Die Mangroven-Gesellschaft: Wie können Menschen und Maschinen zusammenleben?
Die Autoindustrie war von Anfang an Vorreiter bei der digitalen Revolution – erst mit Industrierobotern und mittlerweile mit KI-gestützten fahrerlosen Autos. Beide Phänomene sind miteinander verknüpft und bieten wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der Koexistenz menschlicher und künstlicher Akteure in unserer neuen Welt.
Schauen wir uns zuerst Industrieroboter an, etwa einen Roboter, der Fahrzeugbauteile in einer Fabrik lackiert. Der dreidimensionale Raum, der die Grenzen definiert, innerhalb derer ein solcher Roboter erfolgreich arbeiten kann, wird als Freiheitsgrad bezeichnet. Im Englischen spricht man von einer envelope, einer Umhüllung.
Einige unserer technischen Geräte, etwa Spül- oder Waschmaschinen, erfüllen ihre Aufgaben, weil ihre Umgebungen um die grundlegenden Fähigkeiten des Roboters in ihrem Inneren herum aufgebaut sind. Man baut keine Droiden wie C-3PO aus Star Wars, damit sie das Geschirr auf genau die gleiche Weise spülen, wie wir dies tun würden. Stattdessen umhüllen wir einfache Roboter mit Mikro-Umgebungen, um ihren begrenzten Fähigkeiten gerecht zu werden, diese auszuschöpfen und trotzdem das gewünschte Ergebnis zu erzielen.
Wir umhüllen unsere Welt, damit Roboter funktionieren können
Die Umhüllung war früher entweder ein eigenständiges Phänomen (man kaufte den Roboter mit der erforderlichen Umhüllung, etwa eine Spül- oder Waschmaschine) oder sie wurde innerhalb von Werkshallen der Industrie angewandt, wobei die Umhüllung sorgfältig auf ihre künstlichen Bewohner zugeschnitten wurde.
Heute – und damit kommen wir zum zweiten Punkt, der durch fahrerlose Autos thematisiert wurde – umhüllen wir gesamte Umgebungen zur einer technikfreundlichen Infosphäre. Wenn die Rede von smarten Städten ist, meint man eigentlich, dass gesellschaftliche Lebensräume in Orte verwandelt werden, in denen Roboter erfolgreich tätig werden können.
Die Umhüllung hat begonnen, die Realität in all ihren Facetten zu durchdringen, und tritt täglich überall zutage. Ohne es richtig zu merken, haben wir die Welt seit Jahrzehnten um Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) herum gebaut. In den 1940ern und 1950ern war der Computer ein Raum, den Alice betrat, um damit zu arbeiten. Programmiert wurde mit dem Schraubenzieher. Bei der Mensch-Maschine-Interaktion handelte es sich um eine somatische (körperliche) Beziehung.
In den 1970ern trat Alices Tochter aus dem Computer heraus und stellte sich vor ihn. Die Interaktion zwischen Mensch und Computer wurde zu einer semantischen (bedeutungshaften) Beziehung, die später durch das DOS-Betriebssystem (Disk Operating System) und Textzeilen, eine graphische Benutzeroberfläche (Graphic User Interface – GUI) und Symbole noch verstärkt wurde.
Heute hat Alices Enkeltochter wieder das Innere des Computers betreten, und zwar in Gestalt einer umfassenden Infosphäre, die sie – oft nicht wahrnehmbar – umgibt. Wir entwickeln die ultimative Umhüllung, in der die Interaktion zwischen Mensch und Computer wieder eine somatische wird, mit Touchscreens, Sprachsteuerung, Aufnahmegeräten, gestengesteuerten Anwendungen, Lokalisierungsrastern und so weiter. Wie gewohnt treiben Unterhaltungs- und Militäranwendungen den Fortschritt voran, doch der Rest der Welt hinkt nur geringfügig hinterher.
