Mark Terkessidis: Kollaboration ist keine Sozialromantik
iRights.info: Ihr Buch heißt „Kollaboration“. Was bedeutet dieser Begriff für Sie?
Mark Terkessidis: Kollaboration hat zwei Seiten. Auf der einen Seite hat der Begriff „Kollaboration“ im deutschsprachigen Raum einen sehr schlechten Ruf. Alle denken sofort an die Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten. Auf der anderen Seite gibt es aber die positive Bedeutung, die eher aus dem englischsprachigen Bereich kommt. Dort wird der Begriff collaboration neutral – wenn nicht sogar positiv – für Zusammenarbeit verwendet. Der Begriff hat in den letzten Jahren eine ziemliche Karriere erlebt – in der Wirtschaft, im Netz, in der Sharing Economy und auch in der Kunst.
Ich beziehe mich in meinen Überlegungen auf beide Bedeutungen des Begriffs. Auf der einen Seite ist jeder von uns auf die eine oder andere Weise Kollaborateur. Wir sind unzufrieden mit dem kapitalistischen Wildwuchs, den Defiziten der Demokratie, dem Funktionieren der Bürokratie und so weiter, stehen diesen Zuständen aber oft auch ohnmächtig gegenüber, weil wir nicht in der Lage sind, etwas zu ändern. Also schließen wir im Alltagsleben Kompromisse und kollaborieren – im negativen Sinne.
Gleichzeitig sehe ich aber immer mehr interessante Formen der Selbstorganisation. Die Idee war, die positive Bedeutung als konkrete Utopie gegen die negative zu wenden.
iRights.info: Welche Rolle spielt das Internet beim Erstarken des Phänomens „Kollaboration“?
Mark Terkessidis: Das Netz hat Möglichkeiten eröffnet und sichtbar gemacht, dass es funktionierende Beispiele gibt. Wikipedia zum Beispiel: Es ist heute selbstverständlich, dass man ein Lexikon benutzt, das von „normalen“ Leuten erstellt wurde. Jeder kann dort seine Wissensbestände einbringen und diese werden auch demokratisch verwaltet. Das ist wirklich ein profundes Beispiel dafür, wie Kollaboration funktionieren kann.
Das Prinzip Wikipedia richtet sich gleichzeitig gegen zwei Aspekte. Einmal gegen eine Expertenherrschaft, in der allwissende Professoren Lexikonartikel verfassen und die unter sich beurteilen. Zum anderen treffen diese Professoren auch die Entscheidungen, was überhaupt im Lexikon ein relevantes Wissensobjekt sein könnte. Auch ich beschwere mich vielleicht manchmal, dass irgendwelche Pornodarsteller in Wikipedia eigene Artikel bekommen. Aber auf der anderen Seite muss man eben sagen: Wenn zum gegebenen Zeitpunkt ein Wissensgegenstand von Interesse ist, dann sollte das seinen Artikel bekommen. Besser eine Überfülle als eine Beschränkung durch „weise“ Fachleute.
Ich glaube aber nicht, dass die ganze Idee mit der Kollaboration im Netz erfunden wurde – dort wurde es nur machbarer und sichtbarer, auch im globalen Rahmen. Ich kann aus den Siebzigerjahren Hunderte analoger Projekte nennen, die selbstorganisiert und kollaborativ im besten Sinne Dinge angestoßen haben.
iRights.info: Auf der anderen Seite gibt es auch Kritik, etwa an der Sharing Economy. Unternehmen wie Airbnb oder Uber springen auf den Zug auf und verdienen daran, indem sie die Verantwortung outsourcen.
Mark Terkessidis: Klar, aber das kenne wir ja schon seit der „new economy“, in der subkulturelle Organisation und die Betonung von familiärem Zusammenhalt dazu dienten, Leuten möglichst wenig zu bezahlen. Nun gibt es eben solche Plattformen, die mit der Eigenaktivität der Leute Geld verdienen. Da kann ich die falsche Art der Kollaboration kritisieren – das ist ja kein Argument gegen die Kollaboration selbst.
iRights.info: Auch bei Wikipedia könnte man ja sagen, dass früher so ein Lexikon von bezahlten Menschen produziert wurde. Und jetzt machen das die Nutzer kostenlos.
