Inklusiv? Das Netz bedarf politischer Gestaltung – aber welcher?
Das Internet ist nicht der utopische Raum grenzenloser Freiheit, der uns in seinen bescheidenen Anfängen einmal versprochen worden war. Dennoch: Kein anderes Kommunikationsmedium ist heute wichtiger für den politischen Diskurs und dafür, Bürgerrechte wie das Recht auf Information oder auf freie Meinungsäußerung durchzusetzen.
Im vergangenen Jahr aber hat sich klarer als je zuvor gezeigt, dass sich die Idee eines für alle freien und offenen Internets in einer kritischen Phase befindet. Die andauernden Kämpfe zwischen Staaten, zivilgesellschaftlichen Gruppen und anderen Akteuren um die Frage, durch wen und wie das Internet künftig regiert und verwaltet werden soll, machen klar, was auf dem Spiel steht: Was für ein Internet wollen wir haben?
Das Internet entwickelt sich nicht von alleine fort, und es wird auch nicht von alleine frei und offen bleiben oder freier und offener werden – es bedarf politischer Gestaltung.
Um zu sehen, wie fragil die Bürgerrechte im Internet sind, genügt ein Blick auf die Ereignisse im (noch) demokratisch verfassten Nato-Mitgliedsstaat Türkei. Vor allem die gängigen Social-Media-Dienste werden seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli noch stärker als zuvor von den Behörden überwacht und im Bedarfsfall einfach gesperrt. Wer sich im Netz politisch äußert, riskiert eine Verhaftung.
Aber auch außerhalb der Türkei hat das vergangene Jahr schmerzhaft deutlich gemacht, dass das Internet mehr und mehr zum politischen Schlachtfeld auf nationaler wie internationaler Ebene geworden ist. Man denke nur an den Cyber-Angriff auf die Server der Demokratischen Partei in den USA – mutmaßlich durch russische Hacker mit Regierungsauftrag – und die anschließende Verbreitung von Hillary Clintons Emails durch die Plattform Wikileaks, die den US-amerikanischen Wahlkampf bis zu seinem Ende prägte.
Oder die massive DDoS-Attacke gegen das Unternehmen Dyn, das für weite Teile jener zentralen Infrastruktur zuständig ist, die die Domain-Namen im Internet verwaltet. Der Cyber-Angriff machte die Systeme funktionsunfähig, indem er mittels einer Anfragenschwemme die Server überlastete. Er machte im Oktober 2016 deutlich, wie verwundbar selbst die grundlegende Infrastruktur des globalen Netzes ist.
Internet am Scheideweg
Das Internet befindet sich am Scheideweg – so formulierte es die Global Internet Governance Commission in ihrem Abschlussbericht, der im Sommer 2016 veröffentlicht wurde. Die Arbeitsgruppe unter Vorsitz des ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten Carl Bildt definierte anhand verschiedener Szenarien mögliche Prinzipien, wie in der Zukunft das Internet verwaltet werden könnte.
Sie eröffnete ihr Ergebnispapier mit der warnenden Aussage, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, die Weichen für ein offenes, freies, sicheres und inklusives Internet zu stellen. Es müsse die Frage geklärt werden, wer über welche Macht im Bereich der Internet Governance verfügen sollte. Von der Beantwortung dieser Frage hänge ab, ob das Internet der Zukunft allen Menschen Vorteile bieten könne oder ob die bereits erreichten Fortschritte im Hinblick auf die Freiheiten der Bürger wieder rückgängig gemacht würden.
Wie aber kann sichergestellt werden, dass das Internet ein freiheitlicher Kommunikationsraum für diejenigen bleibt, die es heute als einen solchen erleben? Und wie kann gleichzeitig erreicht werden, dass das Netz frei und offen wird für die Bürgerinnen in denjenigen Staaten, in denen diese Freiheitsrechte nicht gewährleistet werden?