Wenn fahrerlose Fahrzeuge sich immer müheloser fortbewegen können und die Warenauslieferung bei Amazon in Kürze durch eine Flotte unbemannter Drohnen ausgeführt wird, dann liegt das nicht daran, dass endlich echte Künstliche-Intelligenz-Anwendungen mit Robotern auf den Markt gekommen sind, die denken, verstehen oder fühlen wie Sie und ich, wenn nicht sogar besser. Der Grund ist vielmehr, dass sich die Umgebung, in der sie sich bewegen müssen, für künstliche Intelligenzen (KI) und ihre äußerst begrenzten Möglichkeiten zunehmend besser eignet.
Smarte Technologien sind nicht smart, aber funktionieren trotzdem
Wenn man die Welt umhüllt, indem man eine feindliche Umgebung in eine digitalisierungsfreundliche Infosphäre verwandelt, dann teilt man damit seinen Lebensraum nicht nur mit Naturkräften und Tieren, sondern auch – und teilweise sogar vornehmlich – mit künstlichen Akteuren.
Das soll nicht heißen, dass bereits die Aussicht auf echte künstliche Akteure besteht. Wir verfügen nicht über Technologien mit semantischer Kompetenz – Akteure, die Dinge verstehen oder sich über etwas Sorgen machen oder einer Sache Leidenschaft entgegenbringen. Deshalb sind die falsche Maria aus „Metropolis“ (1927), Hal 9000 aus „Odyssey im Weltraum“ (1968), C-3PO aus „Star Wars“ (1977), Rachael aus „Blade Runner“ (1982), Data aus „Raumschiff Enterprise“: „Das nächste Jahrhundert“ (1987), Agent Smith aus „Matrix“ (1999) oder die körperlose Samantha aus „Her“ (2013) reine Science Fiction, und dabei wird es auch bleiben.
Viel wichtiger ist, dass der fehlgeschlagene Anbruch des KI-Zeitalters keine Rolle spielt. Es gibt so viele Daten, so viele dezentrale, miteinander kommunizierende IKT-Systeme, so viele damit verbundene Menschen, so gute statistische und algorithmische Werkzeuge, dass rein syntaktisch arbeitende Technologien die Herausforderung umgehen, die das sinnhafte Erfassen und das Verstehen darstellt.
Sie können trotzdem das Benötigte bereitstellen: eine Übersetzung, das richtige Bild eines Orts, das bevorzugte Restaurant, das interessante Buch, einen guten Song, der unseren musikalischen Vorlieben entspricht, ein Ticket zu einem besseren Preis, ein besonders günstiges Schnäppchen, den unerwarteten Artikel, von dem wir selbst nicht wussten, dass wir ihn brauchen, die richtige Deutung einer Röntgenaufnahme und so weiter.
Sie sind nicht schlauer als ein alter Kühlschrank und dennoch können unsere smarten Technologien besser Schach spielen, besser einparken und Störungen bei einer Maschine besser voraussagen als wir. Künstliche Speicher (in Form von Daten und Algorithmen) erzielen bei einer wachsenden und grenzenlosen Zahl an Aufgaben bessere Ergebnisse als die menschliche Intelligenz. Uns – vielmehr unserer Fantasie – sind bei der Entwicklung und beim Einsatz unserer smarten Technologien keine Grenzen gesetzt.
Deshalb zeigt sich nun, dass einige unserer heutigen Probleme – insbesondere im Bereich E-Health, auf den Finanzmärkten, in Sicherheitsfragen und bei Konflikten – bereits innerhalb stark umhüllter Umgebungen auftreten.
Weder on- noch offline – sondern onlife
In den 1990ern wurde man noch gefragt, ob man online beziehungsweise „im Netz“ war. Heute ist diese Frage in vielen hochentwickelten Informationsgesellschaften bedeutungslos geworden. Stellen Sie sich vor, Sie werden von jemandem gefragt, ob Sie online sind, und zwar während Sie mit dieser Person über Ihr Smartphone sprechen, das mittels Bluetooth mit dem Soundsystem Ihres Wagens verbunden ist, während Sie am Steuer sitzen und den Anweisungen eines GPS-Geräts folgen, das außerdem in Echtzeit Verkehrsinformationen herunterlädt.
