Kalkulierte Gesundheit: Du bist, was du misst

Illustration: Óscar Valero/Fritz Gnad (Annas Leben)
Bei Anzeichen einer Krankheit im Netz nach den Symptomen googeln und auf mitunter beängstigende Resultate stoßen: Das tun heute viele. Auch das Aufzeichnen der eigenen Aktivitäten, sei es beim Joggen oder beim Gang ins Büro, ist längst im Alltag angekommen. Aber was passiert eigentlich mit diesen Daten? Wie kommen die Diagnosen und Ratschläge von Gesundheits-Apps zustande? Und können wir uns den Weg in die Sprechstunde bald sparen?
Um diese und andere Fragen drehen sich zwei neue Folgen von „ANNA – Das vernetzte Leben“, einer Audioreihe zum gleichnamigen Projekt von iRights e. V. (das Projekt wird gefördert vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz). Wir begleiten die Protagonistin Anna, wie sie von einer App in die Notaufnahme geschickt wird. Eine richtige Entscheidung, wie sich später herausstellt. War das Zufall oder hatte die App recht? Wie sehr sollte man sich auf die Diagnose einer App verlassen?
In der zweiten Folge versucht Annas Freundin Lena sie von den Vorzügen ihres neuen Fitness-Armbands zu überzeugen. Denn das unterstützt nicht nur Lenas Jogging-Ambitionen, es verschafft ihr auch einen Bonus bei der Krankenversicherung.
Beide Folgen machen deutlich: Algorithmen, Big Data und künstliche Intelligenz (KI) spielen schon längst ganz konkret in unserem Alltag eine Rolle.
ANNA ist auch auf Facebook.
Krankheiten erkennen mit künstlicher Intelligenz
In der professionellen Gesundheitsversorgung wird verstärkt daran gearbeitet, wie komplexere Algorithmen und KI eingesetzt werden können. Die Einsatzfelder reichen von der Früherkennung von Krankheiten oder Epidemien bis zur Unterstützung bei Diagnosen oder Therapievorschlägen.
Ein Beispiel sind bildgebende Verfahren wie Netzhaut-Scans. Dabei werden Programme mittels maschineller Lernverfahren darauf trainiert, anhand von Bildern der Netzhaut Hinweise auf Herzerkrankungen zu erkennen.
Andere Programme erkennen Muster in Stimmen: So kommt in Notrufzentralen in Kopenhagen eine KI-Software zum Einsatz, die anhand der eingehenden Anrufe Anzeichen auf einen Infarkt erkennen und das Notrufpersonal darauf hinweisen kann.
Self-Tracking als Ermächtigung
Neue Technologien verändern nicht nur den medizinischen Sektor, sondern auch die Rolle der Verbraucherinnen und Verbraucher. Denn mithilfe neuer Geräte und Tools werden wir immer stärker selbst zu Agentinnen und Agenten unserer Gesundheit und Vorsorge. Schritte und Kalorien zählen gehört genauso dazu wie die Nutzung digitaler Menstruationskalender, Lauf- und Schlafprotokolle oder Pulsmesser.
Der Oberbegriff für diese Aktivitäten ist Self-Tracking (dt. Selbstvermessung). Die entsprechenden Geräte wie etwa Fitness-Armbänder – sogenannte Wearables – und zugehörige Apps liefern uns auf Grundlage der automatisch aufgezeichneten beziehungsweise von uns selbst eingetragenen Daten, Informationen und Feedback. Das können unsere Trainingsfortschritte sein oder unser Schlafrhythmus.
Die meisten dieser Produkte sind eher lifestyle-bezogen und zielen darauf ab, dass wir durch bestimmte Handlungen unsere Gesundheit erhalten oder verbessern. Seltener sind diagnostisch beziehungsweise therapeutisch ausgerichtete Apps, die zum Beispiel Patientinnen und Patienten mit Diabetes dabei helfen, ihren Blutzucker zu kontrollieren, Allergikerinnen und Allergiker vor Pollenflug warnen oder dazu dienen, Migräneanfälle zu dokumentieren, um deren Ursachen erkennbar zu machen.