Womit schon des Pudels Kern freigelegt wäre: „Das Internet“ ist niemals losgelöst von den Ereignissen und Verhältnissen der „nichtvirtuellen“ Welt. Wo die Menschen freiheitsrechtliche Garantien genießen, dort sind auch zumeist – mit Einschränkungen – Zugang zum und Handeln im Netz frei und grundrechtlich abgesichert. Dort hingegen, wo autoritäre Strukturen herrschen, sind auch die Internetfreiheiten beschränkt.
Dieser Grundkonflikt zwischen sich gegenüberstehenden Auffassungen über die Rolle des Internet für die Gesellschaft wirkt unmittelbar in das Feld der Internet Governance hinein, mit wenig Aussicht auf baldige Auflösung. Im Gegenteil.
Nach welchem Prinzip wird das Internet gesteuert?
Seinen deutlichsten Ausdruck findet dieser Konflikt in der anhaltenden Frage, ob Internet Governance dem Prinzip multilateraler Ordnung oder aber dem Multistakeholder-Ansatz folgen sollte. Sollen also die Staaten allein das Sagen haben, wenn es um die Regulierung des Netzes geht oder sollen alle weiteren betroffenen und interessierten Akteure wie NGOs oder Unternehmen der Privatwirtschaft in die Entscheidungsprozesse mit eingebunden werden?
Dahinter steht die Frage, welcher Grundsatz die Internet Governance beherrschen soll: der der „Cybersouveränität“, also der vollen Hoheit jedes einzelnen Staates über „ihren“ Teil des Netzes, wie von Chinas Staatspräsident Xi Jinping Ende 2015 vorgeschlagen? Oder aber der Grundsatz eines einheitlichen globalen Netzes, das von allen beteiligten Stakeholdern gemeinsam verwaltet wird, eines Netzes, in dem Informationen und Meinungen frei und ungehindert verbreitet werden können?
Noch ist das Multistakeholder-Modell, das von den Vertretern der überwiegenden Zahl westlicher Staaten befürwortet wird, die Basis für Entscheidungsforen der Internetverwaltung, wie der in Kalifornien beheimateten Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) oder dem von den Vereinten Nationen 2005 ins Leben gerufenen Internet Governance Forum.
Die Einbeziehung einer möglichst großen Bandbreite verschiedener Player erscheint aus dem Blickwinkel der industrialisierten Gesellschaften des Nordens wie die ausgereifteste, fortschrittlichste Form demokratischer Partizipation auf überstaatlicher Ebene. Von der anderen Seite betrachtet, wird es jedoch als eine weitere Verfestigung des Einflusses jener westlichen Industrieländer wahrgenommen.
Diese Sichtweise wussten totalitäre Staaten wie Russland oder China, denen es keineswegs um eine größere Berücksichtigung von Entwicklungs- oder Schwellenländern geht, sondern schlicht um Stärkung ihrer eigenen Einflussmöglichkeiten auf die Verwaltung der Grundstrukturen des Internet, in den vergangenen Jahren geschickt für sich zu nutzen.
Die Rolle, die die privatwirtschaftlich organisierte ICANN bislang ausfüllt – die Verwaltung des fundamentalen Domain Name Systems (DNS) – sähen sie gerne auf die Internationale Fernmeldeunion (ITU) übertragen, die als UN-Unterorganisation dem multilateralen Ansatz folgt und Akteuren, die keine Staaten sind, nur sehr wenig Mitspracherecht einräumt.
Interessen der Industriestaaten stehen im Vordergrund
Eine solche Entwicklung erscheint bis auf Weiteres aufgrund der Opposition der westlichen Staaten zwar als wenig wahrscheinlich. Doch gelang es in diesem Jahr, die jedenfalls formal herausgehobene Stellung der Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Internet Governance ein wenig zurückzudrängen.
Dieser Schritt war allerdings von praktisch allen Stakeholdern, einschließlich der Regierungen anderer westlicher Staaten, schon lange gefordert worden. Der Vertrag, mit dem die ICANN seit ihrer Gründung an die US-Regierung gebunden war, lief zum 30. September 2016 aus und wurde nicht erneuert.