In Wahrheit sind wir weder on- noch offline, sondern onlife: Wir leben zunehmend in diesem besonderen Raum, der sowohl analog als auch digital, sowohl online auch auch offline ist. Deutlicher wird dies vielleicht mit einer Analogie. Stellen Sie sich vor, jemand fragt, ob an der Stelle, an der ein Fluss ins Meer mündet, Süß- oder Salzwasser fließt. Dieser Mensch hat den besonderen Charakter dieses Ortes nicht begriffen. Unsere Informationsgesellschaft befindet sich an diesem Ort. Und unsere Technologien sind im perfekten Entwicklungsstadium, um sich diesen Ort zunutze zu machen, vergleichbar mit Mangroven in brackigem Wasser.
In einer umhüllten Welt, in der Mangroven-Gesellschaft, sind alle relevanten (und teilweise die einzig verfügbaren) Daten maschinenlesbar. Entscheidungen und Maßnahmen können automatisch getroffen beziehungsweise durchgeführt werden, über Sensoren, Aktoren und Anwendungen, die Befehle ausführen und die entsprechenden Prozesse vollziehen – von der Benachrichtigung oder dem Scannen eines Patienten bis hin zum An- und Verkauf von Aktien. Es ließen sich problemlos noch zahlreiche weitere Beispiele finden.
Mechanische Türken
Die Umhüllung der Welt mit dem Ziel, diese in einen IKT-freundlichen Ort zu verwandeln, hat zahlreiche Konsequenzen. Eine davon ist jedoch besonders bedeutsam und folgenreich. Der Mensch könnte unbeabsichtigt Teil des Mechanismus werden. Genau davor hat Kant immer gewarnt: Menschen als Mittel und nicht als Zweck zu behandeln. Doch dies geschieht bereits, und zwar hauptsächlich auf zweierlei Weise.
Erstens wird der Mensch zu einem neuen Mittel digitaler Produktion. Es ist ganz einfach: Manchmal muss unsere IKT Vorgänge verstehen und interpretieren. Dafür benötigen sie semantische Maschinen, wie wir es sind. Dieser noch recht junge Trend ist unter dem Begriff human-based computation (menschengestützte Datenverarbeitung) bekannt.
Ein klassisches Beispiel ist der Dienst Mechanical Turk von Amazon. Der Name stammt von dem berühmten Schachautomaten, der von Wolfgang von Kempelen (1734 – 1804) Ende des 18. Jahrhunderts gebaut wurde. Der Automat erlangte Berühmtheit, weil er unter anderem Napoleon Bonaparte und Benjamin Franklin im Schach schlug und sich auch gegen einen Meister wie François-André Danican Philidor (1726 – 95) gut behauptete. Doch es war ein abgekartetes Spiel, denn in einem Spezialfach im Inneren des Automaten war ein menschlicher Spieler verborgen, der dessen mechanischen Betrieb steuerte.
Der mechanische Türke wendet einen ähnlichen Trick an. Amazon beschreibt ihn als eine „künstliche künstliche Intelligenz“. Es handelt sich um einen Crowdsourcing-Webdienst, der es sogenannten „Anfragenden“ erlaubt, sich die Intelligenz menschlicher Arbeiter zunutze zu machen, die als „Dienstanbieter“ oder salopper als „Türken“ bezeichnet werden. Diese führen sogenannte HIT (Human Intelligence Tasks) aus – Aufgaben, denen Computer bislang noch nicht gewachsen sind.
Ein Anfragender veröffentlicht einen HIT, etwa die Transkription einer Tonaufnahme oder die Markierung negativer Inhalte in einem Film (hierbei handelt es sich um aktuelle Beispiele). Die „Türken“ können die bestehenden HIT durchstöbern und sie für ein von dem Anfragenden festgelegtes Entgelt erfüllen. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Texts konnten Anfragende überprüfen, ob die „Türken“ über bestimmte Qualifikationen verfügen, bevor ihnen ein HIT zugeteilt wird. Sie können das von dem „Türken“ übermittelte Ergebnis annehmen oder ablehnen, was sich auf dessen Reputation auswirkt.
