Zurück an den Verhandlungstisch: Worauf die Musikindustrie setzen könnte
Konflikte entstehen gemeinhin immer auf dieselbe Art und Weise: Eine Seite will etwas, das verlorengegangen ist oder droht verlorenzugehen, nicht aufgeben, die andere Seite etwas lieb Gewonnenes nicht hergeben. Ist der Verlust des einen der Zugewinn des anderen, ist die Auseinandersetzung vorprogrammiert. Selten können solche Probleme friedlich gelöst werden. In der Wirtschaft verhält sich das nicht anders als in der Außenpolitik. Die Gemengelage im konkreten Fall der Musikwirtschaft ist sogar besonders komplex: Neben den Verlierern und Gewinnern gibt es hier mit den Künstlern eine dritte Partei, die unentschlossen zwischen Produzenten und Verbrauchern steht.
Der angesägte Thron
Die Verlierer, das sind bislang ohne Zweifel die Firmen der Musikindustrie. Die Basis ihres Selbstverständnisses bilden hierzulande die Umsatzzahlen aus dem Jahr 1998. Damals, auf dem Höhepunkt des Geschäfts durch Verkauf von Tonträgern, war der Umsatz fast doppelt so hoch wie heute (vgl. Jahresberichte 1998 und 2009 des Bundesverbands Musikindustrie). Das bescherte den einzelnen Musiklabels traumhafte Renditen von bis zu 20 Prozent. Neue Geschäfte wie der Verkauf von Downloads konnten nur einen Bruchteil der alten Pracht kompensieren. Bis heute machen sie, bereinigt um Klingeltöne, gerade mal 5 Prozent des Umsatzes der Musikindustrie aus (BVMI-Jahresbericht 2009). Der Rest ist für ihr Empfinden ein Verlust, der durch Missbrauch via Internet und CD-Brenner verursacht wird. Da diese Form der Nutzung ohne Kompensation ein Unrecht darstellt, wird ihr Anspruch immer die Wiederherstellung des Status quo von 1998 sein.
Der neue Chefsessel
Gewinner sind diejenigen Konsumenten, die die neuen technologischen Möglichkeiten für sich zu nutzen wissen. Sie haben sich aus ihrem Selbstverständnis heraus eines Diktats der Produzenten entledigt, welches ihnen in der Vergangenheit ein Bundle wider Willen – das aus ihrer Sicht auch noch zu hohen Preisen – beschert hat. Auch wenn sie nur drei oder vier Songs eines Albums mochten, mussten sie die ganze Langspielplatte kaufen. Die CD kostete sie zudem den doppelten Preis als dereinst die gute, alte Vinyl-Scheibe. Die Möglichkeit einer digitalen Duplikation ohne Verluste (CD-Brenner) und einer digitalen Distribution via Tauschbörsen, wie sie vor über zehn Jahren zum ersten Mal Napster möglich gemacht hat, sind für diese Konsumenten ein konkreter Freiheitsgewinn. Wieso sollten sie den aufgeben und weshalb Unrecht gegenüber denjenigen empfinden, die sie früher in ihrem Streben nach Kunstgenuss vermeintlich ausgenutzt und eingeengt haben?
Zwischen den Stühlen
Zwischen den Stühlen sitzen wiederum die Musiker. Die Digitalisierung hat auch ihnen einen enormen Zuwachs an Freiheiten und Möglichkeiten gebracht. Als Newcomer mit Amateurstatus profitieren sie davon, dass sie dank günstigen, digitalen Aufnahmetechniken und Kommunikations- als auch Distributionsmöglichkeiten über das Internet die ersten Schritte völlig ohne Plattenfirmen bewältigen können. Ähnlich ergeht es den bereits sehr erfolgreichen Künstlern. Im Internet halten sie direkten Kontakt zu Fans und Käufern, die alten Plattenlabels sind für sie nur noch als Vertriebsdienstleister interessant. Das haben viele Bands und Musiker von Fettes Brot bis Xavier Naidoo und Westernhagen verstanden. Schwierig wird es jedoch für alle Musiker, die das breite Mittelfeld darstellen. In Zeiten stark rückläufiger Musikverkäufe findet sich bald keiner mehr, der in die Professionalisierung ihrer Karriere langfristig investieren wird. Wollen sie von ihrer Musik leben, sind sie primär auf Live-Einnahmen angewiesen. Der Live-Markt wächst seit zwei Jahren aber auch nicht mehr und sein Wachstum bezog er in der Vergangenheit nicht durch höhere Besucherzahlen, sondern durch Preissteigerungen, welche die Stars der Szene für sich durchsetzten.