Die Entscheidung, die über zwei Jahre lang vorbereitet worden war, rief besonders bei Mitgliedern der Republikanischen Partei in den USA fast hysterische Reaktionen hervor. So unkte Senator Ted Cruz, die Abgabe der Kontrolle über die Organisation durch die Regierung Obamas bedeute, dass Staaten wie China, Russland oder der Iran von nun an das Recht auf freie Meinung im Internet beschränken könnten und das offene Internet nunmehr am Ende sei.
Das allein war eine grobe Verkennung der Rolle und Funktion der ICANN, die auf die Inhalte, die über das Netz verbreitet werden, ohnehin nur äußerst beschränkt Einfluss ausüben kann. Daran wird sich auch nach dem Übergang auf eine reine Multistakeholder-Verwaltung ohne Aufsicht durch US-Behörden nichts ändern. Durch die Neuordnung hat Washington keine Kontrolle über das Netz abgegeben, weil die ICANN selbst eine solche Kontrolle nie besaß.
Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure
Die großen Fragen der Internet Governance werden also auch in den kommenden Jahren eher bei regelmäßigen Zusammenkünften wie dem Internet Governance Forum ausgehandelt werden, die ebenfalls bislang dem Multistakeholder-Ansatz verpflichtet sind. Und hier sind es gerade nicht nur Russland, China und andere autoritäre Staaten, die zunehmend Bedenken gegenüber der Vorherrschaft der westlichen Industriestaaten zum Ausdruck bringen.
Denn jene nichtstaatlichen Akteure, die dank des Modells zu wichtigen Stimmen auf dem Feld der Internet Governance geworden sind, stammen größtenteils nicht aus Entwicklungs- oder Schwellenländern. Das gilt nicht zuletzt für die großen privaten Unternehmen der Internetwirtschaft.
Ob nun berechtigt oder nicht – im Großen und Ganzen scheint die Internet Governance heute noch zu sehr an den Interessen von Akteuren aus westlichen und reichen Staaten ausgerichtet, mit nur unzureichenden Mitspracherechten für den großen Rest der Welt. Dass die stete Betonung, wie wichtig die Achtung der Bürgerrechte im Netz sei, durch die Enthüllungen Edward Snowdens in großen Teilen als Hybris entlarvt wurde, hat zudem nicht geholfen, die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in Bezug auf die freiheitlichen Prinzipien der Internet Governance zu erhöhen.
Das bedeutet nicht, dass ein Festhalten am Multistakeholder-Ansatz nicht wichtig wäre, und die Bestrebungen, dem multilateralen Ansatz über eine Stärkung der ITU für die Internet Governance mehr Gewicht zu verleihen, nicht entschieden zurückgewiesen werden sollten. Die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure, vor allem beim Internet Governance Forum oder der Net-Mundial-Initiative, ist noch immer der zuverlässigste Garant dafür, dass den Interessen der Bürger Gehör verschafft wird.
Die Akteure der westlichen Staaten – egal ob Vertreter der Regierungen oder der Zivilgesellschaft – müssen jedoch aufpassen, dass ihre Menschenrechtsagenda nicht von den Stakeholdern aus Entwicklungs- und Schwellenländern als reines Luxusproblem für jene Menschen wahrgenommen wird, die bereits über einen gesicherten Zugang zum Netz verfügen und die wirtschaftlichen oder kulturellen Vorteile des Internet genießen.
Immerhin, die Organisatoren des Internet Governance Forums scheinen dies verstanden zu haben, stand die Konferenz, die im Dezember 2016 in Guadalajara in Mexiko stattfand, doch unter dem Titel „Enabling Inclusive and Sustainable Growth“, zu deutsch: „Inklusives und nachhaltiges Wachstum ermöglichen“. Denn von einem wirklich freien und offenen Internet können wir erst dann sprechen, wenn das auch für (möglichst) alle gilt.
Dieser Beitrag ist auch im Magazin „Das Netz 2016/17 – Jahresrückblick Digitalisierung und Gesellschaft“ veröffentlicht. Das Magazin ist gedruckt und als E-Book erschienen, zahlreiche Beiträge sind zudem online zu lesen.
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