„Human inside“ wird gerade zum Slogan der Zukunft. Das Erfolgsrezept ist simpel: smarte Maschine + menschliche Intelligenz = schlaues System.
Viele Menschen können es sich nicht erlauben, Arbeit abzulehnen. Es besteht die Gefahr, dass sich durch KI in unserer Gesellschaft die Polarisierung zwischen Reichen und denen, die es nie zu Geld bringen werden, noch verstärkt, wenn wir die Auswirkungen nicht kontrollieren. Es ist nicht schwer, sich eine gesellschaftliche Hierarchie der Zukunft vorzustellen, in der einige wenige Patrizier sowohl über den Maschinen als auch über einer riesigen neuen Unterschicht aus Plebejern stehen.
Doch mit den Jobs werden auch die Steuereinnahmen verschwinden, und die von der KI profitierenden Unternehmen dürften nicht freiwillig in die Bresche springen, um sich für angemessene Sozialhilfeprogramme für ihre ehemaligen Angestellten einzusetzen.
Der Kunde als Schnittstelle zum Bankkonto
Der zweite Weg, über den der Mensch in den Mechanismus integriert wird, ist über beeinflussbare Kunden. Für die Werbebranche ist ein Kunde eine Schnittstelle zwischen einem Anbieter und einem Bankkonto (genau genommen sollte man von einem „Kreditrahmen“ sprechen; denn es geht nicht nur um das verfügbare Einkommen: Die Kunden geben mehr aus, als sie haben, beispielsweise mit ihrer Kreditkarte).
Je reibungsloser die Beziehung zwischen den beiden funktioniert, desto besser. Deshalb muss Einfluss auf die Schnittstelle genommen werden. Um diese zu beeinflussen, benötigt die Werbeindustrie so viele Informationen wie möglich über den Kunden beziehungsweise die Schnittstelle. Doch solche Informationen bekommt man nur, wenn man dem Kunden dafür im Gegenzug etwas bieten kann. An dieser Stelle kommen die „kostenlosen“ Online-Dienste ins Spiel.
Mit dieser Währung werden Informationen über Kunden beziehungsweise Schnittstellen „gekauft“. Letztlich geht es darum, gerade so viele „kostenlose Dienste“ – die in Wahrheit teuer sind – anzubieten, dass man alle erforderlichen Informationen über den Kunden beziehungsweise die Schnittstelle erhält, um den Kunden in einem Umfang beeinflussen zu können, der dem Anbieter unbegrenzten und uneingeschränkten Zugriff auf dessen Bankkonto erlaubt.
Wegen der Wettbewerbsvorschriften kann dieses Ziel unmöglich von einem einzelnen Betreiber erreicht werden. Doch dank der gemeinsamen Anstrengungen der Werbebranche und der liefernden Industrie werden die Kunden zunehmend als Mittel zum Zweck angesehen: Bankkonten-Schnittstellen, an denen gezerrt und die angestupst und gelockt werden können.
Passt sich Mensch der Maschine an oder umgekehrt?
Mit jedem Tag sind mehr Online-Nutzer, mehr Dokumente, mehr Werkzeuge, mehr miteinander kommunizierende Geräte, mehr Sensoren, mehr RFID-Tags, mehr Satelliten, mehr Aktoren, mehr Daten zu allen denkbaren Übergängen sämtlicher Systeme, mehr Algorithmen und mehr smarte Gegenstände – mit anderen Worten, mehr Umhüllung – verfügbar.
Um noch einmal meine frühere Analogie zu bemühen: Die Flussmündung verbreitert sich schnell, und mehr und mehr Menschen leben onlife, in brackigen Gewässern, die den natürlichen Lebensraum unserer Digitaltechnologien bilden. Für die Zukunft von KI-Anwendungen im Allgemeinen lässt all dies hoffen. Ihre Nützlichkeit und Wirksamkeit steigt exponentiell mit jedem Schritt, den wir bei der Ausweitung der Infosphäre unternehmen.