Karten auf den Tisch
Gewinner und Verlierer des Umbruchs in der Musikindustrie sind sich nur in einem einig: Sie verlangen Unmögliches und reden aneinander vorbei.
Die Musikindustrie kann sich einem neuen Geschäftsmodell nur verwehren, wenn es ihr gelingen sollte, die totale Kontrolle über ihre Rechte im Netz zu behalten. Totale Kontrolle und Internet gehen aber mit den existenten Bürgerrechten, welche die Grundlage der Gesellschaft bilden, nicht zusammen.
Der Konsument kann nicht erwarten, dass sich eine spannende Musikkultur auf Dauer entwickelt, wenn keiner bereit ist, in diese langfristig zu investieren. Weshalb sollte aber jemand investieren, wenn sich Erlöse mit ihr direkt nicht mehr erzielen lassen? Die Frage bleibt zumindest so lange unbeantwortet, wie die Regeln der Marktwirtschaft Bestand haben.
Die Musiker wiederum werden nur dann in der Lage sein, alle ihre Rechte für sich zu behalten, wenn ihre Kapitalisierung sichergestellt ist. Für die Großen ist das kein Problem, für die, die noch groß werden wollen, jedoch nahezu unmöglich. Das, was sie als Musik produzieren, ist ein immaterielles Wirtschaftsgut und darauf bekommt man, solange die Grundregeln der Finanzwirtschaft (Basel II) nicht geändert werden, nicht einmal Kredite.
Alle kommen nicht weiter, wenn sie auf ihren jeweiligen Positionen beharren. Solange sie nicht aufeinander zugehen, sondern aufgeregt aneinander vorbeireden, bauen sie an einer Zukunft ohne Substanz. Keine Seite hat die Chance, sich wirklich durchzusetzen, die Ansätze greifen nicht ineinander.
Was uns der Kampf um das Radio lehrt
Die Situation ist nicht neu. Bei der letzten großen Innovation für Musikdistribution und Kommunikation vor mehr als 75 Jahren ging die Musikwirtschaft auch zuerst in die Knie, und der Konsument sah nicht ein, ihr und den Künstlern zuliebe vom Radio zu lassen. Die Verbreitung kostenloser Musik via Äther war das Problem. Der Hörer liebte es, die Radios boomten, neue Medienkonzerne wie CBS und RCA entstanden, und die jungen Musikwirtschaft hauchte fasst ihr Leben aus. Zusätzlich befeuert durch eine Weltwirtschaftskrise, fielen Anfang der dreißiger Jahre die Umsätze auf knapp 6 Prozent dessen, was man in den guten, alten Zeiten vor dem Siegeszug des neuen Mediums erwirtschaftet hatte. Verglichen damit nehmen sich die Digitalisierungseffekte heutzutage fast harmlos aus.
Das erste Mal überwand die Musikwirtschaft ihr Leiden im Laufe von 20 Jahren durch drei konkrete Maßnahmen:
- Der Preis für das in die Jahre gekommene Format Schellack wurde von 75 auf 35 Cent pro Platte gesenkt.
- Mit HiFi wurde eine technische Innovation forciert.
- Mit dem Senderecht und einem Einigungszwang für Vergütung zwischen Radioveranstaltern und Urheber- und Leistungsschutzrechteinhabern wurde vom Gesetzgeber Planungssicherheit und ein wirtschaftlicher Ausgleich geschaffen. In der Folge wurde die kranke Musikwirtschaft weltweit zu einem Erfolgszweig mit traumhaften Zuwachsraten.