Mark Terkessidis: Das stimmt nicht ganz, die Arbeit an traditionellen Lexika wurde oft gering bezahlt, allerdings waren die entsprechenden Fachleute zumeist als Professoren beim Staat beschäftigt. Wenn ich als Selbständiger Anfragen bekomme, Lexikonartikel über „Interkultur“ oder andere meiner Forschungsthemen zu schreiben, ist das gewöhnlich mit lächerlichen Honorarangeboten verbunden – deshalb mache ich es auch nie. Wenn aber normale Lexika auf staatlich finanzierter Wissensarbeit basierten, dann wäre doch die offensichtliche Frage: Müssten die Staaten aktuell nicht in Wikipedia investieren?
iRights.info: Gibt es da Überlegungen?
Mark Terkessidis: Ja, und das halte ich auch für sinnvoll. Warum sollte Wissen so stark an Universitäten monopolisiert sein? Und umgekehrt stellt sich die Frage: Warum ist das Wissen, das an den Universitäten produziert wird, nicht frei verfügbar? Wenn etwa ein Professor ein Buch über seine Forschung herausbringt, dann muss ich dafür bezahlen. Aber warum? Ich habe mit meinen Steuern diese Forschung finanziert, denn dieser Professor wird ja vom Staat – also von uns allen – dafür bezahlt, dass er Wissen produziert.
iRights.info: Das heißt, Sie setzen sich für Open Access ein?
Mark Terkessidis: Alles, was an Universitäten produziert wird, sollte frei zugänglich sein. Genauso das, was von den öffentlich-rechtlichen Medien produziert wird. Es ist nicht nachvollziehbar, dass öffentlich-rechtliche Sendungen nur zeitlich beschränkt in der Mediathek zur Verfügung stehen. Oder dass Dokumentarfilmer für Material aus öffentlich-rechtlichen Sendungen Rechte einholen und bezahlen müssen.
iRights.info: Ist Ihr Modell der Kollaboration nicht sehr optimistisch?
Mark Terkessidis: Ich möchte mit Idee der Kollaboration kein sozialromantisches Bild von kuhäugigen Leuten zeichnen, die alle nett miteinander zusammenarbeiten und dafür nicht bezahlt werden. Wenn Unternehmen im Softwarebereich die Kollaboration als Prinzip anschieben, dann tun sie das nicht nur, um ihre Mitarbeiter besser ausbeuten können, sondern weil es für den Arbeitsprozess wichtig ist, Autonomie zu gewähren, Wissen schnell zu teilen, Fehler gut weiterzuverarbeiten und transparente Rahmenbedingungen für ergebnisoffene Prozesse zu schaffen.
Das tun sie, um ein besseres Produkt zu machen, das sie verkaufen wollen. Aber die Arbeitsbedingungen sind oft besser als bei der „old economy“ – auch finanziell. Ich interessiere mich für Innovationen in der Wirtschaft – eben für die sozialen Aspekte, die über die Ausbeutung hinausreichen und Versprechen auf die Zukunft beinhalten.
iRights.info: Bedarf Kollaboration eines höheren Organisationsaufwands, weil man ja nicht von oben nach unten Befehle erteilen kann?
Mark Terkessidis: Ja, aber der lohnt sich. Nehmen wir ein Beispiel wie Stuttgart 21: Da wäre es sicher billiger gewesen, wenn man zu Beginn in einen Prozess der Kollaboration mit der Bevölkerung getreten wäre. Die hervorgerufene Unzufriedenheit und die politischen Folgen waren sicher deutlich teurer. Es ist nicht gut, wenn die Leute denken, dass ihre Steuergelder verschwendet werden. Dann wollen sie irgendwann keine Steuern mehr bezahlen, sondern versuchen, möglichst viel am Gemeinwesen vorbei individuell zu regeln. Es ist wichtig, dass die Leute das Gefühl haben, dass ihr Geld sinnvoll ausgegeben wird.
Das Netz kann Kollaboration vereinfachen. Es kann aber nicht die einzige Plattform sein. Ein Problem ist, dass die derzeitigen Partizipationsprozesse maßgeblich über Reden funktionieren, auch im Netz. Der Diskurs privilegiert immer diejenigen, die das Argumentieren von Kindesbeinen an gelernt haben, also die Mittelschicht. Es sollte möglich sein, dass Leute sich in ihrem Nahraum konkret mit ihren spezifischen Wissensbeständen einbringen können.