Mit einer Katastrophe, wie sie in der Science Fiction beschworen wird, hat das nichts zu tun. Denn wir spekulieren hier nicht über eine Super-KI, die in absehbarer Zeit die Weltherrschaft übernimmt. Diese Schauergeschichten sind im Hinblick auf unser derzeitiges und absehbares Verständnis von KI und EDV absolut unrealistisch. Kein künstlicher Spartacus wird eine große IKT-Revolte anführen.
Science-Fiction-Szenarien sind auch deshalb verantwortungslos, weil sie von den echten Problemen ablenken, die zu bewältigen sind. Denn wir haben festgestellt, dass die Umhüllung der Welt einige schwerwiegende Herausforderungen mit sich bringt. Mit einer kleinen Parodie lassen diese sich vielleicht besser zusammenfassen.
Die Menschen A und H sind verheiratet und entschlossen, eine funktionierende Beziehung zu führen. A tut zunehmend mehr im Haushalt, ist unflexibel, stur, Fehlern gegenüber intolerant und wird sich wahrscheinlich nicht ändern. H ist das Gegenteil, wird aber zunehmend fauler und abhängiger von A. Die Folge ist ein ungleiches Kräfteverhältnis, bei dem A am Ende die Beziehung prägt und faktisch, wenn auch unbeabsichtigt, für eine Verzerrung des Verhaltens von H sorgt. Wenn die Ehe funktioniert, dann weil sie sorgsam auf A zugeschnitten ist.
Heute kommt den smarten Technologien die Rolle von A zu, während die menschlichen Nutzer eindeutig durch H repräsentiert werden. Wir riskieren, dass unsere Technologien durch die Umhüllung der Welt unsere physischen und begrifflichen Umgebungen prägen und uns bei ihrer Anpassung behindern, weil das der beste, leichteste oder manchmal vielleicht sogar der einzige Weg ist, damit die Dinge funktionieren.
Schließlich sind die smarten Maschinen der dumme, aber fleißige Ehepartner und die Menschheit der intelligente, aber faule. Wer wird sich also wem anpassen, wenn eine Scheidung nicht in Frage kommt? Sie werden sich vermutlich an viele Situationen aus Ihrem echten Leben erinnern, in denen etwas überhaupt nicht bewerkstelligt werden konnte, oder nur auf einem umständlichen oder albernen Weg, weil das die einzige Möglichkeit war, das Computersystem dazu zu bringen, das zu tun, was es sollte.
Wie kann man mit solchen Risiken umgehen? Indem man ein stärkeres kritisches Bewusstsein hinsichtlich der Macht unserer Digitaltechnologien, die Umgebung zu formen, entwickelt, wehrt man womöglich die schlimmsten Formen von Verzerrung ab. Zumindest können wir sie so vielleicht bewusster tolerieren, vor allem, wenn sie keine Rolle spielen oder es sich um eine vorübergehende Lösung handelt, während ein besseres Design erarbeitet wird.
Im letzteren Fall könnte es bei der Entwicklung technischer Lösungen, mit denen die anthropologischen Kosten gesenkt und die Umweltvorteile gesteigert werden, hilfreich sein, sich vorzustellen, wie die Zukunft aussehen könnte und welche Anforderungen die Technologie an die Anpassungsfähigkeit der Nutzer stellen wird. Kurz gesagt – intelligentes menschliches Design sollte gemeinsam mit künftigen technischen Gegenständen und der Infosphäre, die wir mit ihnen und miteinander teilen, eine wichtige Rolle bei der Gestaltung unserer künftigen Interaktion spielen. Schließlich ist es ein Zeichen von Intelligenz, Dummheit für sich arbeiten zu lassen.