Offensichtlich waren es drei Faktoren, die der Musikwirtschaft den Wandel zum Guten brachten: Preis, Darreichungsform und Rechtssicherheit. Überträgt man diese Faktoren auf die aktuelle Situation, kommt man ziemlich schnell zu dem Modell Flatrate. Diese bietet einen anderen, potenziell geringeren Preis pro Titel, eine neue Nutzungform und, so es gesetzliche Regelungen mit den Internet Service Providern (also den Anbietern von Internetanschlüssen) gibt, auch eine neue Form der Rechtssicherheit.
Das Problem besteht darin, dass die Konfliktparteien von ihren Maximalpositionen abrücken müssen, um auf Dauer das Problem zu lösen. Genauso wenig begeistert, wie sie bislang von Flatrate-Modellen sind, waren die Majors dereinst von Senderecht und Kontrahierungszwang im Rundfunk. Als die europäischen Regierungen eine nach der anderen verfügten, dass jede Radiostation jeden Titel spielen dürfe, sobald dieser zum ersten Mal veröffentlicht worden sei, sprachen die großen Labels von Enteignung. Im Ausgleich für das sogenannte Senderecht wurde jedoch festgelegt, dass die Rechteinhaber einen Anteil von Werbung oder Gebühren zu erhalten hätten. Auf dessen Höhe und Bemessungsgrundlage sollte man sich mit den Radiosendern einigen. Ohne Einigung, so die Drohung und das Konzept, würde der Staat über einen Schlichter eine Vergütung erzwingen.
Die großen Plattenfirmen wehrten sich vehement gegen diese Idee, weil das Senderecht ihre Macht zu schmälern drohte. Absprachen, dass ein Sender den Song eines Stars als Erster bekommt, wenn er dann auch einen anderen, weniger beliebten spielt, waren nicht mehr möglich. Genauso hatten sich Gebühren, die man für eine Erstaufführung von neuen Hits erheben konnte, für die marktbeherrschenden Firmen mit der Sozialisierung einer gemeinsamen Abgabe an die Verwertungsgesellschaften GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungsund mechanische Vervielfältigungsrechte) und GVL (Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten) erledigt.
Auf Seiten der Radioanstalten mochte man sich auch ungern vom Geschäftsmodell verabschieden, Sendeinhalte in der Regel umsonst verbreiten zu können. Mehr Werbung würde die Hörer vergraulen, eine Gebühr vom Bürger nicht akzeptiert werden, fürchtete man. Allerdings war man seitens der Sender gesprächsbereit, denn man sah den Vorteil der Planungssicherheit. Die per Gesetz forcierte Einigung war am Ende zum Nutzen aller. Die Schiedsstelle musste bis heute so gut wie nie einberufen werden.
Angststarre der Verwerter zum Leiden der Künstler
Auch diesmal sind es nicht die Kanäle und Nutzer, in diesem Fall also die Telekommunikationsgesellschaften und Filesharer, die Flatrates absolut ausschließen. Starker Widerstand regt sich nur dort, wo diese als Kulturflatrate pauschaliert und zum Zwang werden. In der sanfteren Form einer Verpflichtung, ein Angebot aufzubauen und vorzuhalten, was immer parallel zum Internetanschluss auf den Tisch kommt, lässt es sich leben. Einige Telekommunikationsunternehmen haben auch verstanden, dass sie nicht endlos davon werden profitieren können, dass über ihre Leitungen und Anschlüsse die Rechte Dritter verletzt werden. Die Deutsche Telekom und Vodafone verhandeln längst mit der Musikindustrie über Wege, wie sie ihre eigenen Internetanschlüsse mit gut aufbereiteten Musikangeboten aufwerten könnten. Die Majors zeigen sich jedoch sperrig: Ihre Sorge ist, dass eine echte Flatrate, die ihren kompletten Katalog abbildet und als Download verfügbar macht (auch wenn das jeweilige Flatrate-Abo abgelaufen ist), zur endgültigen Erosion ihres Geschäfts führen könnte. Sie fürchten das endgültige Ende ihres alten Geschäftsmodells und erzeugen dadurch ein Marktversagen.