Kürzlich haben die Eltern an der Schule meines Sohnes keine Lust mehr gehabt, auf die Renovierung des Klassenzimmers zu warten – die Schulen pfeifen ja auf dem letzten Loch. Sie haben Geld beantragt, und den Raum selbst neu gestaltet. Interessant daran war aber, dass dabei Lehrpersonal, Eltern verschiedener Herkunft und Schicht kollaboriert haben, und dabei unterschiedliche Wissensbestände einbringen konnten – organisatorisches, pädagogisches, handwerkliches Wissen.
Eigentlich könnte man das immer machen. Nicht die angeblichen Experten von der Kommune planen abstrakt die Räumlichkeiten der Schule, sondern das Geld kann direkt vor Ort gehen, wo die Kollaboration dann auch entsprechend vergütet wird. Das wäre ein sichtbarer Einfluss im Nahbereich, wofür Schule ein guter Ort ist: Wer interessiert sich nicht für die Zukunft der eigenen Kinder? Und es kann Spaß machen.
iRights.info: Das Netz wird ja auch von Gruppen zur Koordination und Kollaboration genutzt, die anti-demokratisch eingestellt sind, zum Beispiel Pegida und die sogenannten Montagsdemos. Da läuft die Organisation ja stark über Facebook und ähnliches.
Mark Terkessidis: Die Werkzeuge sind nicht per se progressiv. Ich bin nun wirklich unverdächtig, irgendwelche Sympathien mit den Zielen von Pegida zu haben, aber realistischerweise muss ich auch anerkennen, dass sich darin eine ähnliche Form von Unzufriedenheit äußert wie in vielen progressiven Protesten. Auch bei Pegida geht es häufig darum, dass über die Köpfe der Leute hinweg geplant wird – zum Beispiel die Unterbringung von Flüchtlingen. Ich kann zunächst einmal nachvollziehen, dass es nicht leicht ist, wenn neben mir möglicherweise Hunderte unbekannte Leute einziehen. Insofern haben es die Gemeinden besser gemacht, die das gut vorbereitet und moderiert – und eben nicht autoritär zugewiesen haben.
Ich sehe den Teil von Pegida, der unverbesserlich rassistisch ist und schlicht bekämpft werden sollte, zumal der Rechtsradikalismus sowieso oft unterschätzt wurde. Ich muss aber auch Leute mit Meinungen hören, die mir nicht passen – wenn sich bei Leuten das Gefühl verfestigt, nicht gehört zu werden, sind sie irgendwann nicht mehr erreichbar.
iRights.info: Kollaboration hat bei Ihnen sehr viel mit dem Verhältnis von Staat und Bürger zu tun. Auch die Globalisierung führt zu der Tendenz, den Staat und die Nation für immer unwichtiger zu halten.
Mark Terkessidis: Mein genuines Interesse im Buch liegt darin, auf der einen Seite die Form des Protestes und auf der anderen Seite die Form der Selbstorganisation als soziale Bewegung aufzufassen. Und darauf aufbauend eine Veränderung der staatlichen Strukturen einzufordern – nach dem Vorbild des Einflusses der Arbeiterbewegung auf die Formierung des Sozialstaates. Der Staat selbst ist ja immer ein Kompromiss der gesellschaftlich wirkenden Kräfte.
Ich finde die in alternativen Kreisen häufig verbreitete Ablehnung des Staates ziemlich romantisch. Ich bin immer Bürger eines bestimmten Staates und solange dieser Staat existiert, hat er einen enormen Einfluss auf mein Verhalten. Beispielsweise musste ich mal 20 Monate Zivildienst machen, was letztlich bedeutet hat: Der Staat hat von mir 20 Monate Unterwerfung eingefordert. Das war ein Gewaltverhältnis, das so physisch und unhintergehbar war, wie kaum etwas anderes in meinem Leben.
Ich kann keine Veränderung erreichen, ohne auch die staatlichen Strukturen zu verändern. Die Formen der Selbstorganisation sollen staatliches Handeln ja nicht ersetzen – das wäre tatsächlich die bösartige Seite des neoliberalen Traums von Freiheit, wo die Einzelnen nicht nur kapitalistische Mini-Unternehmen sind, sondern auch noch die Infrastruktur zwischen Klassenzimmer und Straßenbau selbst übernehmen.
Kollaboration bedeutet hier das Zusammenwirken von im besten Fall lernenden Institutionen und den berühmten eigenverantwortlichen Individuen. Ich halte es für blauäugig, wenn man denkt, es gebe eine anarchistische Selbstorganisation fern vom Staat. Wie fragil das ist, merkt man spätestens dann, wenn man ernsthaft mit dem Staat in Konflikt kommt.
Was sagen Sie dazu?