Wir brauchen ein neues Narrativ
Seit einiger Zeit stößt der Cyberspace durch die Kluft zwischen Mensch und Maschine an seine Grenzen. Doch heute befinden wir uns in der Infosphäre. Wie stark diese alles durchdringt, hängt davon ab, wie weit wir ihre Digitalität als integralen Bestandteil unserer Realität, der für uns transparent ist, akzeptieren, und zwar in dem Sinne, dass sie nicht mehr als präsent wahrgenommen wird.
Entscheidend ist weniger, Bits anstelle von Atomen zu bewegen – dabei handelt es sich um eine überholte, kommunikationsgesteuerte Auffassung der Informationsgesellschaft, die sich zu stark auf die Soziologie der Massenmedien stützt. Weitaus maßgeblicher ist die Tatsache, dass sich unser Verständnis und unsere Konzeptualisierung des Wesens und Gefüges von Realität verändert. Tatsächlich haben wir begonnen, zu akzeptieren, dass das Virtuelle teilweise real und das Reale teilweise virtuell ist.
Die Informationsgesellschaft sollte besser als Fertigungsgesellschaft der neuen Art betrachtet werden, in der Rohstoffe und Energie durch Daten und Informationen abgelöst wurden, das neue digitale Gold und der echte Ursprung der Wertschöpfung. Die Schlüssel, um unsere missliche Lage richtig zu begreifen und eine nachhaltige Infosphäre zu entwickeln, sind deshalb nicht nur Kommunikation und Transaktionen, sondern auch die Erschaffung, Entwicklung und Verwaltung von Informationen.
Für ein solches Verständnis brauchen wir ein neues Narrativ, eine neue Geschichte, die wir uns selbst über unser Dilemma und unser angestrebtes Menschheitsvorhaben erzählen können. Dies mag auf den ersten Blick wie ein Anachronismus wirken, der in die falsche Richtung führt. Bis vor Kurzem wurden große Gesellschaftsentwürfe – vom Marxismus und Liberalismus bis hin zum sogenannten „Ende der Geschichte“ – stark kritisiert.
Doch in Wahrheit war auch diese Kritik nur ein anderes Narrativ, das nicht funktionierte. Eine systematische Kritik großer Narrative ist unweigerlich Teil des Problems, das man damit zu lösen versucht. Zu verstehen, warum es Narrative gibt, was sie rechtfertigt und welche besseren Narrative an ihre Stelle treten könnten, ist weniger kindisch und ein lohnenderer Schritt nach vorn. IKT erschafft die neue Informationsumgebung, in der künftige Generationen einen Großteil ihrer Zeit verbringen werden.
Frühere Revolutionen zur Schaffung von Wohlstand, insbesondere in Landwirtschaft und Industrie, haben zu makroskopischen Veränderungen unserer gesellschaftlichen und politischen Strukturen, aber auch unserer architektonischen Umgebungen geführt, häufig, ohne große Vorausschau und normalerweise mit tiefgreifenden begrifflichen und ethischen Konsequenzen. Die informationelle Revolution – ob sie nun den Zweck hat, Wohlstand zu schaffen oder ein neues Konzept unserer Selbst zu entwickeln – ist nicht weniger dramatisch.
Wir handeln uns ernsthafte Probleme ein, wenn wir die Tatsache, dass wir neue Umgebungen aufbauen, die von künftigen Generationen bewohnt werden, nicht ernst nehmen. Angesichts dieser wichtigen Wesensveränderung der von IKT-vermittelten Interaktionen, die wir zunehmend mit anderen biologischen oder künstlichen Akteuren eingehen werden, und unseres Selbstverständnisses, erscheint eine ethisch verantwortungsvolle Herangehensweise sinnvoll, um die neuen, durch IKT verursachten Herausforderungen zu meistern.
Dabei darf das Natürliche oder Unberührte nicht bevorzugt werden. Vielmehr sollten alle Existenz- und Verhaltensformen als authentisch und echt betrachtet werden – selbst solche, die auf künstlichen, synthetischen, hybriden und technisierten Artefakten beruhen. Es gilt, ein ethisches Bezugssystem zu entwerfen, das die Infosphäre als eine neue Umgebung behandeln kann, welche die moralische Aufmerksamkeit und Zuwendung der menschlichen Informationsorganismen (inforgs), die sie bewohnen, verdient.