Da kein Angebot entsteht, das mindestens so attraktiv und aktuell ist wie das, welches der Konsument als (kostenlose) Flatrate illegal über Torrent-Tracker beziehen kann, kann kein neuer ernstzunehmender Markt für Musik im Internet entstehen. Die abermalige Weigerung, auf Fakten, die im Netz geschaffen werden, mit einem legalen Angebot zu reagieren (auch iTunes startete erst fünf Jahre nach Napster!), ist eine fatale Geschäftsentscheidung der großen Plattenfirmen. Da Dritte, nämlich die Künstler, deren Leistung somit nicht vergütet und deren zukünftige Karriere behindert werden, darunter zu leiden haben, ist ein staatlicher Eingriff gefragt.
Eine Musikflatrate lohnt sich
Die Situation ist genau die gleiche wie vor Einführung des Senderechts: Wer keine Tonträger kaufen mag, bekommt im Internet alles geboten, um diese zu ersetzen. Genauso wie damals das Abspielen mancher Stücke im Radio ist heutzutage der Konsum via Internet häufig illegal, jedoch ohne tiefen Einschnitt in die Freiheit der Kommunikation nicht zu verhindern. Kauft der Musikfan dennoch eine CD, dann hat er einen Grund dafür, der durch die Einführung einer Flatrate nicht wegfallen würde. Flatrates würden legalen Download-Portalen wie iTunes und Musicload (alle zusammen erzielten 2008 knapp 80 Millionen Umsatz) das Leben schwer machen, nicht mehr, nicht weniger.
Laut einer von der Industrie beim Marktforschungsunternehmen GfK in Auftrag gegebenen Studie gibt es in Deutschland 14,3 Millionen Musikkäufer. Das sind 17,4 Prozent der Bevölkerung, und diese geben im Schnitt mehr als 9 Euro pro Monat für CDs und Downloads aus. Würde man den 31,8 Millionen Kunden der Internet Service Provider eine Musikflatrate anbieten, die in bester Datenqualität für 9,99 Euro im Monat legal alle verfügbare Musik zum Download vorhält, entstünde ein Umsatz, der jährlich über 663 Millionen betragen würde. Das ist bereits mehr als die Hälfte dessen, was die Industrie 2008 mit CDs erzielen konnte. Dieser Umsatz hätte für die Labels eine viel höhere Marge (die Tonträgerfertigung, Vertrieb und Retouren entfallen und somit steigen die Gewinne) und wäre zu Teilen nicht substituierend, sondern additiv.
Es ist wie immer bei Konflikten: Ein Dritter wird alle Seiten bewegen müssen, ihre Maximalforderungen aufzugeben und vom jeweiligen Status quo abzurücken. Dann können alle profitieren. Dieser Dritte wird der Staat sein müssen.
Prof. Tim Renner war CEO und Chairman von Universal Music, bis er 2004 aus dem Konzern ausschied. Er schrieb das Buch „Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm! Über die Zukunft der Musik- und Medienindustrie”. Ab 2005 baute er mit Motor Entertainment eine eigene Firmengruppe auf, zu der mittlerweile neben Beteiligungen an Radiosendern und dem zweitgrößten, deutschen Internetportal für Rockmusik (www.motor.de) auch ein Dienstleistungsunternehmen für Musiker gehört. Im Jahr 2009 wurde Tim Renner zum Professor an der Pop-Akademie Baden-Württemberg ernannt; er nimmt die Professur neben seiner Geschäftsführungstätigkeit bei Motor Entertainment wahr.
Dieser Beitrag gehört zur Reihe „Copy.Right.Now! – Plädoyers für ein zukunftstaugliches Urheberrecht”, die auch als gedruckter Reader erschienen ist. Er steht unter der Creative-Commons-Lizenz BY-NC-ND.
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