Und dann gibt es noch Apps, die für medizinische Notfälle gedacht sind: Schlaganfälle erkennen oder Rettungsdiensten den eigenen Standort übermitteln – solche Anwendungen können mitunter wirklich Leben retten.
Der Markt ist riesig
Der Markt an Fitness- und Gesundheits-Apps und Selbstvermessungsgeräten ist mittlerweile ebenso riesig wie das Angebot an gesundheitsbezogenen Inhalten im Netz. Das stellt Verbraucherinnen und Verbraucher vor die Frage, welchen Seiten sie vertrauen und wo sie verlässliche und fundierte Informationen finden können.
Um dieser Herausforderung zu begegnen, vergibt beispielsweise das Aktionsbündnis Gesundheitsinformationssystem (afgis e.V.) ein Qualitätslogo. Die zertifizierten Webseiten durchlaufen einen (kostenpflichtigen) Prüfprozess, der zum Beispiel die formalen Kriterien Qualität und Transparenz einbezieht. Zu den gelisteten Angeboten gehören neben Stiftungen, Verbänden und Vereinen oder Krankenkassen auch Portale wie netdoktor.de oder apotheken-umschau.de.

Illustration: Óscar Valero (Annas Leben)
Vereinfachte Hilfsmittel wie etwa ein übergreifendes, anerkanntes Gütesiegel für Gesundheits-Apps gibt es aber bislang nicht. Verbraucherinnen und Verbraucher müssen die Qualität solcher Anwendungen daher in der Regel selbst beurteilen (siehe Infobox) oder ihre Ärztinnen oder Ärzte zurate ziehen. Hinweise dazu, wie jede und jeder gute Informationen im Netz ausfindig machen und beurteilen kann, gibt außerdem die Serviceseite Patienten-Information.de der Bundesärztekammer und kassenärztlichen Bundesvereinigung.
Hier zeigen sich auch Verschiebungen in der Beziehung zwischen medizinischem Fachpersonal und den Patientinnen und Patienten, die heute auf mehr gesundheitsbezogenes Wissen denn je zugreifen können. Dieser vermeintliche Wissenszuwachs auf Patientenseite bringt sicher nicht nur Vorteile, sondern mitunter Konfliktpotenziale mit sich.
Wie bei allen digitalen Diensten ist es auch bei Gesundheits-Apps ratsam, sich über deren Anbieter und Entstehungshintergrund zu informieren und die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) zu lesen. Eine Checkliste der Medizinischen Hochschule Hannover soll Verbraucherinnen und Verbraucher speziell bei der Einschätzung solcher Apps unterstützen. Der Fragebogen behandelt unter anderem die Kategorien Verlässlichkeit und Datenschutz. Auf mobilsicher.de, einem Infoportal von iRights e.V., werden regelmäßig Tests zu Apps im Bereich Fitness und Gesundheit veröffentlicht.
Das gilt auch für einen wichtigen Pfeiler des Gesundheitssystems: das Solidarprinzip. Dies könnte dann gefährdet sein, wenn Krankenversicherungen Fitness-Daten der Versicherten zur Risikoanalyse nutzen und entsprechend Versicherungsbeiträge für den Einzelnen heben oder senken. Obwohl dies momentan nicht der Fall nicht, verdeutlicht es doch, dass unter Schlagworten wie Self-Tracking weit mehr zur Debatte steht als ein aktueller Lifestyle-Trend. Dazu zählt zum Beispiel die Frage nach rechtlichen Rahmenbedingungen und dem verantwortungsvollen (ethischen) Umgang mit sehr persönlichen gesundheitsbezogenen Daten.
Die Diskussion um Wohl und Wehe der „kalkulierten Gesundheit“ zeigt, dass gerade die Medizin von technologischen Entwicklungen im Bereich KI oder algorithmischer Datenanalyse immens profitieren kann. Zugleich müssen Anwenderinnen und Anwender – vom medizinischen Fachpersonal bis zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern – einschätzen können, wo und wie diese Technologien sinnvoll eingesetzt werden können, und wo ihre Grenzen liegen. Vor allem, wenn es um ein so hohes Gut wie die Gesundheit von Menschen geht.
Was sagen Sie dazu?