Dieser Vorschlag sollte nicht als Empfehlung verstanden werden, künstliche Akteure wie Menschen zu behandeln, die moralisch begründeten Respekt verdienen, weil ihnen eine Art von Würde innewohnt. Forderungen nach Rechten für Roboter muss man mit Humor und einem Lächeln begegnen. Genauso gut könnte man über die Rechte von Spülmaschinen sprechen. Wir müssen die Falle des Anthropozentrismus und Anthropomorphismus vermeiden.
Der Vorschlag zielt vielmehr darauf ab, dass wir KI und smarten Technologien den gleichen Respekt entgegenbringen wie Bäumen oder uralten Artefakten: Sie sind Manifestationen einer umfassenden Realität, die grundsätzlich als Wert an sich angesehen werden sollte und deshalb nicht missbraucht, beschädigt, zerstört oder mutwillig herabgesetzt werden darf.
Eine Ethik der elektronischen Umwelt
Den ergiebigsten Weg, um unseren Hang zu verstehen, KI und unsere anderen Digitaltechnologien weiterentwickeln und schützen zu wollen, bietet bezogen auf die gesamte Infosphäre eine Ethik der elektronischen Umwelt. Dabei müssen wir uns als moralische Akteure am Rand des ethischen Diskurses positionieren und die Adressaten unseres ethisch verantwortungsvollen Handelns in den Mittelpunkt zu stellen.
Die Idee ist nicht völlig neu. In der Umweltethik kombiniert die nachhaltige Entwicklung Entwicklungsziele des Menschen mit der Unterstützung natürlicher Systeme, sodass diese weiterhin wachsen können und die natürlichen Ressourcen und die Ökosystem-Dienste bereitstellen, auf die Wirtschaft und Gesellschaft angewiesen sind. Das Konzept ist in einer Vielzahl von Kulturen und Praktiken verwurzelt, doch der Brundtland Report aus dem Jahr 1987 hat ihm eine theoretische Grundlage geliefert und es zu einem Bezugsrahmen erhoben.
Die Infosphäre ist auf dem gleichen Stand, auf dem sich die Biosphäre vor dem Brundtland Report befand. Noch haben wir kein ethisches Bezugssystem, das die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung sowie den ökologischen Schutz der Infosphäre und ihrer künstlichen Bewohner für aktuelle und künftige Generationen miteinander in Einklang bringen kann. Wir brauchen es jedoch dringend. Wir müssen eine Informationsethik auf Grundlage gesellschaftlicher Präferenz (Stichwort wünschenswerte Entwicklung) entwerfen, insbesondere für KI.
Dabei kommt uns eine verwaltende Rolle zu. Die gesamte – analoge und digitale – Realität muss im Mittelpunkt unserer betreuenden und leitenden Handlungen stehen. Natürlich müssen wir die neuen organisationsstiftenden ethischen Grundsätze, Gleichgewichte und Dynamiken abstecken, die es möglich machen, dass ausgereifte Informationsgesellschaften in der Zukunft einen erstrebenswerten Zustand erreichen, in dem eine onlife-Existenz den Bedürfnissen des Menschen gerecht wird und der gleichzeitig die natürliche Umgebung oder die Würde und die Rechte des Menschen bei ihrer Entfaltung unterstützt – all dies auf eine Weise, die mit den künstlichen Bewohnern, mit denen wir die Infosphäre zunehmend teilen werden, in Einklang steht und diese respektiert.
Beispielsweise werden wir uns darüber klarwerden müssen, wie die in der Umweltethik verankerten Pflichten, insbesondere das Recycling und die Verbrauchsminimierung von Ressourcen in der Biosphäre, ihr Echo in der Digitalethik finden können, insbesondere hinsichtlich der Wiederverwertung und Umfunktionierung in der Infosphäre. Die moralische Frage einer solchen elektronischen Umweltethik wird nicht lauten „Warum sollte es mich grundsächlich kümmern?“, sondern „Worum sollte man sich grundsätzlich kümmern?“
Die Antwort wird die KI miteinschließen, weil jede Einheit im informationellen Sinne als Mittelpunkt einer grundlegenden ethischen Forderung gesehen werden kann. Das verdient Anerkennung und sollte zur Regulierung der beteiligten Informationsprozesse beitragen. Folglich sollte sich die Billigung oder Ablehnung menschlicher Entscheidungen und Handlungen auch daran orientieren, wie sich diese auf das Wohlergehen der gesamten Infosphäre auswirken, also dahingehend, in welchem Umfang sie die ethischen Forderungen respektieren, die den beteiligten Informationseinheiten zuzurechnen sind, und dadurch die Infosphäre bereichern oder ärmer machen.
Die Pflicht moralischer Akteure sollte im Hinblick auf ihren Beitrag zu einem nachhaltigen Gedeihen der Infosphäre und ihrer smarten Technologien beurteilt werden. Jeder Prozess, jede Handlung und jedes Ereignis, das sich negativ auf die gesamte Infosphäre – und nicht nur auf ein einzelnes Informationsobjekt – auswirkt, sollte als ein gesteigertes Niveau an Schaden oder Zerstörung und damit als Manifestation des Bösen betrachtet werden. „Allen Einheiten sollte nach Möglichkeit Respekt und Zuwendung entgegengebracht werden“, lautet die Forderung.
Wir müssen gegenüber der Infosphäre eine Ethik der Verantwortung an den Tag legen. Ist das wirklich zu viel verlangt oder unklug? Rufen wir uns in Erinnerung, dass unsere Ethik nicht nur den Maßgaben von Nutzern und Verbrauchern, sondern auch jenen von Schöpfern, Kuratoren und einer umgebenden „Natur“ gerecht werden muss. Diese neue Situation bringt eine Verantwortung mit sich, die womöglich eine besondere Anstrengung auf theoretischer Ebene erfordert.
Die Wahrnehmung unserer Selbst muss sich ändern
Für den gerade umrissenen (sowohl im Sinne einer Ganzheitlichkeit beziehungsweise Inklusivität als auch im Sinne von Künstlichkeit) synthetischen Schutz der digitalen Umwelt wird sich unsere Wahrnehmung unserer Selbst und unserer Rolle im Hinblick auf die Realität ändern müssen – auf das, was wir als respektierens- und umsorgenswert ansehen, und darauf, wie sich ein neues Bündnis zwischen der natürlichen und der künstlichen Welt aushandeln lässt.
Wir werden ernsthaft über unser Menschheitsvorhaben nachdenken und unsere derzeitigen Narrative einer kritischen Prüfung unterziehen müssen, und zwar auf individueller, gesellschaftlicher und politischer Ebene. All diese drängenden Fragen verdienen unsere volle und ungeteilte Aufmerksamkeit.
Leider befürchte ich, dass das einige Zeit in Anspruch nehmen wird und eine völlig neue Art der Ausbildung und Sensibilität erforderlich ist, um zu begreifen, dass die Infosphäre ein gemeinsamer Raum ist, der im Interesse aller bewahrt werden muss. Ich habe die Hoffnung, dass unsere Informationsphilosophie und -ethik zu einem solchen Perspektivwechsel beitragen wird.
Aus dem Englischen von Olenka Deisler.
Dieser Text ist erschienen im Buch „3TH1CS – Die Ethik der digitalen Zeit“ herausgegeben von Philipp Otto und Eike Gräf im Verlag iRights.Media. Es handelt davon, wie die digitale Transformation unsere Moralvorstellungen auf die Probe stellt – in Politik, Wirtschaft, sozialem Zusammenleben, Kommunikation, Unterhaltung. Mehr zum Buch finden Sie bei iRights.Media.
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